Europa und das Volk
Von Christa Luft, Neues Deutschland
Bundestag und Bundesrat haben gerade im Eiltempo den dauerhaften europäischen Rettungsschirm (ESM) und den Fiskalpakt beschlossen. Eine Mehrheit von Union, FDP, SPD und Grünen war bereit, das laut Grundgesetz einzig dem Parlament vorbehaltene Budgetrecht an die nicht demokratisch legitimierte EU-Kommission abzutreten. Über die Köpfe der Bürger hinweg könnten, falls vom Verfassungsgericht nicht noch gestoppt, existenzielle Finanzentscheidungen künftig von Brüsseler Bürokraten getroffen werden.
Das öffentliche Unbehagen wächst. Bisher wird »mehr Europa« hierzulande von vielen als weniger Sozialstaat und Schuldengemeinschaft wahrgenommen. Ausgerechnet Finanzminister Schäuble, bisher Protagonist des technokratischen »Weiter so«, bringt plötzlich den Souverän ins Spiel. Er sieht »eher morgen als übermorgen eine Volksabstimmung über die vertiefte Integration Europas« und damit eine Änderung des Grundgesetzes kommen. Will er bloß Druck aus dem Kessel nehmen oder treibt ihn Panik?
Auch die Kanzlerin entdeckt ihr Herz für Basisdemokratie. Ahnt sie, dass es angesichts der gegenwärtigen Verfasstheit der EU in einem Referendum keine Mehrheit für die Übertragung zusätzlicher Kompetenzen an Brüssel geben wird? Laut Infratest sagen 52 Prozent »Nein« zu einer Grundgesetzänderung für die Eurorettung.
Die Plebiszitidee klingt gut, ist aber nicht zu Ende gedacht. Bei Bahnhofsneubau, Rauchverbot oder zusätzlichen Landebahnen ist die Frage klar umrissen. Wie aber soll die Alternative beim Thema »Vertiefung der EU« lauten? »Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa«? »Mehr Kompetenzen für Brüssel?« Ein bedingungsloses »Ja« wäre unverantwortlich, wenn Europa weiter von der Wirtschaft statt von den Menschen her gedacht wird. Ein »Nein« würden Befürworter der Re-Nationalisierung als Sieg feiern.
Die Idee der Volksbefragung krankt daran, dass es bisher keine plausible Antwort darauf gibt, was für ein integriertes Europa wir wollen - eins, das sich nur an betriebswirtschaftlicher Logik orientiert und sich in ökonomischer Konkurrenz zu China und den USA definiert? Die Lissabon-Strategie sollte die EU bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt machen. Das ist trotz Gemeinschaftswährung verfehlt worden. Oder wollen wir ein Europa, das sich vom neoliberalen Dogma absetzt und vor allem Bildung, Forschung, Wissenschaft und Kultur und somit menschliche Talente wie Kreativität und Innovationskraft fördert?
Ohne Antwort macht das Projekt keinen Sinn. Die Regierenden müssen überzeugend für ein integriertes Europa werben, müssen offenlegen, was Souveränitätsabgabe in der Praxis bedeutet, was sie wen kostet und welchen Nutzen sie der Bevölkerung bringt. Die nationale Budgethoheit darf nicht begrenzt werden, ohne das demokratisch gewählte EU-Parlament mit mehr Befugnissen auszustatten. Die wolkige Ankündigung eines Referendums ersetzt nicht unverzügliche Reformen zur Einebnung des Wettbewerbsgefälles zwischen den Euroländern, wenn der Euro nicht kollabieren soll. Für Deutschland heißt das u. a. Stärkung der Binnenkaufkraft zum Abbau der massiven, die Verschuldung von Partnerländern treibenden Exportüberschüsse.
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In der wöchentlichen nd-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.
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