Das Selbstmordförderungsprogamm für Langzeit­arbeitslose feiert sein zehnjähriges Jubiläum

Von Friedhelm Grützner

23.08.2012

Eine Anekdote vorweg: Als ich im Jahre 2003 etwas mit dem Arbeitsamt zu klären hat­te, rief ich dort an und bat die freundliche Dame in der Telefonvermittlung im sachlich­geschäftsmäßigen Ton, ich würde ganz gerne eine Person sprechen, welche für das Selbstmordförderungsprogramm für Langzeitarbeitslose zuständig sei, worauf die Tele­fonistin ebenso sachlich-geschäftsmäßig antwortete: „Einen Augenblick, ich verbinde.“ Und ich hatte dann tatsächlich jemanden aus der damals im Aufbau befindlichen BAGIS am Apparat.

Wenn die Politik fragwürdige Vorhaben wie das Selbstmordförderungsprogramm für Langzeitarbeitslose (vulgo Hartz IV) dem Wahlvolk erfolgreich zu „vermitteln“ sucht, dann kann sie natürlich nicht die damit verbundenen tatsächlichen Ziele offensiv be­nennen. Sie muss diese vielmehr sprachlich camouflieren und außerdem massenmedi­ale sowie pseudowissenschaftliche Unterstützung gewinnen. Schon der Begriff „Ar­beitsmarktreformen“ war reine Camouflage, denn der Arbeitsmarkt wurde nicht „refor­miert“, sondern die arbeitsmarktpolitischen Instrumente (ABM, EGZ, § 19 BSHG usw.), mit denen die Politik bis dahin die in einer kapitalistischen Marktwirtschaft nun einmal vorhandenen Arbeitsmarktrisiken abzufedern versuchte, wurden gemeinsam von SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP schlichtweg abgeholzt. Die aktive Arbeitsmarktpolitik gehört zu den Errungenschaften und großen Verdiensten des deutschen Sozialkatholizismus, für den zuletzt in der Großen Koalition von 1966-1969 der Arbeits- und Sozialminister Hans Katzer (CDU) stand. Es bedurfte mit Gerhard Schröder eines aus dem traditions­losen Lumpenproletariat aufgestiegenen Parvenus, der es bis zum sozialdemokrati­schen Bundeskanzler brachte, um dieses sozialkatholische Reformwerk der alten Bun­desrepublik abzureißen. All die despektierlichen Äußerungen, die Karl Marx über das Lumpenproletariat in seinem „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ niederschrieb (die po­litische Korruptheit und die Verfügbarkeit für allerlei reaktionäre Machenschaften dieses „Abhubs aller Klassen“) wurden von jener Person in ihrer Politik eindrucksvoll bestätigt. Es gehört zu den bizarren Ironien der jüngeren deutschen Geschichte, dass es ausge­rechnet Sozialdemokraten waren, welche den „institutionalisierten Klassenkompromiss“ des „Rheinischen Kapitalismus“ beendeten und eine Arbeitsmarktpolitik implementier­ten, welche sich an der Philosophie des Arbeitshauses im Frühkapitalismus orientiert.

Es ist für den aufgeklärten Zeitgenossen nur schwer erträglich, die derzeit in den Medi­en breitgetretenen Jubelarien über den angeblichen Erfolg der „Arbeitsmarktreformen“ zu verfolgen. Auch rein intellektuell sind sie häufig einfach nur noch unterirdisch. So schreibt Guido Bohsem in der Süddeutschen Zeitung in einem kurzen Kommentar („Warum Hartz IV gelungen ist“) gleich dreimal, dass man in Europa nach den deut­schen Arbeitsmarktreformen geradezu „giere“. Abgesehen davon, dass solche Wieder­holungen für einen geringen Wortschatz sprechen, so ist das Verb „gieren“ hier auch rein sachlich völlig unangebracht. „Gier“ kennzeichnet das unkontrollierte Streben nach materiellen und sinnlichen Genüssen („Von der Begierde eile ich zum Genuss. Und im Genuss verschmachte ich nach der Begierde“). Welche materiellen und sinnlichen Ge­nüsse die deutschen Austerity-Programme den Betroffenen in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal bereiten, wird der Autor jedoch nur positiv beantworten können, wenn er gewisse sado-masochistische Spielarten des Sexuallebens als besonders lust­voll ansieht.

Der geringe Wortschatz und die sprachliche Unbeholfenheit korrespondieren beim Au­tor der Süddeutschen Zeitung mit einer dogmatisch-bornierten Sichtweise, die in ihren zynischen Anteilen dann plötzlich doch unfreiwillig ehrlich wirkt. So behauptet er allen Ernstes, dass „Deutschland wieder Europas Konjunkturlokomotive ist“. Aber wie soll das denn geschehen? Deutschland wäre nur dann eine „Konjunkturlokomotive“, wenn von hier auf die Nachbarstaaten ein Nachfragesog ausginge, der dort die Produktion ankurbelt und für Arbeitsplätze sorgt. Tatsächlich passiert das Gegenteil. Deutschland konkurriert mit seinem aggressiven Sozial- und Lohndumping die Nachbarn in Grund und Boden und überschwemmt deren Märkte mit Waren und Dienstleistungen. Deutschland ist mit seinen Handelsüberschüssen für die Defizitländer eine Konjunk­turbremse. Und solange es den mit Hartz IV und der Agenda 2010 eingeschlagenen Kurs beibehält, wird es auch eine Konjunkturbremse für unsere Nachbarländer bleiben.

Diesen Tatbestand räumt der Autor im logischen Widerspruch zu seinen vorhergehen­den Aussagen dann auch ein. „Mehr Arbeitnehmer als früher verdienen sehr wenig Geld (Oh, welche Gier! Oh, welche Lust! F.G.). und viele Zeitarbeiter wünschten sich dringend einen festen Job und gleiches Gehalt für gleiche Arbeit“ (Oh, welche Gier! F.G.). Besonders lobt er die deutsche „Lohnzurückhaltung“ und gibt dabei unumwunden zu, dass „Hartz IV nur das staatlich verordnete Gegenstück zur Lohnzurückhaltung ist“, wodurch „im Verhältnis vor allem zu den europäischen Nachbarn deutsche Produkte wieder wettbewerbsfähiger wurden“. Wie Deutschland unter diesen zutreffenden empi­rischen Gegebenheiten angesichts der Verdrängungseffekte auf den ausländischen Märkten zur europäischen „Konjunkturlokomotive“ geworden sein soll, bleibt allerdings ein Rätsel, das logisch nicht gelöst werden kann.

Die eindimensionale Sicht des Autors von der Süddeutschen Zeitung wird besonders deutlich, wenn er erklärt, dass „Hartz IV den Grundsatz verankert hat, dass es allemal besser sei, für weniger Geld zu arbeiten, als sein Leben in dauerhafter Abhängigkeit vom Staat zu fristen.“ Hier wird ein Gegensatz hergestellt, der logisch nicht zwingend ist. Denn wenn man nur noch zwischen Armutslöhnen und Transfereinkommen wählen kann, dann ist dies eine moralische Bankrotterklärung des derzeit herrschenden kapita­listischen Systems. Der Kapitalismus hatte sich als Soziale Marktwirtschaft einst Legiti­mität auch bei seinen ehemalige Kritikern aus der Arbeiterbewegung erworben, als er in Konkurrenz zur Mängelverwaltung des „real existierenden Sozialismus“ vorexerzierte, dass privates Gewinnstreben mit dem „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) vereinbar ist. Löst er sich von diesem Versprechen, beschädigt er seine mühsam erworbenen Le­gitimationsgrundlagen und steht damit wieder zur Disposition. Aber soweit reicht offen­sichtlich nicht das Reflexionsvermögen all der Apologeten, die uns das Selbstmordför­derungsprogramm für Langzeitarbeitslose (Hartz IV) als soziale Errungenschaft andie­nen wollen.

Und wenn die Jubelarien erklingen, dürfen natürlich auch die Urheber dieser Schand­gesetzgebung im Chor nicht fehlen (einer von denen will bekanntlich ja wieder SPD-Kanzlerkandidat werden). So spricht Gerhard Schröder von „zwei Millionen Arbeitslosen weniger im Vergleich zu 2005“ und stellt anschließend fest: „Das ist ein Gewinn für die Gesellschaft, aber vor allem für die, die Arbeit gefunden haben und für ihre Familien.“ Hiergegen hält der Paritätische Wohlfahrtsverband fest, dass sich zwar seit März 2003 die Zahl der Arbeitslosen von 4,6 auf 3,3 Millionen verringert habe, aber in dieser Zeit die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse „gerade mal von 26,9 Millionen auf 28,6 Millionen gewachsen“ sei. „Stattdessen wächst die Zahl gering­fügiger Beschäftigungsverhältnisse und finden sich 1,3 Millionen ‚Aufstocker‘ in den Job-Centern: Menschen, die durchaus einer Arbeit nachgehen, deren Einkommen je­doch nicht reicht, um sich vom Arbeitslosengeld II unabhängig machen zu können“. Es ist interessant, dass der ehemalige Bundeskanzler ganz ernsthaft meint, dass die empi­risch feststellbare Ausbreitung der Armut und die Schaffung einer breiten working-poor-Unterklasse (20 % der Beschäftigten) infolge der Agenda 2010 als „Gewinn für die Ge­sellschaft“ und für die unter diesen Bedingungen dahinvegetierenden „Familien“ zu be­werten sei. Da sind bei ihm alle (zumal sozialdemokratischen!) Wertmaßstäbe ver­rutscht. Und die Chuzpe, Armut und prekäre Lebensverhältnisse als „Gewinn“ für die betroffenen Menschen zu verkaufen, hätten sich in früheren Zeiten nicht einmal Kon­servative erlaubt, da dies ihrer patriarchial-wohlwollenden Sozialmoral widersprach..

Die Titulierung der Hartz-IV-Gesetzgebung als „Selbstmordförderungsprogramm für Langzeitarbeitslose“ trifft wohl nicht ganz die Intentionen ihrer Initiatoren (ausgenom­men vielleicht Wolfgang Clement, der bekanntlich Menschen mit Parasiten verglich). Ihnen ging es um Druck auf die Gewerkschaften und eine allgemeine Absenkung des Lohnniveaus mittels einer „Reservearmee“, die Arbeit um jeden Preis annehmen muss. Anders sieht es dagegen wohl bei Sozialdarwinisten vom Schlage eines Thilo Sarrazin und eines Gunnar Heinsohn aus. Hier dürfte eine erhöhte Suizidalität unter Hartz-IV-Empfängern einen angenehmen Nebeneffekt der „Arbeitsmarktreformen“ darstellen, um die Gesellschaft von kostenträchtigen „Ballastexistenzen“ zu befreien, die aufgrund ihrer Fortpflanzungsfreudigkeit nur den deutschen Genpool verunstalten.

Friedhelm Grützner, geboren 1949, gelernter Industriekaufmann und Lehrer, promovier­ter Historiker. Als Hartz-IV-Empfänger beim Staatsarchiv Bremen im 1-Euro-Job. In den 70er Jahren zusammen mit Manfred Sohn bei der damals noch sozialliberalen FDP und im Landesvorstand der Jungdemokraten Niedersachsen (Landesvorsitzender 1974). Gründungsmitglied der WASG und Mitglied im ersten Landesvorstand der LIN­KEN in Bremen. Derzeit Vorsitzender der Landesschiedskommission in Bremen.