Bildung: Von Humboldt zur unternehmerischen Uni - Hochschulkonzepte im Widerstreit
Böckler Impuls 09/2010
Deutschlands Hochschulen verändern sich unter dem Einfluss des Bologna-Prozesses, der Exzellenzinitiative und neuer Managementmethoden. Eine Analyse hochschulpolitischer Leitbilder macht deutlich: Wichtige Aufgaben von Universitäten und Fachhochschulen könnten darunter leiden.
Die deutschen Hochschulen befinden sich Umbruch. Der Unterschied zwischen Universitäten und Fachhochschulen wird kleiner, die Differenzen von Uni zu Uni dagegen größer. Der von den Bildungsministern der EU-Staaten gestartete Bologna-Prozess verlangt von den Universitäten, mit mehr Bezug zur Berufswelt auszubilden - während die Fachhochschulen in die Forschung drängen. Und dank der Exzellenzinitiative dürfen manche Hochschulen künftig mit einem üppigen Forschungsbudget rechnen; andere müssen fürchten, zu reinen Lehranstalten abgestuft zu werden.
In dieser Umbruchphase konkurrieren unterschiedliche Interessen und Vorstellungen um Einfluss. Welche Konzepte hinter der Hochschulpolitik stehen, haben Peer Pasternack und Carsten von Wissel vom Institut für Hochschulforschung der Uni Halle-Wittenberg (HoF) untersucht. Ihre von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie analysiert zum einen die heute in Politik und Öffentlichkeit dominanten, von Europäisierung und ökonomischem Denken bestimmten Leitbilder. Die Expertise bietet zum anderen auch eine Übersicht über insgesamt elf Programme, die seit 1945 die Universitäten und Fachhochschulen geprägt haben. Der Blick auf die wichtigsten davon, auf das Konzept einer demokratischen und sozial offenen Hochschule sowie auf die Humboldtschen Prinzipien, macht klar: Universitäten und Fachhochschulen können und sollten mehr als eine effiziente berufliche Vorbildung für viele und eine Elite-Ausbildung für wenige zu liefern.
Die Humboldtsche Hochschule. Wilhelm von Humboldts Gedanken aus dem Jahr 1812 wurden erst von der Nachwelt zum Ideal erhoben. Dennoch gehen entscheidende Prinzipien der akademischen Bildung auf ihn zurück. Sein Konzept der staatsfernen Universität begründete den im Grundgesetz verankerten Satz der "Freiheit von Forschung und Lehre". Die Verknüpfung von Lehre und Forschung basiert auf seiner Maxime, dass sich die Lehre nicht aus kanonisiertem Wissen speisen soll, sondern aus der aktuellen Forschung. Und Humboldts Ideen prägen bis heute die Vorstellungen von wissenschaftlicher Kompetenz, schreiben Pasternack und von Wissel. Höhere Bildung solle weiterhin Studierende dazu befähigen, Dinge mit Skepsis und Distanz zu betrachten, in einen Kontext einzuordnen und sie methodisch zu kritisieren. Diese Ziele seien auch an der Massenuni nicht obsolet, urteilen die Forscher: "Nicht die Humboldtschen Universitätsideen sind zu verabschieden, sondern deren elitistische Begrenzung auf wenige." Die Humboldtsche Hochschule ist darum zur Chiffre für die nichtökonomisierte Ausbildung geworden.
Die Ordinarienuniversität. Nicht das Humboldtsche Ideal, sondern wenige Professoren bestimmten bis in die 1960er-Jahre die Hochschulwelt. Die Universitäten hatten meist nur einen ordentlichen Professor pro Fach, den Ordinarius. Der konnte mit einer "ganz außergewöhnlichen" Machtfülle über sämtliche Angelegenheiten seines Lehrstuhls entscheiden. Es gab keine Mitbestimmungsrechte für außerordentliche Professoren, Privatdozenten, Assistenten oder Studierende. Erst die Bildungsexpansion und Demokratisierung der Unis öffnete dieses System. Obwohl sich das Modell überlebt hat, empfehlen die Forscher aus Halle-Wittenberg daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen: "Die professorale Oligarchie, welche sich im Zuge der Ordinarienuniversität herausgebildet hatte, liefert ein anschauliches Bild davon, wie kontraproduktiv sich Oligarchien in Hochschulen auswirken können." Dieses Wissen könne den Blick für die Risiken einer Machtkonzentration in Universitäten und Fachhochschulen schärfen. Denn einen solchen Trend beobachten die Wissenschaftler gegenwärtig: Entscheidungsbefugnisse werden im Moment wieder von mitbestimmten Gremien auf Rektoren und Dekane verlagert.
Die demokratische Hochschule. Der Wunsch nach mehr Partizipation bewegte in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren weite Teile der Gesellschaft, auch die Hochschulen wurden nun als demokratischer Ort verstanden. Etliche Bundesländer schafften die Ordinarienuniversitäten ab: Sie räumten per Gesetz den Studierenden und dem akademischen Mittelbau Mitspracherechte in den Hochschulgremien ein. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Gesetze 1973, schrieb aber die Dominanz der Professoren in den Gremien fest. Doch sogar die beschnittene Beteiligung wurde von Professoren als träge und überkomplex kritisiert. Bis jetzt haben demokratische Elemente einen schweren Stand an den Hochschulen: "Heutige Managementmethoden höhlen die (wenn auch ständisch gebrochene) demokratische Struktur weiter aus, indem die Rolle von Hochschulleitungen gestärkt und die der Hochschulgremien zurückgedrängt wird."
Die sozial geöffnete Hochschule. Mit der Demokratisierung ging das Anliegen einher, mehr Menschen den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen. Die bekannteste Formel dafür stammt von Ralf Dahrendorf: "Bildung ist Bürgerrecht". Etliche Neuheiten der späten 1960er und frühen 1970er gehen auf dieses hochschulpolitische Konzept zurück - das BAföG, die Fachhochschulen, zahlreiche Universitätsgründungen. Die Zahl der Studierenden hat sich seit 1960 mehr als vervierfacht. Trotz dieses Erfolges nennt die Studie auch fortdauernde Defizite: "Die Ansprüche inklusiv orientierter Konzepte der Hochschulbildung sind nach wie vor weitgehend unabgegolten." Die Chancen auf ein Studium sind weiterhin ungleich verteilt, von 100 Akademikerkindern studieren 71, von den Kinder nicht-studierter Eltern nur 24. Und die Ungleichheit im Bildungszugang dürfte wieder zunehmen, wenn es zur Spaltung zwischen Massen- und vermeintlichen Elitenhochschulen kommt. Außerdem entstehen immer wieder neue Barrieren für Studienwillige: Zahlreiche Universitäten erschweren derzeit den Studierenden den Übergang vom Bachelor- zum Masterstudium.
Die Hochschule im Wettbewerb. Der Wettbewerb um die beste Erklärung für ein Problem und damit um fachliches Renommee kennzeichne die akademische Welt seit jeher, schreiben die Studienautoren. Geht es nach dem sehr einflussreichen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), dann soll auch ökonomischer Wettbewerb die Hochschulen antreiben. Wegen der uneffizienten Hochschulorganisation der vergangenen Jahre sei das nötig, sagen die Befürworter. Damit die Universitäten und FHs sich im Wettbewerb behaupten, sollen professionelle Hochschulleitungen "die Unbeweglichkeit der Selbstverwaltung" aufbrechen. Methoden aus der Unternehmenswelt ziehen an den Hochschulen ein: Controlling, Budgetierung, betriebswirtschaftliches Qualitätsmanagement, Marketing. Das definiere die Autonomie der Forschung neu, stellen die Forscher fest. Es gehe nicht mehr um die inhaltliche Autonomie des Wissenschaftlers, sondern um die unternehmerische Autonomie der Hochschule. Zudem leide das Konzept an einem grundsätzlichen Problem: Für Forschung und Lehre gibt es keinen richtigen Markt. Der Input einer Hochschule besteht aus staatlicher Alimentation, ihr Output aus Erkenntnissen, also Kollektivgütern. Darum müssen Konkurrenzsituationen erst künstlich mit Rankings und Ratings oder einer Exzellenzinitiative simuliert werden. Und in diesen Konkurrenzen werde Wissenschaft meist an nicht-wissenschaftlichen Kriterien gemessen.
Die Bologna-Hochschule. Die Minister hatten 1999 vereinbart, bis 2010 einen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Dann sollen die Universitäten aller Mitgliedsstaaten zweistufige Studiengänge haben, wechselseitig ihre Abschlüsse anerkennen und Leistungen mit einem einheitlichen Punktesystem bewerten. Die Umsetzung war sehr aufwändig: Neue Bachelor- und Masterstudiengänge wurden konzipiert und nach umstrittenen Verfahren akkreditiert. Der Bologna-Prozess verändert die Studieninhalte, Universitäten sollen stärker mit Blick auf Beschäftigungsfähigkeit ausbilden. "Zahlreiche Umsetzungshavarien, die dringend reparaturbedürftig sind", habe es gegeben, schreiben die Studienautoren. Sie weisen aber auch darauf hin, dass vieles von dem, was Bologna zur Last gelegt wird, deutsche Parlamente, Ministerien und Hochschulen beschlossen haben.
Der Bologna-Prozess sei bislang doppeldeutig, sagen die Forscher. Der Vertrag könne als Aufforderung verstanden werden, mehr Menschen eine Hochschulbildung zu ermöglichen. Ebenso biete er aber einen Vorwand, den Zugang zum Masterstudium zu verknappen. "Unterm Strich wird es für ein Gelingen des Bologna-Prozesses in Deutschland darauf ankommen, ein mittlerweile 40 Jahre altes Versäumnis zu beseitigen", schließen die Wissenschaftler. Nicht nur wenige Ausgewählte sollten die Chance auf ein Studium nach Humboldtschen Ideen haben, sondern möglichst viele Studienberechtigte.
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