Schmerz- und Nervenfragen
Von Tom Strohschneider, FREITAG ONLINE
Euro-Krise, FDP-Absturz, wackelnde Koalitionsmehrheit: Bei den Etat-Beratungen im Bundestag schwingen die finanzpolitischen Konzepte einer rot-grünen Regierung in spe bereits mit
Es war viel vom bedrohten Königsrecht des Parlaments die Rede in den vergangenen Wochen. Die Eurorettung dürfe das Haushaltsrecht des Bundestags nicht aushebeln, wurde immer wieder gewarnt. Es gehe um viel, ja sogar die Demokratie selbst sah mancher auf dem Spiel. Von besonderer Hingabe der Abgeordneten selbst war diesbezüglich am Dienstag im Plenum jedoch nicht viel zu sehen: Die Beratungen über den Etat 2012 begannen vor nur mäßig besetztem Haus.
Traditionell erlebt der Bundestag immer am Mittwoch den Höhepunkt der Haushaltswoche: bei der Debatte über den Kanzlerinnen-Etat. Doch wie weit kommt man in diese Zeiten noch mit Althergebrachtem? Euro-Krise, FDP-Absturz, wackelnde Regierungsmehrheit; sogar die Generaldebatte am Mittwoch muss verschoben werden – wegen deserwarteten Karlsruher Urteils über Rettungsschirme und Griechenlandhilfe.
Hinzu kommt, dass die Opposition lauter als sonst mit allen Hufen scharrt. Bei den Probeabstimmungen in den Fraktionen der Koalition waren am Montagabend weniger Ja-Voten für eine EFSF-Erweiterung zusammengekommen, als für das Erreichen der Kanzlermehrheit nötig wären. SPD und Grüne wollen dem Paket zwar zustimmen, haben aber bekräftigt: Verfehlt Schwarz-Gelb diese Mehrheit, müsse es Neuwahlen geben.
Ob damit tatsächlich zu rechnen ist, sei einmal dahingestellt. Warum sollten etwa die Liberalen einen „Befreiungsschlag“ erwägen, der ja doch auf ein bundespolitisches Harakiri hinausliefe? Und auch die Unionsspitzen bleiben optimistisch: „Warten Sie es in aller Gelassenheit ab“, erklärte Finanzminister Wolfgang Schäuble am Dienstag und keilte gegen seine direkten SPD-Widersacher Peer Steinbrück nach einem Zwischenruf: „Wenn Sie Kanzlerkandidat werden wollen, müssen Sie sich noch ein bisschen bessere Manieren zulegen.“ Der FDP-Finanzpolitiker Volker Wissing meinte sogar, man werde mit schwarz-gelber Politik auch in Zukunft verhindern, dass SPD und Grüne an die Regierung kommen. Das (ebenso spärliche) Publikum war amüsiert.
Konzepte von SPD, Grünen und Linken
Dabei geht es um eher ernste Angelegenheiten. Der sozialdemokratische Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sprach am Dienstag von einer „Schmerz- und Nervenfrage“, als die Rede auf eventuelle Neuwahlen kam. Einen Tag zuvor hatte die SPD ein Konzept vorgelegt, dem das Willy-Brandt-Haus den Titel Nationaler Pakt für Bildung und Entschuldung verpasst hat. Schon in der Woche zuvor hat eine Finanzkommission der Grünen den Rahmen ausgelotet, in dem sich ihrer Meinung nach eine künftige Regierung bewegen müsste. Und auch die Linkspartei hat in diesem Jahr einSteuerkonzept vorgelegt, dass für sich in Anspruch nimmt, einen Ausgleich zwischen staatlicher Handlungsfähigkeit, Haushaltssanierung und Gerechtigkeit zu schaffen.
Was Oppermann als „disziplinierte Arbeit an einem Regierungsprogramm“ bezeichnet, sieht die SPD-Linke als „gute Grundlage für die innerparteiliche Debatte“. Die Jusos haben am sozialdemokratischen Finanzkonzept bereits Korrekturbedarf angemeldet. Auch bei den Grünen ist die Diskussion über die künftige Haushaltspolitik keineswegs abgeschlossen. Einzelne Vorhaben beim Subventionsabbau etwa finden sich fast gleichlautend bei SPD, Grünen und Linken. Mehr noch aber existieren unterschiedliche Vorstellungen – sowohl innerhalb wie zwischen den Parteien. Was auch für das Maß an Skepsis über mögliche Mehreinnahmen und Einsparungen angeht: Während SPD und Grüne eher defensiv rechnen, lesen sich die Zahlen der Linkspartei recht optimistisch.
Zum Beispiel in Sachen Reform der Mehrwertsteuer. Hier gehen etwa die Sozialdemokraten von möglichen Einsparungen von 2,3 Milliarden Euro aus, haben diese aber nicht in ihr Konzept aufgenommen, weil eine Umsetzung „mit faktischen oder politischen Problemen behaftet“ sei. Die Grünen hingegen erhoffen sich aus der Abschaffung der schwarz-gelben Hotelsteuer und anderer Ermäßigungen Mehreinnahmen von 3,4 Milliarden Euro. Die Linkspartei will, um die „unsozialen Wirkungen der aktuellen Umsatzsteuer abzumildern“, die Besteuerung nach dem ermäßigten Sieben-Prozent-Satz ausweiten – was nach ihrem Konzept acht Milliarden Euro kosten würde.
Vermögensabgabe oder Vermögensteuer?
Deutliche Unterschiede gibt es zum Beispiel auch bei der Finanztransaktionssteuer. Bei den Grünen heißt es, es sei „unklar, ob es auf europäischer Ebene zu einer Einigung kommt, wie diese aussehen wird und wann die Finanztransaktionssteuer eingeführt werden kann. Wir sollten deswegen haushaltspolitisch nicht mit dieser Steuerquelle planen.“ Auch die Sozialdemokraten habe da ihre Zweifel, wollen aber „solange keine internationale oder europäische Regelung gefunden wird“, eine „nationale Börsenumsatzsteuer einführen und damit 3 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen“. Die Linke setzt auf die „Vorabeinführung“ einer Finanztransaktionssteuer und verweist auf eine Wiener Studie, die Einnahmen von mindestens 27 Milliarden Euro errechnet hat.
Auch wenn alle drei Oppositionsparteien einen höheren Spitzensteuersatz fordern, ist das noch nicht dasselbe: Im SPD-Konzept von einer Anhebung auf 49 Prozent die Rede, die sollen aber erst bei Jahreseinkommen von 100.000 Euro fällig werden. Außerdem soll bei künftigen Ehen das Splitting durch eine Individualbesteuerung mit Unterhaltsabzug ersetzt werden. Die Sozialdemokraten rechnen mit Mehreinnahmen von fünf Milliarden Euro. Bei den Grünen werden zwei Varianten diskutiert – eine lineare Tarifverlängerung auf 45 Prozent (plus 2,4 Milliarden Euro) beziehungsweise auf 49 Prozent (plus 6,2 Milliarden Euro). Langfristig wollen die Grünen das Ehegattensplitting beenden, „ein Abschmelzen“ könne „in einem ersten Schritt“ weitere 3,5 Milliarden Euro bringen. Bei der Linkspartei werden höhere Belastungen bei den Besserverdienern – 53 Prozent Spitzensteuersatz ab 65.000 Euro – sowie die Abschaffung des Splittings direkt in die Entlastung kleiner Einkommen gesteckt.
Ganz oben auf der medialen Agenda steht auch wieder die Besteuerung von Vermögen und Erbschaften. Doch auch hier wird sowohl innerhalb als auch zwischen den Oppositionsparteien kontrovers diskutiert. Bei den Grünen ist sowohl eine Vermögensabgabe im Gespräch, mit der über zehn Jahre insgesamt 100 Milliarden Euro ausschließlich zur Schuldensenkung eingenommen werden sollen, als auch die Wiedererhebung der Vermögensteuer, die den Ländern zugute käme. Es gibt Anhänger der einen wie der anderen Variante, und solche, die beide Einnahmequellen anzapfen wollen. Die Linkspartei glaubt, durch eine andere Vermögen- und Erbschaftsbesteuerung insgesamt 87 Milliarden Euro einzunehmen. Bei der SPD, die in ihrem Konzept von einem „sozialen Patriotismus“ spricht, hofft man hingegen durch „die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Reform der Erbschaftssteuer“ zusätzlich zehn Milliarden Euro für die Länder zu erschließen. Betriebsvermögen wollen die Sozialdemokraten dabei stärker schonen. Auch bei den Grünen wird davor gewarnt, mit der Steuerschraube die Investitionstätigkeit des Mittelstandes abzuwürgen.
Aufgewärmter Klassenkampf
In Letzterem liegt die Basis für sehr grundsätzliche Auseinandersetzungen im Lager der rot-grünen Wunschpartner. Da beide Parteien sehr strikt darauf pochen, dass zusätzliche Ausgaben nur dann möglich seien, wenn auch zusätzliche Einnahmen erschlossen werden können; zudem die Sanierung des Haushalts bei SPD und Grünen höchste Priorität hat, stößt jeder politische Gestaltungswille in Zukunft noch schneller an haushaltspolitische Grenzen. Die Grünen haben das gesamtstaatliche Finanzierungssaldo auf etwa 43 Milliarden Euro beziffert – kommen mit ihren bisher vorgestellten Maßnahmen aber nur auf eine Reduzierung dieses strukturellen Defizits um die Hälfte. Die Sozialdemokraten wollen Steuermehreinnahmen aus wirtschaftlichem Wachstum direkt an die Absenkung der Neuverschuldung binden – und haben dabei sogar eine Entlastung kleiner Einkommen von Sozialabgaben aufgeschoben.
Wer vor diesem Hintergrund größere gesellschaftliche Umbauvorhaben anschieben will – man denke an Schlagworte wie den Green New Deal und die Energiewende –, landet schnell bei einer alten und eher fragwürdigen Hoffnung: mit „ökonomischen Anreizen“ und Standortpflege die Unternehmen zu ihrem Beitrag bewegen. Ein Problem: Was in volkswirtschaftlichem Interesse nützlich sein mag, muss dies nicht auch in einzelwirtschaftlichem Sinne sein. Ein zweites knüpft daran an: Viele notwendige Investitionen in die Gesellschaft werfen zwar soziale Gewinne ab, jedoch keine Rendite. Für sozialpolitische Forderungen, die zum Teil bereits Beschlusslage der Parteien sind, wird es daher eng. Aus der Finanzkommission der Grünen hieß es, „die Priorisierung ist eine politische Entscheidung, die jetzt die Partei treffen muss“. Wobei eher an die Streichung von Vorhaben gedacht wird als an mehr Umverteilung. Hier setzt die Linkspartei an: Die Debatte um Mehreinnahmen, schreibt sie in ihrem Konzept, sei „zuvorderst eine politische Frage“. Also, könnte man ergänzen, eine der Kräfteverhältnisse auf der Straße und im Parlament.
Dort, bei der „allgemeinen Finanzdebatte“ am Dienstag, spielten solche Fragen allerdings nur am Rande eine Rolle: in Form von parteipolitischer Polemik. Die Opposition, die nun gerade versucht, durch demonstrative Buchhalterskepsis und haushaltspolitische Zurückhaltung zu punkten, musste sich von der FDP den Vorwurf anhören, immer noch in „Wunschdenken“ gefangen zu sein. Der Abgeordnete Wissing wollte in dem Finanzkonzept der SPD sogar „aufgewärmten Klassenkampf mit einem Schuss Leistungsfeindlichkeit und einer Prise Neidgesellschaft“ entdeckt haben. Es klang ein wenig wie Pfeifen im Walde. Die politische und ökonomische Krise macht nicht nur den Liberalen zu schaffen.
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