Ideologie kontra Fakten
Von Ralf Wurzbacher, junge Welt
In Deutschland herrscht kein Mangel an Fachkräften, sagt ein Forscher des DIW. Dessen Boß und die Wirtschaftslobby behaupten allerdings das Gegenteil In Deutschland geht die Angst um: Nicht nur die vor dem »internationalen Terrorismus«, sondern auch vor dem »Fachkräftemangel«. Kein Tag vergeht, an dem es nicht aus den Chefetagen des Kapitals seufzt, der Industrie gingen alsbald die Ingenieure aus. Und kaum ein Politiker läßt es sich nehmen, in das Wehklagen einzustimmen. Aber Rettung ist in Sicht: Eigens mit dem Thema befaßte sich am Donnerstag abend (nach jW-Redaktionsschluß) der Koalitionsausschuß von Union und FDP, und jenseits aller Differenzen in Detailfragen ist der Lösungsweg bereits vorgezeichnet: Es braucht massenhaft Spezialisten aus dem Ausland und zu diesem Zweck erleichterte Zuwanderungsregeln für ökonomisch nützliche Arbeitsmigranten.
Bleibt die Frage, wieviel das Lamento vom Fachkräftemangel mit der Realität zu tun hat, zumal gerade erst aus berufenem Munde ein krachendes Dementi kam. »Es gibt immer irgendwelche Klagen. Vor einigen Jahren hat man darüber geklagt, daß Deutschland international nicht wettbewerbsfähig sei. Das hat sich als Fata Morgana erwiesen. Jetzt wird darüber geklagt, daß Deutschland die Fachkräfte fehlen. Daran ist heute genausowenig dran.« Die Aussage stammt von Karl Brenke, wissenschaftlicher Referent im Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Zur Untermauerung seiner These hat Brenke auf 14 Seiten im aktuellen DIW-Wochenbericht eine Reihe stichhaltiger Indikatoren aufgeschlüsselt, die in sein Fazit münden: »Für ein derzeit generell knappes Arbeitskräfteangebot – abgesehen vielleicht von den Ärzten und einigen wenigen Fertigungsberufen – lassen sich keine Belege finden.«
Der »Fachkräftemangel« – ein Hirngespinst? Die Botschaft ist so kühn, daß sie auch DIW-intern für ein Beben sorgte. Eigentlich sollte der Report schon am Dienstag vorgelegt werden. Nachdem Spiegel online vorab darüber berichtet hatte, wurde die Veröffentlichung kurzerhand verschoben – um zwei Tage auf Donnerstag. »Es gab einen hausinternen Diskussionsbedarf«, ließ eine Institutssprecherin ausrichten, und weiter: »Die Studie mußte noch einmal überarbeitet werden.« DIW-Chef Klaus Zimmermann höchstpersönlich hätte den Wunsch gehabt, »mit dem Autor noch einmal darüber zu reden«. Jetzt sei eine Textfassung gefunden worden, »die Herrn Brenkes und Herrn Zimmermanns Meinung kompatibel macht«.
Das freilich trifft es nicht ganz. Tatsächlich ist Brenkes Text in Inhalt und Brisanz weitestgehend der alte geblieben – nur daß der ursprüngliche Titel »Fata Morgana Fachkräftemangel« gestrichen und durch »Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht« ersetzt wurde. Die Sprachregelung lautet nun, die Untersuchung beleuchte »die aktuelle Situation – mit Blick auf die Ausbildung der nächsten vier bis fünf Jahre«. Mittel- bis langfristige Trends »sind nicht das Thema dieses Berichts«. Damit wird indes nur notdürftig passend gemacht, was einfach nicht zusammenpaßt – eben die Meinung des Arbeitsmarktexperten Brenke und die seines Bosses.
Zimmermann ist in Wahrheit nämlich ein inbrünstigster Prediger des »Fachkräftemangels«. Für sein Mantra legte er sich ausgerechnet am Donnerstag mit aller Macht ins Zeug – im Namen des DIW wie auch des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), einem neoliberalen Lobbyistenverein, dessen Direktorenposten er ebenfalls innehat. Aus Anlaß besagter Koalitionsrunde in Berlin präsentierte das Institut einen »Aktionsplan für Arbeitsmigration«, der der Regierung mit zehn Forderungen Beine macht. Dazu zählen Appelle wie »Sofort handeln: Zuwanderungsgesetze ändern, Spracherwerb fördern« oder »Zuwanderer auswählen: Punkte-Auswahlsystem einführen«. Das Papier malt den Teufel an die Wand und hinterläßt den Eindruck, als stünden morgen schon die Bänder der Industrie still. Genau diesem Szenario hat Brenke aber in aller Deutlichkeit widersprochen. Deshalb muß es sich für ihn wie eine Degradierung anfühlen, daß Zimmermanns »Aktionsplan für Arbeitsmigration« nun die zweite Hälfte des aktuellen DIW-Wochenberichts einnimmt.
Entkräftet sind Brenkes Thesen damit nicht. Der Forscher macht diese an einer Reihe von Indikatoren fest. So konstatiert er, daß der Arbeitsplatzabbau im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise »gerade erst zum Stillstand gekommen ist«. Demnach gab es im vergangenen August in der Industrie noch 300000 weniger Beschäftigte – darunter auch eine Vielzahl Hochqualifizierter – als vor dem Einbruch. Wo ist der beschworene »Fachkräftemangel«, wenn diese nicht schleunigst wieder eingestellt werden? Auch hätten die Fachkräfte bei der Lohnentwicklung seit 2009 »nicht besser abgeschnitten, als die übrigen Arbeitnehmer«. Wie kann das sein, wo sich doch Knappheiten am Arbeitsmarkt in höheren Gehältern niederschlagen müßten? Ferner weist Brenke auf den seit 2007 zu verzeichnenden »sprunghaften« Anstieg bei den Ingenieursstudenten hin. Und schließlich fragt er, wie sich der »starke Rückgang neuer Ausbildungsverträge in Fertigungsberufen« erklärt, wenn doch die »Unternehmen bei den Facharbeiterberufen das Arbeitskräfteangebot über die Lehrstellen weitgehend selbst steuern«.
Für Rudolf Hickel, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Bremen, sind all dies schlagkräftige Argumente. »Der Fachkräftemangel ist ein Fetisch«, betonte er gegenüber jW. Abgesehen von »regionalen Engpässen« spreche nichts für ein akutes Problem. »Die hysterisierte Debatte dient doch nur dazu, unliebsame Reformen wie die Rente mit 67 leichter durchzusetzen und davon abzulenken, daß die Unternehmen heutzutage immer schlechter und weniger ausbilden.«
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