Steuerschätzung des IMK: Einnahmen nehmen 2012 um 32,7 Milliarden Euro zu - trotzdem kein Spielraum für Steuersenkung
Konjunkturelle Abkühlung schwächt weitere Entwicklung
Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden werden in diesem Jahr auf 606 Milliarden Euro steigen. Das sind 32,7 Milliarden Euro oder 5,7 Prozent mehr als 2011. Auch gegenüber der letzten Prognose des Arbeitskreises Steuerschätzung vom Mai 2012 liegen die Einnahmen höher: um 9,5 Milliarden Euro. 2013 steigen die Steuereinnahmen deutlich langsamer - um 2,2 Prozent auf 619,6 Milliarden Euro. Zu diesem Ergebnis kommt die neue Steuerschätzung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Trotz der Zuwächse konstatieren die Wissenschaftler eine weiter fortbestehende strukturelle Unterfinanzierung der öffentlichen Hand, weil die während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 eingeführten Steuersenkungen nach wie vor die Staatseinnahmen schmälern. Dies wird verschärft durch die wirtschaftliche Abkühlung, die die weitere Entwicklung in den kommenden Jahren deutlich bremst. Für den Zeitraum von 2014 bis 2016 rechnen die Forscher daher damit, dass das Steueraufkommen spürbar schwächer zulegt, als die offizielle Schätzung vom Mai vorhergesagt hat. So prognostiziert das IMK im Jahr 2016 Staatseinnahmen von gut 681 Milliarden Euro - rund sechs Milliarden weniger als die
Mai-Schätzung.
"Die vermeintlich fetten Jahre sind vorbei, kaum dass sie begonnen haben. Deshalb gibt es keinerlei Spielraum für weitere Steuererleichterungen", lautet das Fazit der Experten Dr. Katja Rietzler, Prof. Dr. Achim Truger und Dipl.-Volkswirt Dieter Teichmann. Die Forscher sehen aber derzeit auch keine Dringlichkeit, die Steuern erneut zu senken. Die oft beklagte "kalte Progression" sei während der vergangenen anderthalb Jahrzehnte durch verschiedene Steuerreformen mehr als ausgeglichen worden, zeigt ihre Untersuchung. Sie erscheint heute als IMK-Report Nr. 76.
Die IMK-Steuerschätzung beruht auf der aktuellen Konjunkturprognose, die das Institut Anfang Oktober vorgelegt hat. Neben dem Ausblick auf die Steuerentwicklung bis 2016 liefert die Studie auch eine Analyse der aktuellen steuerpolitischen Diskussion. Die Wissenschaftler warnen Befürworter von Steuererleichterungen angesichts von staatlichen "Rekordeinnahmen" vor gravierenden Fehleinschätzungen: Einerseits würden die Aufkommensgewinne der letzten Zeit ebenso wie die Wirkungen der "kalten Progression" überschätzt. Andererseits blende die Forderung nach Steuersenkungen Risiken aus, die für die Staatsfinanzen in Zeiten der Schuldenbremse durch eine Konjunkturabschwächung erwachsen.
Immer noch Spuren der Krise. Seit Mai 2010 wurden die Steuerschätzungen im Halbjahresabstand deutlich nach oben revidiert. Es sei aber falsch, deshalb anzunehmen, die öffentliche Einnahmesituation sei derzeit besonders komfortabel, erklären die Wissenschaftler. Wer diesen Schluss ziehe, vernachlässige, dass die Steuerschätzung vom Mai 2010 wegen des Konjunkturschocks im Jahr zuvor "die pessimistischste Prognose der vergangenen Jahre gewesen ist". Zwar habe die rasche Erholung von Wirtschaft und Steuereinnahmen alle Experten überrascht. Der Vergleich zur letzten Vorkrisen-Prognose vom Frühjahr 2008 mache aber deutlich, "wie stark die Steuereinnahmen durch die Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden" - bis heute. So liegt die neue IMK-Schätzung für 2012 trotz aller Aufwärtsrevisionen noch um rund 39 Milliarden Euro niedriger als die Prognose im Mai 2008.
Ausgleich der "kalten Progression" nicht notwendig. Rietzler, Truger und Teichmann plädieren dafür, das Problem der "kalten Progression" grundsätzlich ernst zu nehmen. Es gebe gute Argumente dafür, den Einkommensteuertarif bei Bedarf an die Inflation anzupassen. Aktuell sei das aber nicht notwendig, da die Steuersätze seit 1998 in mehreren Schritten deutlich gesenkt wurden. Das hat die "kalte Progression" in diesem Zeitraum bei weitem überkompensiert, machen die Berechnungen der Wissenschaftler deutlich.
Schuldenbremse lässt wenig Spielraum. Angesichts dieser Befunde sei der von der Bundesregierung geplante Abbau der "kalten Progression" auf absehbare Zeit unnötig, schreiben die Forscher. Potenziell gefährlich wirkten Steuersenkungen derzeit, weil sie die öffentlichen Haushalte schnell in Konflikt mit der Schuldenbremse bringen können. Aus heutiger Sicht bestehe zur Verschuldungsgrenze beim Bund zwar ein finanzieller "Sicherheitsabstand". Da die Schuldenregel im Grundgesetz aber stark prozyklisch wirke, könne dieser Puffer sehr schnell verloren gehen, wenn Deutschland in den nächsten Jahren eine längere wirtschaftliche Stagnation oder gar eine tiefe Rezession erleben sollte.
Statt Steuersenkungen sehen die Forscher deshalb eher gezielte Erhöhungen von Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen auf der Tagesordnung. Nur so könnten in Zeiten der Schuldenbremse die Handlungsfähigkeit des Staates gesichert und Zukunftsinvestitionen in Bildung, Forschung und ökologische Infrastruktur finanziert werden.
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