Joachim Bischoff: Mehr als Zeit gekauft?
Wie tragfähig sind die Strategien zur Lösung der EU-Krise?
Die Beschlüsse des EU-Gipfels haben an den Finanzmärkten sichtbar für Entspannung gesorgt. Aber sind die drei Stufen – Schuldenschnitt für Griechenland, Ausbau (Hebelung) des EFSF-Schirms und Rekapitalisierung von Banken – wirklich der große Wurf?
Wir sind skeptisch. Was sind die Argumente? Nur auf kürzere Sicht ist Zeit gewonnen in der Auseinandersetzung über den Schuldenüberhang in Europa. Die Beschlüsse zur Überwindung der Schuldenkrise reichen nicht, um die politisch-ökonomische Sackgasse zu verlassen. Es wächst die Gefahr, dass das Wachstum der Wirtschaft nicht stark genug sein wird – einer Wirtschaft, die sich in der Euro-Zone bereits jetzt durch hohe Arbeitslosigkeit, massive Haushaltsdefizite, viele geplatzte Hypotheken und Zinsen nahe der Nulllinie entwickelt.
Der für Griechenland vereinbarte Schuldenschnitt von 50% bei den von privaten Akteuren (Banken, Versicherungen) gehaltenen Staatsanleihen – Reduktion auf 100 Mrd. Euro – muss in Einzelverhandlungen eingesammelt werden. Ob Griechenland die dadurch auf 120% des BIP reduzierten Schulden dann wirklich tragen kann, hängt vom weiteren Gang der wirtschaftlichen Akkumulation ab. Es ist aber immer noch völlig unbestimmt, wie die griechische Realökonomie gestützt und befördert werden kann. Von einem Konjunkturprogramm, ganz zu schweigen von einer Art großzügig angelegtem Marschallplan, zeichnet sich nichts Konkretes ab. Um eine langfristige Schuldentragfähigkeit zu erreichen, müsste der griechische Staatshaushalt für die Dauer der nächsten zehn Jahre Primärüberschüsse erwirtschaften und dafür ist ein stabiles Wirtschaftswachstum unverzichtbar.
Zur Wiederherstellung dieser Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone greifen die Politiker auf das Konzept einer realen Abwertung zurück: Die Lohnstückkosten sollen rasch gesenkt werden, um dadurch eine Beschleunigung von Strukturreformen und Produktivitätswachstum zu erreichen. Dazu kommt eine Deflation der Preise und Löhne im Ausmaß von 30%, was eine lang andauernde, tiefe und sozial inakzeptable Depression zur Folge hat.
Vor dem Hintergrund dieser unakzeptablen Politik spielt sich die Sanierung des Finanzsektors ab. Vor allem die griechischen Banken und die Europäischen Zentralbank (EZB) sind vom Wertverlust der griechischen Staatsanleihen betroffen. Rund 30 Mrd. Euro wird die Rekapitalisierung des Bankensystems erfordern. Am Markt dürften diese Mittel schwerlich aufzubringen sein, was wiederum Anforderungen an den Rettungsschirm aufwirft.
Der Rettungsschirm EFSF soll als Brandmauer gegen eine mögliche Ausweitung der Schuldenkrise wirken. Als Umfang der Hebelwirkung ist wenigstens rund eine Billion Euro im Gespräch. Es geht um den Plan, dass die EFSF rund 250 Mrd. Euro aufwenden und diese Mittel um den Faktor 4 oder 5 hebeln könnte. Auch hier bliebt die konkrete Einlösung abzuwarten, denn private Anleger stehen gewiss nicht Schlange. Und was die Einwerbung privater Mittel im Rahmen einer Zweckgesellschaft angeht, hat Norwegen den Euro-Staaten bereits eine Absage erteilt. Der vorwiegend aus Öleinnahmen gespeiste 400 Mrd. Euro schwere staatliche Pensionsfonds Norwegens steht für eine Aufstockung der Mittel nicht zur Verfügung.
Neben dem EFSF muss die EZB sich in das Sanierungsgesamtkonzept einfügen. Die Geschäftsbanken der Euro-Zone müssen bei der EZB Wertpapiere als Sicherheit deponieren, wenn sie sich von der Notenbank Liquidität ausleihen wollen. Die Sicherheiten werden täglich zu Marktpreisen neu bewertet und mit einem Abschlag belegt. Reicht das hinterlegte Pfand für den aktuellen Notenbankkredit nicht mehr aus, muss das entsprechende Geldhaus zusätzliche Sicherheiten nachschießen. Die Banken halten Wertpapiere im Wert von 2.000 Mrd. Euro bei der Notenbank, um jederzeit Zugang zu deren Liquidität zu haben. Rund 260 Mrd. Euro davon werden in Form von Euro-Staatsanleihen gehalten, darunter auch Staatstitel jener Länder, die mit der Troika ein Austeritätsprogramm ausgehandelt haben. Außerdem hat die EZB auf dem Sekundärmarkt für 170 Mrd. Euro weitere Anleihen aufgekauft, vor allem von den ins Gerede gekommenen Krisenstaaten.
Der scheidende EZB-Präsident Jean-Claude Trichet schließt nicht aus, dass die EZB Sondermaßnahmen wie den Erwerb von Staatsanleihen erneut anwenden wird. »Derartige Maßnahmen sind nur in der Ausnahmesituation einer globalen Krise größten Ausmaßes zu rechtfertigen. Sobald die Regierungen über die neuen Instrumente verfügen, mit denen sie die Finanzstabilität wiederherstellen können, und diese einsatzbereit sind, gibt es für uns keinen Grund, an diesen Sondermaßnahmen festzuhalten.«
Der neue EZB-Präsident Mario Draghi übernimmt die Bewertung von Trichet. Die EZB sei entschlossen, den Einsatz auf den Sekundärmärkten weiterhin zu nutzen, um eine Störung der Märkte zu verhindern und sicherzustellen, dass ihre geldpolitischen Impulse in der Wirtschaft ankommen. Draghi beschreibt die Lage in seinem Heimatland Italien und international als »dramatisch«. Er sehe deshalb auch ein »signifikantes Risiko« einer deutlichen Konjunkturabkühlung in der Euro-Zone. Um die Abwärtsspirale zu durchbrechen, darf die Werthaltigkeit von Staatsanleihen nicht mehr weiter sinken. Die Europäische Zentralbank ist die einzige Institution, die für eine Bodenbildung bei den Anleihenpreisen sorgen kann. Der Ankauf von Anleihen wird fortgesetzt, wenn die Unsicherheit an den Kapitalmärkten anhält.
Schließlich soll die Überwachung von Spanien, Italien und Frankreich verstärkt werden. Es gibt langfristig angelegte Pläne zur Stärkung der wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordination der Euro-Zone. Auf diese Weise sollen Spar- und Reformanstrengungen der Euro-Staaten durchgesetzt werden. Freilich bleibt dies alles unbestimmt und hängt an der Frage nach der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung. Letztlich müsste ein nachhaltig angelegtes Konjunkturprogramm mit Ansätzen zur Verminderung der Produktivitäts- und Leistungsbilanzüberschüsse innerhalb der Euro-Zone gekoppelt werden, um aus der drückenden Schuldenlast herauszukommen.
Gemäß der aktuellen Prognose der EU-Kommission wird das Wachstum gegen Jahresende fast zum Stillstand kommen. Indikatoren etwa zum Konsumentenvertrauen (Rückgang im September) und zum Auftragseingang in der Industrie (im Juli -2,1% gegenüber Vorjahresperiode) untermauern diese Einschätzung. Ähnlich wie die EZB und der Internationale Währungsfonds (IWF) drängt die EU darauf, die negativen Rückkoppelungsschleifen zwischen Schuldenkrise, fragilem Bankensektor und Wachstumsabschwächung zu durchbrechen. Doch ein schneller Ausweg ist nicht in Sicht.
Trotz alledem erwarten Kommission, EZB und IWF, dass das BIP-Wachstum dank des starken ersten Quartals im laufenden Jahr mit etwa 1,6% nur wenig unter dem Vorjahreswert von 1,8% liegen dürfte. Für 2012 gehen die EZB und der IWF von einem weiteren Rückgang aus. Zudem betonen Experten die hohe Unsicherheit und die Risiken für ein Minuswachstum. Vor diesem Hintergrund stagniert die Arbeitslosenquote seit Monaten auf dem hohen Niveau von 10%.
Deutschland ist die Konjunkturlokomotive in Europa. Umgekehrt gilt aber auch: Die Konjunktur in Deutschland hängt an der Entwicklung der Weltwirtschaft. Deshalb ist die Verlangsamung des BIP-Wachstums von revidiert 1,3% im ersten Quartal auf nun nur noch 0,1% im zweiten ein besonderes Warnsignal. Die Weltkonjunktur gerät ins Stocken und diese Abschwächung droht sich auf Deutschland und die Euro-Zone zu übertragen. Ob sich aus der jüngsten Wachstumsschwäche eine Rezession entwickelt, ist gegenwärtig noch offen.
In den USA hat sich die Konjunktur gemessen an den Arbeitslosenzahlen seit der Finanzkrise nie richtig erholt, und die jüngsten Frühindikatoren liegen nur noch knapp über Rezessionsniveau. Zudem sind Abschwünge nach geplatzten Immobilienblasen oft gravierender als andere Rezessionen. Der Ansatz von Europäischer Union und IWF, den Ländern immer strengere Sparmaßnahmen vorzuschreiben, kann nicht funktionieren. In Italien liegt die Schuldenlast beispielsweise seit zehn Jahren unverändert im Bereich von 110% des BIP. Die Politik war nicht in der Lage, die Verschuldung zu irgendeinem Zeitpunkt zu senken. Die Frage lautet, ob in den nächsten zehn Jahren eine nachhaltige Wendung zum Positiven zu erwarten ist. Ist die Antwort negativ, kommt der Schuldenschnitt auch bei Italien – und/oder Spanien.
Die Konsolidierung der Staatshaushalte vieler Euro-Staaten ist angeschoben und wird durch die Beschlüsse stärker kontrolliert, womit kurzfristig die private wie öffentliche Nachfrage gedrückt wird. Die Turbulenzen an den Finanzmärkten beeinträchtigen das noch immer fragile Bankensystem, was über die Kreditvergabe die Realwirtschaft treffen kann. Und die von der Schuldenkrise ausgehende Unsicherheit schwächt das Vertrauen der privaten Haushalte, die gleichfalls ihre Schuldenquote zurückführen müssen.
Unter dem Strich heißt das: Mit den Krisenbeschlüssen ist Zeit gewonnen, die Ansätze zu einer grundlegenden Verbesserung der Konstellation sind bescheiden. Es bleibt bei der These des US-amerkanischen Ökonomen Rober Shiller: »Es gibt also klare Hinweise dahingehend, dass schwere Krisen die Wirtschaftsentwicklung auf Jahre hinaus belasten. Ich persönlich rechne damit, dass die nächsten fünf Jahre enttäuschend sein werden. Denn wir sollten nicht vergessen: Die jüngste Rezession war außergewöhnlich, sie verzeichnete den schärfsten Einbruch seit der Großen Depression. Und es ist nach wie vor unsicher, wie funktionsfähig das System nach diesem massiven Schock wirklich ist… Das Problem ist, dass die Krise weiter schwelt. Es besteht das Risiko, dass das frisch gewonnene Vertrauen mit der Zeit schwindet, wenn wir eine unzureichende Konjunkturerholung sehen und weitere befremdliche Geschichten hören von Staaten, die zahlungsunfähig werden oder finanziell aufgefangen werden müssen. Es zeichnet sich auch politischer Widerstand gegen weitere Rettungsmaßnahmen ab … Natürlich müssen wir uns Sorgen machen um das Staatsdefizit, aber angesichts der fragilen Lage der Wirtschaft gibt es nur unbehagliche Entscheidungen zu treffen. Wir müssen dabei abwägen, was wichtiger ist: Schuldenreduktion oder Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur. Ich bin der Meinung, dass die Notwendigkeit von Stimulusprogrammen die Schuldenproblematik noch immer überwiegt. Wir haben uns ziemlich gut aus der Krise manövriert, aber die Gefahr eines ›Double-Dip‹ ist noch nicht gebannt.« (Handelsblatt vom 7.4.2010)
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