Der Neoliberalismus in Lateinamerika
Dieter Boris: Entstehung, Mechanismen und Wirkungen
Die Praxis und Ideologie des Neoliberalismus, der nahezu ungehemmten Marktradikalität (mit all ihren bekannten Folgen) hat nach dem Militärputsch in Chile 1973 und den folgenden Jahren erstmals von sich Reden gemacht. Es war kein Zufall, dass diese, die Kapitalseite und Großgrundbesitzer extrem begünstigende Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zum ersten Mal in Chile mittels brutaler Gewalt einer Militärdiktatur eingeführt wurde (sodann auch bald in Uruguay, etwas später Argentinien).
Die Privatisierungswellen, der Abbau arbeits- und sozialrechtlicher Schutzvorrichtungen die weitgehende, schnelle Öffnung der Ökonomie, die Liberalisierung der Wirtschaft und der Preise etc. trugen erheblich zur sozialen Polarisierung und in nicht wenigen Gesellschaften zu ökonomischen Verwerfungen bei.
Dies war auch in Chile so während der ersten zehn Jahre des neuen Militär- und Wirtschaftsregimes: zeitweise waren über ein Drittel der Bevölkerung arbeitslos und über vierzig Prozent unter die Armutsgrenzen gefallen. Erst nach einigen pragmatischen Korrekturen des ultradogmatischen neoliberalen Modells in der ersten Hälfte der 1980er Jahre gelang es dem Militärregime, relativ dauerhaft hohe Wachstumsraten zu erzielen, welche nicht zuletzt durch die hohe Repression der arbeitenden Bevölkerung und durch zunehmende Exportorientierung ermöglicht wurden.
Aus diesem Grund wurde die neoliberale Orientierung in Chile auch nach Abtritt der Militärdiktatur beibehalten, und es wurden viele von der Diktatur durchgesetzten, reaktionären Veränderungen nicht grundlegend revidiert.
Krise des Neoliberalismus und Aufschwung sozialer Bewegungen
In den meisten anderen Ländern Lateinamerikas geriet der Neoliberalismus seit der Jahrhundertwende in die Krise, so in Venezuela, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Bolivien, Ekuador, Paraguay. Ökonomische Rückschläge, langjährige Rezessionen, Verarmungsprozesse sowie autoritär-abgehobene Regierungen riefen zunehmend Proteste sozialer Bewegungen hervor. Indigene Bewegungen in Mexiko, Ekuador und Bolivien sowie Stadtteilbewegungen, Arbeitslosenbewegungen, Gewerkschaften und Campesinobewegungen odert und in anderen Ländern fanden in ihrem Protest zusammen. Es gelang ihnen, neoliberale Regierungen zu stürzten, worauf dann neue Regierungen gewählt wurden, die man häufig als Mitte-Links- orientiert einstufte. Es entstanden auch erstmals länderübergreifende soziale Bewegungen gegen den Neoliberalismus, so die Anti-ALCA Bewegung, die sich gegen eine von den USA dominierte Freihandelszone wandte.
Die neuen Mitte-Links-Regierungen und ihre Politik
Diese neuen Regierungen vollzogen eine mehr oder minder deutliche Abkehr von neoliberalen Leitbildern und leiteten wichtige Veränderungen ein: Diese lagen in verschiedenen Politikbereichen:
- Einmal kam es zu einer Aufwertung des Staates und der Staatsfunktionen in der Wirtschaft und Gesellschaft.
- Zweitens wurde die nationale Souveränität gegenüber externen Einmischungen (beispielsweise des IWF) wesentlich stärker betont.
- Drittens: In der Wirtschaftspolitik wurde eine binnenmarktorientierte Politik, verbunden mit Lohn- und Nachfragsteigerungen, verfolgt.
- Viertens: Im sozialen Bereich wurden Rechte der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer wieder hergestellt (in manchen Ländern, z.B. Uruguay sogar ausgeweitet), die Sozialausgaben sowie die Bildungsetats deutlich erhöht.
- Zudem wurden die Rechte der indigenen Bevölkerungsteile – häufig durch Verfassungsänderungen bzw. neue Verfassungen – wesentlich gestärkt.
- Gegenüber bloß repräsentativen Elementen der Demokratie wurden die partizipatorischen und basisdemokratischen Momente wesentlich ausgebaut.
- Schließlich wurde in einigen Ländern mit leidvoller Erfahrung von Militärdiktaturen (wie z.B. Argentinien) die Menschenrechtspolitik und die »Aufarbeitung der Vergangenheit« durch Bestrafung der Mörder besondern akzentuiert.
Die Erfolge dieser Mitte-Links-Regierungen, die übrigens allesamt nach vier oder fünf Jahren wieder gewählt wurden, blieben nicht aus. Im Verein mit einer günstigen Weltmarktkonjunktur (Rohstoffpreisentwicklung!) konnten die Pro-Kopf-Einkommen wesentlich gesteigert, die Arbeitslosigkeit verringert sowie die Armutsquote deutlich gesenkt werden. Sogar die in Lateinamerika besonders krasse Ungleichverteilung der Einkommen wurde leicht verringert.
Chile als eine der letzten Bastionen des Neoliberalismus in Lateinamerika
Chile stand gegenüber diesen neoliberalismuskritischen Strömungen und Wenden in der Politik lange Zeit wie ein Fels in der Brandung. Die Concertación-Regierungen (Koalitionen von Christ- und Sozialdemokraten), die in Chile nach Abtritt der Pinochet-Diktatur von 1990 bis 2010 die Politik bestimmten, haben nur kleine Veränderungen gegenüber den tief greifenden Transformationen der Gesellschaft durch das Militärregime vorgenommen. Die Grundstrukturen der von der Diktatur veränderten ( d.h. privatisierten) Systeme der Bildung, der Gesundheit, der Sozialversicherung, die stark reduzierten gewerkschaftlichen Rechte, das die rechten Parteien begünstigende Wahlsystem etc. blieben im wesentlichen die gleichen. Sogar die von Pinochet (1980) diktierte Verfassung blieb gültig.
Die Koalitionsregierungen von Christ- und Sozialdemokraten wollten und konnten (ihrer Meinung nach) keine wesentlichen Veränderungen herbeiführen, um nicht abermals eine Einschreiten der Militärs zu provozieren. Die große Furcht vor einem neuen 11.September 1973 blieb in den 20 Jahren nach Pinochet bestimmend.
Seit 2010 wird Chile wieder von konservativen und rechten Parteien regiert. Der gegenwärtige Präsident Pinera ist Milliardär, die meisten Kabinettsmitglieder sind gleichfalls steinreich und zählen zu den bekanntesten Exponenten der herrschenden Klasse dieses Landes. In diesem Kontext vermehrten und steigerten sich die sozialen Proteste gegen die nicht abgeräumten Hinterlassenschaften des Pinochet-Regimes. Zwar waren sie schon in den Jahren zuvor zeitweise aufgeflammt (z B. der Protest der »Pinguine« 2005, der Sekundarschüler oder die Proteste der Indigenen, der Mapuche im Süden des Landes gegen die Landvertreibungen etc.). Aber erst jetzt scheinen sich diese verschiedenen Bewegungen, bei denen auch die Gewerkschaftsbewegung eine wachsende Rolle spielt, stärker zu koordinieren und zu Massenmobilisierungen in der Lage zu sein, wie sie Chile in diesem Ausmaß zuletzt vor 40 Jahren erlebte.
Vor allem durch den beharrlichen Druck der Studentenbewegung stehen nun auch in Chile, wo der Neoliberalismus als erstem Land und mit militärischer Brutalität eingeführt worden war, die Zeichen auf Veränderung. Den Forderungen dieser Proteste, die zuletzt in dem Ruf nach endgültiger Beseitigung der Pinochet-Verfassung kulminierten, gilt unsere besondere Sympathie und Solidarität.
Dieter Boris ist Professor im Ruhestand (Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg). 2009 erschien vom ihm im VSA: Verlag Lateinamerikas Politische Ökonomie. Aufbruch aus historischen Abhängigkeiten im 21. Jahrhundert? Diesen Beitrag hat er auf einer Chile-Veranstaltung des DGB Hessen-Thüringen am 28. Januar 2012 in Frankfurt a.M. vorgetragen.
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