Herausforderungen für die internationale Solidarität

Von: Prof. Dr. Christoph Scherrer

16.01.2013 / DGB gegenblende, 15.01.2013

Gegenwehr im Zeitalter der Globalisierung erfordert grenzüberschreitende Solidarität, doch diese stellt sich nicht von selbst ein. Auf allgemeinster Ebene können die Auswirkungen der Globalisierung als eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der mobileren Elemente in der Gesellschaft gewertet werden. Mobilität verschafft den einzelnen Akteuren eine weitere Option, nämlich die Möglichkeit den jeweiligen Ort zu verlassen (Exit-Option). Dies bedeutet, dass sich die Angewiesenheit auf andere gesellschaftliche Kräfte verringert und entsprechend die Verhandlungsmacht wächst. Mit Ausnahme der hoch qualifizierten Arbeitskräfte, die sich bei entsprechender Mobilität ihre am Markt knappen Fähigkeiten gut bezahlen lassen können, wird die Masse der Bevölkerung gleich doppelt negativ von dieser Kräfteverschiebung betroffen. Zum einen als Lohnabhängige, denn ihre familiären Einbindungen benachteiligen sie mobilitätstechnisch gegenüber dem Kapital. Ihnen können lohn- und arbeitszeitpolitische Zugeständnisse abgerungen werden. Zum anderen als Bürgerinnen und Bürger territorialer Gemeinwesen, die per Definition nicht mobil sind und somit der Exit-Optionen wenig entgegenhalten können. Als solche steigt ihr Anteil an der Steuerlast bei gleichzeitigen staatlichen Leistungskürzungen. Nur durch Absprachen zwischen den jeweils weniger mobilen Kräften kann dieser Kräfteverschiebung begegnet, ein Gegeneinanderausspielen verhindert werden. Somit lautet die allgemeinste Antwort auf die Machtverschiebung im Zuge der Globalisierung: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«.

Der Umsetzung dieses Imperativs des kommunistischen Manifests von 1848 stehen jedoch nicht nur die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensumstände der Lohnabhängigen weltweit entgegen, sondern auch die konkreten vielfältigen Schattierungen der Globalisierung, die auf der obig gewählten allgemeinsten Ebene bewusst ausgeblendet wurden. Sie sorgen für Interessenunterschiede oder gar Interessengegensätze. Diese Schattierungen ergeben sich vor allem aus der weltmarktbedingten Erhöhung der Arbeitsproduktivität und aufgrund von Mobilitätsunterschieden.

Wohlstandsgefälle

Eine Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung und damit der jeweiligen Spezialisierung sowie der sich daraus sich ergebende Wettbewerbsdruck steigert die Arbeitsproduktivität. Steigende Arbeitsproduktivität ist die Quelle materiellen Reichtums, sie erhöht Verteilungsspielräume. Wem diese Spielräume jedoch zugute kommen, hängt in komplexer Weise von Macht und Knappheit ab. Trotz rasanter Industrialisierung hat die Masse des globalen Südens einkommensmäßig noch lange keinen Anschluss an den Norden gefunden. Zum einen ist dies die Folge des Angebotsschocks an Arbeitskräften auf dem Weltmarkt durch die Öffnung zuerst von China, dann aller Gebiete unter ehemals sowjetischem Einfluss und schließlich Indiens. Somit wuchs der weltweite Pool an Arbeitskräften nicht nur durch die klassische Freisetzung der in der traditionellen Landwirtschaft gebundenen Arbeitskräfte, sondern durch die Einbringung bisher abgeschotteter industrieller Belegschaften in den Weltmarkt. Entsprechend erhöhte sich die Konkurrenz nicht nur für gering qualifizierte Arbeitskräfte. Selbst in einzelnen Bereichen des Ingenieurswesens kam es zu einem Überangebot an Arbeitskräften.

Zum anderen nutzen die alten kapitalistischen Industrieländer ihre Finanzmacht, ihr in Markenartikel eingebrachtes kulturelles Kapital (»branding«), ihren Wissensvorsprung und ihre Regelsetzungsmacht in den weltwirtschaftlichen Foren zur Sicherung des Wohlstandsgefälles aus. Der weltweite Patentschutz ist für diese Abstandhaltung besonders wichtig, denn er schreibt den Wissensvorsprung auf Jahre fest. Freilich gelingt einigen Regionen des Südens das Aufholen zumindest in den unteren und mittleren Wertschöpfungssegmenten. Zugleich wird die Bevölkerung des Nordens zunehmend weniger an dem aus dem Vorsprung gewonnenen Reichtum beteiligt. Dies ist besonders augenfällig in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Deutschland weitet sich mittlerweile die Einkommensschere. Mithin stagniert insgesamt der Verteilungsspielraum.

Gewerkschaftliche Solidarität

Für die Entwicklung grenzüberschreitender gewerkschaftlicher Solidarität stellen diese Trends eine große Herausforderung dar. Soweit Lohnniveauunterschiede dank eines weiterhin bestehenden Produktivitätsgefälles aufrechterhalten werden können, besteht für die Gewerkschaften des Nordens kaum ein Anreiz ins Gespräch mit den Beschäftigten des globalen Südens zu kommen. Wird zudem das Produktivitätsgefälle politisch beispielsweise durch Patente gestützt, besteht sogar ein potenzieller Interessenkonflikt. Entscheiden sich Gewerkschaften für die Ausdehnung bzw. Verteidigung des Patentschutzes, dann stellen sie sich gegen Bestrebungen im Süden, bessere Positionen innerhalb der Wertschöpfungsketten zu erringen. Bündnispolitisch ist dies nicht unproblematisch.

Insofern sich jedoch die Arbeitsproduktivitäten angleichen, geraten die gewerkschaftlichen Mitglieder in eine strukturelle Konkurrenz zu ausländischen Belegschaften. Wird erst dann das Gespräch gesucht, kann leicht der Appell an gewerkschaftliche Solidarität ungehört verpuffen. Die Möglichkeit, Produktivität durch arbeitsorganisatorische Veränderungen zu Lasten der Beschäftigten (z. B. durch längere Maschinenlaufzeiten) zu erhöhen, versetzt bereits die Belegschaften des Nordens in eine strukturelle Konkurrenz zu einander. Solche Veränderungen kommen einer Aufgabe bisheriger arbeitspolitischer Errungenschaften gleich, die den Druck auf jene Belegschaften erhöht, die solche organisatorischen Maßnahmen noch nicht akzeptiert haben. Wenn auch jene dem Druck erlegen sind, steht eine neue Runde von tarifpolitischen Zugeständnissen an.

Während die Gefahr einer solchen Abwärtsspirale seit langem diskutiert wird, sind die Auswirkungen der deutschen Exportweltmeisterstrategie erst vor kurzem Gesprächsstoff aufgeklärter GewerkschafterInnen geworden. Zu DM-Zeiten konnten sich die westeuropäischen Nachbarländer noch durch Abwertung ihrer Währungen ein Stück weit der deutschen Konkurrenz erwehren, doch im Zeitalter des Euro sind sie dieser Konkurrenz voll ausgesetzt. Auch dies ist natürlich grenzüberschreitender Solidarität abträglich. Angesichts der manifesten Krise des Euros, und damit Europas, besteht vielleicht derzeit ein günstiger Moment über diesen Aspekt des Modell Deutschlands neu nachzudenken. Mit Gewerkschaften der anderen europäischen Mitgliedsstaaten könnten wirtschaftspolitische Alternativen für die Europäische Union erdacht werden, die über eine Kritik an der europäischen Notenbank hinaus weisen und die jeweiligen Standortkonkurrenzstrategien kritisch in den Blick nehmen.

Erste, noch unzureichende Antworten

Im europäischen Raum sind erste institutionelle Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit durch die Europäischen Betriebsräte geschaffen worden. Sie werden zunehmend mit Leben gefüllt, d.h. als Foren zur Entwicklung gemeinsamer, grenzüberschreitender Strategien gegenüber der Kapitalseite, insbesondere bei Standortentscheidungen. Sie werden ergänzt um sogenannte GUF-Netzwerke, die von den Global Union Federations zur Vernetzung gewerkschaftlicher FunktionärInnen in einzelnen Konzernen unterstützt werden. Allerdings reichen die Mittel der GUFs nicht zur Verbreiterung und Verstetigung dieser Netze aus. BasisaktivistInnen haben mit viel Engagement vereinzelt eigene Netze gesponnen, die insbesondere dann erfolgreich waren, wenn sie Themen aufgriffen, die von allgemeiner gesellschaftspolitischer Relevanz waren (z.B. Anti-Apartheid) und wenn es ihnen gelang, Betriebsräte oder Gewerkschaften einzubinden. Auf Weltebene sind in den letzten Jahren zahlreiche Internationale Rahmenabkommen zwischen transnationalen Unternehmen und den Global Union Federations abgeschlossen worden, die die Unternehmen verpflichten Kernarbeitsnormen innerhalb ihre Tochterunternehmen einzuhalten und darüber hinaus sicherzustellen, dass auch fremde Zulieferungen unter Achtung dieser Rechte hergestellt werden. In einigen Fällen konnten unter Berufung auf die Abkommen, Arbeitsnormen auch bei Zulieferern gesichert werden, doch insgesamt ist noch unklar, ob dieses Instrument tatsächlich auf breiter Front angewendet werden kann. US-Gewerkschaften versuchen derzeit ihr durchaus bewährtes Konzept „strategischer Kampagnen“ gegen besonders gewerkschaftsfeindliche Unternehmen zu transnationalisieren. Kooperierende Gewerkschaften in anderen Ländern fühlen sich bei diesen Kampagnen leicht instrumentalisiert. In der Tat stecken die bisher grenzüberschreitend gemeinsam unternommenen Aktivitäten nur ein kleines Spektrum möglicher aber auch notwendiger Solidarität ab. Sie erstrecken sich zum einen auf Informationsaustausch und zaghafte Koordination zwischen Produktionseinheiten innerhalb einzelner transnationaler Konzerne und zum anderen, wo sie über diese Konzerne hinaus reichen, bleiben sie auf untersten Anspruchsniveau, nämlich beschränkt auf die Durchsetzung des Völkerrechts, sprich den Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Nur selten reichen gewerkschaftliche Aktivitäten darüber hinaus, wie z.B. die der europäischen HafenarbeiterInnen.

Diese wenigen Ausführungen sollten ausreichen, um die komplexen Interessenlagen bezüglich des Weltmarktes deutlich werden zu lassen. Der Weltmarkt verschärft die strukturelle Konkurrenz unter den abhängig Beschäftigten. Die Standardantwort lautet leider zu häufig noch ein Bündnis mit Unternehmen und Staat auf betrieblicher, regionaler oder nationaler Ebene. Doch all diese bekräftigen nur die strukturelle Konkurrenz. Grenzüberschreitende Bündnisse beginnen erst zaghaft sich zu entwickeln und bleiben zumeist auf Konzernbelegschaften oder die absoluten Mindestrechte begrenzt. Eine Einflussnahme auf die die strukturelle Konkurrenz erwirkenden Rahmenbedingungen steht konzeptionell noch am Anfang. Wie müssten die Regeln der Weltwirtschaft aussehen, damit die Lohnabhängigen nicht systematisch in Konkurrenz zueinander gesetzt werden? Und wie können diese Regeln für eine sozialverträgliche Weltwirtschaft durchgesetzt werden? Die Sozialforen in Porto Allegre und anderen Orten haben die Debatte eröffnet, doch die Antworten stehen noch aus. Einen kleinen Beitrag hierzu versuchen wir in Kassel gemeinsam mit der Hochschule für Wirtschaft in Berlin mit einem internationalen Masterstudiengang Labour Policies and Globalisation zu leisten, der mit Unterstützung der ILO, des DGB und den Stiftungen FES und HBS GewerkschaftsaktivistInnen aus aller Welt an eine Analyse dieser Rahmenbedingungen heranführt.