Mit Niedrigzinsen und öffentlichen Investitionen aus der Deflation? Japans Konjunkturprogramm

Von Joachim Bischoff

05.02.2013 / sozialismus.de, vom 03.02.2013

Seit dem Platzen der Immobilien und Vermögensblase 1989/90 ist Japan von rückläufiger Teuerung (Deflation) und geringem Wirtschaftswachstum oder Stagnation der wirtschaftlichen Leistung geprägt. Die jahrzehntelang regierende liberaldemokratische LDP hat über massive Konjunkturprogramme immer wieder versucht aus dieser Blockade der Akkumulationsdynamik auszubrechen — ohne Erfolg.

Das Ergebnis war ein starker Anstieg der Staatsverschuldung, aber keine Rückkehr des Wachstums. Gleichwohl: Japan gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Das BIP stammt zu 74,3% aus dem Dienstleistungssektor, zu 24,2% aus der Industrie, zu 1,5% aus Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Bergbau. Aber die Stagnation befördert langsam, aber sicher Konflikte über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Der im Dezember 2012 neugewählte Ministerpräsident Shinzō Abe hat jetzt einen neuen Anlauf gestartet und durchgesetzt, dass die seit längerem vorfolgte Strategie des billigen Geldes der Notenbank (BoJ) durch eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben um etwa 100 Mrd. Euro oder 2% des BIP ergänzt werden. Warum er und seine Berater glauben, dieser neue Versuch würde zu einem dauerhaften realen BIP-Wachstum von 2% jährlich führen, ist ungeklärt. Die 100 Mrd. Euro sind (wenn sie so schnell ausgegeben werden können) voraussichtlich nur für dieses Jahr vorgesehen.

Der größte staatliche Konjunkturimpuls seit Ausbruch der Krise Ende der 1980er Jahre hat ein Volumen von umgerechnet fast 90 Mrd. Euro. Es soll unter anderem Mittel für Investitionen in öffentliche Infrastruktur, Hilfen für kleine Firmen und Anreize zu Investitionen umfassen. Zu diesem gesamtstaatlichen Regierungsprogramm kommen weitere Finanzmittel, die von Kommunen und privaten Firmen aufgebracht werden sollen, so dass das Konjunkturprogramm nach Angaben von Regierungsvertretern ein Volumen von gut 170 Mrd. Euro erreichen soll.

Zugleich ging die Bank of Japan (BoJ) unter politischem Druck zu einer expansiven Politik über: Sie hat zwei gewichtige Änderungen in ihrer Geldpolitik beschlossen. Zum einen erhöht sie ihr Inflationsziel von 1% auf 2%. Zum anderen hat sie angekündigt, das Programm zum Ankauf von Wertpapieren ohne zeitliches Limit weiterzuführen. Japans Notenbank kauft im Rahmen dieses Programm seit Oktober 2010 diverse Wertpapiere auf. Mit der neuen Inflationszielsetzung von 2% zeigt die BoJ ihren Willen, dem sinkenden Preisniveau ein Ende zu bereiten. Das ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, um die Deflation hinter sich zu lassen.

In einer gemeinsamen Erklärung bekräftigten Regierung und BoJ ihre gemeinsamen Anstrengungen beim Kampf gegen die Deflation und wiesen darauf hin, dass die Fortschritte in der Wirtschaftspolitik – einschließlich der geldpolitischen Maßnahmen – regelmäßig überprüft würden. Mit der Ausgabe von Staatsanleihen finanziert die japanische Regierung seit Jahren mehr als die Hälfte des Staatshaushalts, überwiegend mit Ersparnissen der Bevölkerung. Nun soll die Notenbank »unbefristet« Staatsanleihen kaufen und damit die Notenpresse auf Hochtouren bringen, die Geldschleusen noch weiter öffnen als bisher. Die Zinsen liegen seit Jahren bei der Null-Linie, Anleihen – vor allem Staatsanleihen – werden in so großem Stil aufgekauft, dass man von einer Monetarisierung der gigantischen japanischen Staatsschuld sprechen muss.

Die unmittelbare Konsequenzen der jüngsten Intervention: Anstieg der Vermögenspreise und Abwertungstendenz des Yen. Zwar ist die teilweise zu lesende Einschätzung von der Eröffnung eines Währungskrieges maßlos übertrieben. Richtig bleibt aber, dass die japanische Währung gegenüber Dollar und Euro signifikant an Wert verliert. In Tokio wurde sie zum ersten Mal seit Juni 2010 wieder mit rund 92 Yen zum Dollar gehandelt. Der Euro kostete 125 Yen, auch das ein seit langem nicht erzielter Wert. Vor allem diesem deutlich schwächeren Yen ist auch die Euphorie an der Börse zu verdanken

Wie die US-Notenbank und die Bank of England ist also auch die Bank of Japan seit Januar 2013 zu einer expansiven Geldpolitik übergegangen. Mit dem so genannten Quantitative Easing weiten sie die Geldmenge nach wie vor aus, in der Absicht, die Wirtschaft anzukurbeln. Die BoJ hat zudem klar die Absicht, den Yen zu schwächen und Japan endlich aus der schwachen Deflation zu führen. Geldpolitische Maßnahmen alleine werden aber nicht reichen, der Deflation zu entkommen. In einer stagnierenden Wirtschaft wird es schwierig, die Deflationserwartungen zu brechen. Daher ist die Regierung zu einem offensiven Investitionsprogramm übergegangen.

Die neue japanische Regierung erwartet Dank ihren massiven staatlichen Hilfsprogrammen und der aggressiven Geldpolitik der Bank of Japan bereits im laufenden Jahr einen deutlichen Wachstumsschub. Sie erhöhte ihre Wachstumsprognose für das am 1. April beginnende Fiskaljahr 2013 kräftig und hob sie auf real 2,5% an.

Der Grund für die deflationäre Entwicklungstendenz ist der hoch entwickelte Kapitalstock; jede Neuanlage von Kapital läuft jedoch auf eine Verschärfung des Konkurrenzkampfes hinaus. Der Kapitalstock ist für die japanischen Märkte überdimensioniert. Renditeträchtige Anlagemöglichkeiten sind kaum vorhanden. So fließt ein erheblicher Teil des anlagesuchenden Kapitals etwa als Kredite oder Anleihen in Branchen, die sich bereits in einem intensiven Preiskampf befinden und in die unter normalen Umständen nicht weiter investiert werden würde. Mit dem günstig verfügbaren Geldkapital sind in zahlreichen Branchen so viele Wettbewerber entstanden, dass die Preise weiter unter Druck geraten. Dieser Zusammenhang wird durch die dauerhafte Niedrigzinspolitik der Notenbank verschärft.

Mit einem Konjunkturprogramm, das über den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur auf eine weitere Modernisierung des Kapitalstocks zielt, wird die Wettbewerbsfähigkeit auf den Auslandsmärkten verbessert, aber die Akkumulationsbremse nicht dauerhaft gelockert. Der Schlüssel zum Erfolg läge auch in Japan in einer Abkehr von der angebotsorientierten hin zur nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik. Durch Stärkung der Binnenkaufkraft, mehr Konsum und eine andere Verteilung der Zeit, statt Investition und einer Neutralisierung der bislang hochgradig positiven Handelsbilanz, könnte Japan einen Ausweg aus der Stagnation einleiten.

Der Zinssatz der japanischen Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit beträgt aktuell weniger als 1% – und ist damit trotz sehr hoher Staatsschulden und jährlicher Haushaltsdefizite der niedrigste der Welt. Tatsächlich betragen die Schulden des öffentlichen Sektors Japans momentan ca. 230% des BIP; die Gesamtverschuldung liegt bei über 500%. Damit ist die Verschuldungsrate des öffentlichen Bereiches höher als die von Griechenland (175% des BIP) und fast doppelt so hoch wie die von Italien (125%). Das jährliche Haushaltsdefizit liegt bei fast 10% des BIP und damit höher als in jedem Land der Eurozone. Bei stagnierendem Wirtschaftswachstum führt das Defizit zu einer jährlichen Steigerung des Verhältnisses der Schulden um zehn Prozentpunkte.

Die Schwächung des Yen verbessert ohne Zweifel die Exportchancen, führt aber auch zu höheren Importkosten und damit zu einer höheren Inflationsrate. Eine aggressive Geldversorgungspolitik der Bank von Japan soll also den Wechselkurs des Yen nachhaltig zu schwächen. Diese Strategie zielt darauf, dass die Japaner aus Furcht vor einer Geldentwertung endlich wieder mehr konsumieren und das Land damit aus der Deflation mit Jahr für Jahr leicht sinkenden Preisen führen. Zu einem dauerhaften Aufschwung soll dann der schwächere Yen verhelfen, der ebenfalls eine Folge aggressiver Geldpolitik ist. Dadurch könnten die japanischen Exportunternehmen wieder wettbewerbsfähiger werden.

Offen ist freilich, wie die anderen ökonomischen Großmächte auf diese politische Operation zur Veränderung des japanischen Wechselkurses reagieren. Eine solche Politik kann auf mittlere Sicht nur Erfolg haben, wenn auch umfassende Strukturreformen in Japan eingeleitet würden; diese müssten auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zielen. Diese zeichnet sich nicht ab, stattdessen wird die Regierung mit gigantischen schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen vor allem der Bauindustrie zu einer neuen Blüte verhelfen, die die Akkumulationsbremse nicht außer Kraft setzen kann.

Die Hoffnung, dass eine tiefes Zinsniveau und umfangreiche Konjunkturpakete Japan aus der Stagnation herausführen, wird sich nicht erfüllen. Die Wachstumsraten werden nach kurzem Aufblühen weiter tief bleiben. Den Preis für die schleichende Schwächung der Währung und die Verstärkung der Überkapazitäten im japanischen Unternehmenssektor wird in Form von sinkenden Realeinkommen von den japanischen BürgerInnen gezahlt. Insbesondere die Nullzinspolitik, die die Signal- und Allokationsfunktion des Zinses außer Kraft setzt, erhöht die Gefahr, dass strukturelle Verzerrungen im Kapitalstock zementiert werden. Mit dem tendenziellen Rückgang des Zinsniveaus in Japan lässt sich keine Revitalisierung der Kapitalakkumulation auf den Weg bringen.