Droge Niedrigzins - Wie Wachstum nicht erreicht werden kann
Von Joachim Bischoff
Die Europäische Zentralbank (EZB) hält die Leitzinsen im Euroraum auch für das Jahr 2013 auf dem Rekordtief von 0,75%. Zugleich dämpfte der Präsident der Notenbank, Mario Draghi, Erwartungen auf eine Zinssenkung infolge der nächsten Sitzungen. Der Rat habe einstimmig entschieden, den Leitzins nicht zu ändern.
Draghi betonte, dass sich die Lage an den Finanzmärkten entscheidend verbessert habe. Krisenländer könnten sich wieder günstiger am Anleihemarkt finanzieren, Kapital fließe zurück in den Euroraum, und die Abhängigkeit der Banken vom Zentralbankgeld sei spürbar gesunken. Doch die Verbesserungen seien in der Realwirtschaft noch nicht angekommen.
Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, ob nicht durch einen Politikwechsel wirtschaftliches Wachstum angestoßen werden muss und erst im weiteren Verlauf der wirtschaftlichen Expansion eine Sanierung der Finanzen der öffentlichen und privaten Sektoren erreicht werden kann.
Die aktuelle Krise ist auch eine Konjunkturkrise – eine Krise bedingt durch eine stockende Gesamtnachfrage: Mit der Finanzkrise und wegen der angehäuften privaten und öffentlichen Schulden vor und durch die Krise sparen Konsumenten, Unternehmen und Staaten weltweit immer mehr. Kredite werden kaum mehr nachgefragt und sie werden von Banken restriktiver vergeben, sodass von den Zinssenkungsrunden bzw. den Geldspritzen der Notenbanken verhältnismäßig wenig im Wirtschaftskreislauf angekommen ist.
Die EZB erwartet, dass sich die Rezession im Euroraum auch Anfang 2013 fortsetzt und sich die Konjunktur erst im weiteren Jahresverlauf erholt. Es bestünden aber weiter Abwärtsrisiken für die Wirtschaft. Diese Einschätzung steht im Gegensatz zu den Botschaften aus der Politik. Auch der Vorsitzende der Ecofin-Gruppe, Jean-Claude Juncker, unterstreicht die These, die Euro-Krise sei keineswegs vorbei. »Ich denke, die Zeiten werden schwierig… Wir sollten der Öffentlichkeit und den nationalen Parlamenten nicht den Eindruck vermitteln, dass alle Schwierigkeiten hinter uns liegen.«
Die wichtigen Zentralbanken haben im Kampf gegen die anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise alle die sehr kurzfristigen Leitzinssätze nahe Null gesenkt. Eine Abkehr von dieser expansiven Geldpolitik ist nicht in Sicht. In normalen Zeiten erweist sich jegliche Bemühung einer Zentralbank, die kurzfristigen Zinsen zu lange zu niedrig zu halten, als fatale Weichenstellung.
Der Finanzmarktökonom Kenneth S. Rogoff verwies bereits im August des vergangenen Jahres zu Recht auf die fragile Gesamtkonstellation. »Wie lange können die Leitzinsen der wichtigsten Währungen noch auf ihren derzeitigen Rekordtiefständen verharren? Die Renditen zehnjähriger Anleihen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland bewegen sich allesamt um die einst undenkbare Marke von 1,5%. In Japan ist die Rendite für Zehnjahresanleihen unter 0,8% gesunken. Globale Investoren sind offenbar bereit, diese außerordentlich niedrigen Zinsen zu akzeptieren, auch wenn es nicht so aussieht, als würden sie für die zu erwartende Teuerung kompensiert.« (Financial Times Deutschland vom 15.8.2012)
Längerfristig ist diese Situation höchst problematisch. Warum? Die niedrigen Zinsen stimmen selbst die Endverbraucher nicht froh. Sparanlagen und Tagesgeldkonten werfen kaum etwas ab. Und infolge der tiefen Zinsen werden Lebensversicherungen und andere Formen der Alterssicherung immer weniger attraktiv. Lediglich für Bauwillige oder potenzielle Käufer von Eigentumswohnungen sind niedrige Zinsen positiv.
Was verursacht die niedrigen Zinsen? Vielfach werden in erster Linie die Notenbanken dafür verantwortlich gemacht. Die These: Die Zentralbanken fluten den Markt mit Geld. Sie versuchen mit niedrigen Zinsen die Konjunktur zu stabilisieren. Die Pferde müssen zum Saufen gebracht werden, heißt es in der Sprache der Wirtschaftspolitiker. Aber dieses Rezept funktioniert immer weniger. Niedrige Zinsen und dadurch erzeugte zusätzliche Liquidität helfen nicht, wenn sich Investitions- und Konsumneigung nicht ändern. Vor allem aber hilft zusätzliche Liquidität zu geringen Zinsen nicht, wenn die Unternehmen nicht investieren (wollen), weil sie nicht von einer profitablen Konstellation der kommenden Jahre überzeugt sind. Die Niedrig-Zinspolitik ist in den Finanzinstituten und der Politik daher umstritten.
Die Triade von USA, Japan und Europa wächst seit 2007 nurmehr in schleppendem Tempo. Faktisch wäre es angebrachter von Stagnation zu sprechen. Ein Beispiel für Schönrednerei ist die Konjunktureinschätzung von Wirtschaftsminister Philipp Rösler. Der Wirtschaftsminister argumentiert: Die Konjunkturflaute im vierten Quartal sei eine »kurzfristige« Erscheinung. Er erwartet für 2012 ein deutsches Wirtschaftswachstum von etwa 0,75%. Das Schlussquartal dürfte demnach das Wachstum im Gesamtjahr 2012 weniger stark beeinträchtigt haben als von Volkswirten bisher erwartet. 2011 war die deutsche Wirtschaft noch stark um 3,0% gewachsen. Wegen der Folgen der Euro-Schuldenkrise war 2012 allgemein mit einem deutlichen Abflauen der Konjunktur in der größten Volkswirtschaft der Eurozone gerechnet worden.
Die europäische Zentralbank schätzt im Dezember 2012 das Jahreswachstum des realen BIP 2012 in der Euro-Zone zwischen -0,6 % und -0,4 %. Zugleich weist die EZB die Warnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zurück, die vor einem »Kaputtsparen« hoch verschuldeter Länder warnt. Sie widerspricht der Einschätzung des IWF, dass eine Kürzung von Staatsausgaben das Wirtschaftswachstum so stark schädigen könne, dass das Haushaltsdefizit des Staates steigt, anstatt zu sinken. Eine gut ausgestaltete Haushaltskonsolidierung führe zu einer dauerhaften Verbesserung des strukturellen Finanzierungssaldos, während eine mögliche Verringerung des Wirtschaftswachstums nur vorübergehend wirksam sei. »Die Konsolidierung der Staatshaushalte hat einen günstigen Einfluss auf die Entwicklung der gesamtstaatlichen Schuldenquote, was gegenwärtig wichtiger denn je ist, um das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen im Euro-Währungsgebiet und darüber hinaus wiederherzustellen.«
Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) unterstreicht ebenfalls, dass das schleppende Wirtschaftswachstum nur durch eine andere Wirtschaftspolitik überwunden werden kann. Substanzielle Fortschritte bei der Bewältigung der Krise im Euroraum seien nur möglich, wenn die Wirtschaftspolitik der EU-Staaten 2013 von einem wachstumshemmenden auf einen wachstumsfördernden Kurs umsteuert. Voraussetzung dafür sei ein Ende der überharten Sparprogramme in den Euro-Krisenländern, weil diese dort die staatlichen Schuldenstände mittlerweile sogar eher erhöhen als reduzieren.
»Trotz der Erkenntnis, dass die Austeritätspolitik die Wirtschaft bremst und damit auch den Konsolidierungserfolg infrage stellt, planen von den elfgrößten Euroländern mit Ausnahme Deutschlands alle in diesem Jahr weitere – teilweise drastische – Einschnitte in ihren öffentlichen Haushalten . Für den Euroraum insgesamt dürfte der fiskalische Impuls -1,4 % des BIP betragen und damit nur geringfügig niedriger sein als im vergangenen Jahr (-1,7 %). Die Krisenländer unternehmen dabei noch einmal deutliche Sparmaßnahmen, aber auch Österreich, die Niederlande und Finnland planen Konsolidierungsmaßnahmen in nennenswertem Umfang.
Infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Schuldenstände und Defizite der Euroländer dramatisch zugenommen. Der durchschnittliche Schuldenstand ist im vergangenen Jahr auf über 90 % des BIP gestiegen und übersteigt das Vorkrisenniveau damit um 25 Prozentpunkte.« (IMK-Report Januar 2013) Die deutsche Wirtschaft werde sich in diesem Jahr über Wasser halten können, so die These von Gustav Horn, dem Direktor des IMK. »Doch die Rezession im Euroraum hängt ihr wie ein Gewicht an den Füßen.«
Ein Großteil der Ökonomen sieht als Ursache des schleppenden Wirtschaftswachstums die Rekordschulden, sowohl öffentliche als auch private, und das Platzen dieser Schulden- und Vermögensblase in den letzten Jahren seit 2007. Die Summe aller Schulden in den 18 Kernländern der OECD habe 1980 noch 160% des gesamten BIP betragen. Im Jahr 2011 sei diese Quote auf 321% angestiegen. Inflationsbereinigt hätten Regierungen heute mehr als viermal so viele Schulden, private Haushalte mehr als sechsmal so viele Schulden und Nicht-Finanz-Unternehmen mehr als dreimal so viele Schulden wie 1980.
In den letzten Jahren seit 2007 sei ein Großteil der Schulden nur aufgenommen worden, um Vermögensverluste abzufangen und das überdimensionierte Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren. Die seit der großen Krise aufgenommenen Schulden führten tatsächlich zu immer geringerem Wachstum. Sie würden letztlich nur eingesetzt, um ein Auseinanderbrechen des Systems zu verhindern. Die Indizien sprechen dafür – so Kenneth S. Rogoff in seinem Beitrag»Innovationskrise oder Finankrise« aus dem Januar 2013 –, »dass die gebremste Weltkonjunktur primär die Folgen einer tiefen systemischen Finanzkrise widerspiegelt und keine langfristige säkulare Innovationskrise.«
In der zweiten Krisenphase nach der Abwendung der Implosion des Finanzsystems, in der sich viele Länder immer noch befinden, müsse die Wirtschafts- und Finanzpolitik die Strategie wechseln. In dieser Phase müssen die Bilanzen gesunden und Schuldenüberhänge abgetragen werden, um wieder die Basis für einen selbsttragenden Akkumulationsprozess zu schaffen. Verlustrealisierungen, Rekapitalisierungen und Abwicklungen stehen daher vor allem auf der Agenda.
All jene, die einen solchen Kurswechsel fordern, nehmen daher auch eine neue Krisenentwicklung in Kauf, wie Martin Lanz in der NZZ vom 5.1.2012 notiert: »Engagieren sich Zentralbanken in dieser Krisenlösungsphase trotzdem mit immer aggressiveren Massnahmen, so wird durch die Nullzinsen und Wertpapierkäufe der Zustand der Bilanzen vernebelt, werden die Überkapazitäten im Finanzsektor aufrechterhalten und neue Preisblasen gefördert, kurz: Märkte werden verzerrt und Marktsignale ausgeschaltet. Es ist Zeit für die Zentralbanken, den Weg für den letztlich unvermeidlichen Strukturwandel freizumachen.« Würde dies freilich umgesetzt, wäre eine erneute schwere Wirtschafts- und Finanzkrise sehr wahrscheinlich.
Die expansive Geldpolitik der Notenbanken ist mittlerweile als Vorgehensweise weithin akzeptiert, um in der akuten Krisenkonstellation eine Zerstörung der Zahlungsketten, die sich verstärkende Entwertung der Vermögenstitel und die Implosion des Finanzsystems zu verhindern. Aber für die weitere Entwicklung wird die Wirksamkeit dieser expansiven Geldpolitik häufig in Zweifel gezogen.
Gut fünf Jahre, nachdem die Welt in den Nachwehen der globalen Finanzkrise ganz unten angekommen war, sind die Folgen der quantitativen Lockerung erstaunlich asymmetrisch. Die massiven Liquiditätsinjektionen waren zwar wirksam, als es darum ging, die Kreditmärkte wieder freizugeben und die Welt aus der Krise zu holen, aber die nachfolgenden Bemühungen haben nichts hervorgebracht, was auch nur annähernd mit einer normalen zyklischen Erholung der Kapitalakkumulation vergleichbar wäre.
Wir haben, global betrachtet, ein hohes Angebot an Sparkapital von natürlichen Personen und von Unternehmen, die Gewinne einbehalten. Dem Sparkapital stehen als Gegenposten die privaten Investitionen und die Staatsschulden entgegen. Die privaten Investitionen sind seit Jahren nicht ausreichend, um das Sparkapital aufzunehmen. Die schwache Konjunktur verstärkt diese Tendenz. Wir haben eine Unterauslastung der Kapazitäten, weil die Spartätigkeit so hoch ist und es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage fehlt, um die Kapazitäten auszulasten.
Weil die private Kapitalnachfrage geringer ist als das Kapitalangebot, muss sich der Staat verschulden, um den Kapitalüberschuss aufzunehmen, damit die privaten Haushalte ihre Ersparnisse, wenn auch vielleicht nicht verzinslich, aber doch wenigstens sicher, anlegen können.
Der Grund ist nicht schwer zu verstehen. Stark eingeschränkt durch die Schäden an privaten und öffentlichen Bilanzen und mit den Zinssätzen um Null, befanden sich die Volkswirtschaften nach der Blase in einer klassischen Liquiditätsfalle. Sie konzentrieren sich jetzt eher auf die Rückzahlung massiver Schuldenüberhänge, die sich vor der Krise angehäuft haben, als darauf, neue Schulden aufzunehmen und die Gesamtnachfrage anzukurbeln.
Auch die EZB hat keinen Grund, mit ihrer eigenen quantitativen Lockerung zufrieden zu sein. Trotz einer Verdoppelung ihrer Bilanzsumme auf etwas mehr als drei Bio. Euro (vier Bio. US-Dollar), ist Europa zum zweiten Mal in fünf Jahren in die Rezession gerutscht. Die Maßnahmen der EZB haben hinsichtlich der Umsetzung von lang erwarteten strukturellen Veränderungen im Wirtschafts- und Währungsraum wenig erreicht. Krisengeschüttelte Ökonomien an der europäischen Peripherie leiden noch immer unter einer nicht haltbaren Schuldenbelastung und einem ernsthaften Produktivitäts- und Wettbewerbsproblemen. Und ein fragmentiertes europäisches Bankensystem bleibt eines der schwächsten Glieder der regionalen Kette.
Der starke Trend zur Entschuldung der privaten Haushalte und des Bankensektors wird mit einer extrem expansiven Geldpolitik abgemildert. Die Markteingriffe der Notenbanken bei den Zinsen, und der Versuch der kompletten Steuerung der Zinsstrukturkurve haben eine geringe Wirkung. Die Alternative wäre ein öffentlich finanziertes uns gesteuertes Investitionsprogramm, mit dem auch die Schuld- und sonstigen Eigentumstitel neu proportioniert werden müssten.
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