Keine Mehrheiten für gespaltenes Europa

Von Richard Detje

18.05.2013 / aus: sozialismus.de, 17.05,2013

Das Projekt Europa – gibt es das eigentlich noch? Keine rhetorische Frage. Ökonomisch ist die Europäische Union und ihr Kern, der Euro-Club, tief gespalten. Und politisch hat die EU keine Mehrheit mehr hinter sich. Nur 45% der Bevölkerung aus acht Mitgliedstaaten stehen dem Projekt heute noch positiv gegenüber. Im vergangenen Jahr waren es noch 60% – ein Absturz, wie das PewResearchCenter in einer aktuellen repräsentativen Umfrage ausweist.[1]

Mehr noch: Am stärksten fiel der Absturz in Frankreich aus – um 19 Punkte auf 41% und damit unterhalb des Werts der traditionell europaskeptischen Britten! Umso krasser der Gegensatz zu Deutschland, das eine Sonderentwicklung aufweist: 60% Zutrauen zur EU – nur noch übertroffen von Polen – mehrheitlich der Auffassung, dass die europäische Integration der eigenen ökonomischen Entwicklung förderlich ist, relative Stabilität der politischen Elite.

Zu sozio-ökonomischer Nord-Süd-Spaltung, skandinavischer Wohlfahrtssicherung und angelsächsischer Abgrenzung gesellen sich die politischen Brüche des früheren Rheinischen Kapitalismus – lange das Kraftzentrum der wirtschaftlichen und politischen Integration. Selbst Sonntagsreden über die Zukunft Europas fallen da schwer.

Das Tempo des politischen Erosionsprozess wird vorgegeben von der Großen Krise. Ein Europa, dass seit eineinhalb Jahren nach einer nur kurzen Erholung in ein zweites Krisental (double dip) abgesackt ist, setzt zentrifugale Kräfte frei. Während die ökonomischen Bedingungen in Deutschland von 75% der Bevölkerung als »gut« eingeschätzt werden (im Vergleich 2007: 63%), liegen die Werte für Griechenland (1%), Italien (3%), Spanien (4%) und Frankreich (9%) im einstelligen Bereich. In Frankreich sehen nur noch 22% der Bevölkerung, in Italien nur noch 11% ökonomische Vorteile in der Integration – in Deutschland hingegen eine Mehrheit von 54%. Und das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Organisationen wie der Internationale Währungsfonds – zugleich Akteur in der Troika – und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung gehen davon aus, dass auch in der mittleren Frist bis 2018 Vorkrisenniveaus der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion nicht erreicht sein werden. Ein verlorenes Jahrzehnt in Europa.

Dass 90% der Franzosen und annähernd drei Viertel der Briten und Italiener davon ausgehen, dass ihre Kinder künftig mit weniger werden auskommen müssen und es schwerer haben werden, hat nicht nur diesen rezessiven Hintergrund. In die Bewertung der Zukunftsaussichten fließen systemische Faktoren ein. Dass das »ökonomische System« (nach dessen Formbestimmung als Kapitalismus wurde nicht gefragt) die Reichen bevorzugt, sagen 77% der Bevölkerung in den acht Mitgliedstaaten (mit Spitzenwerten von 95% in Griechenland, 89% in Spanien und 86% in Italien), und dass der Gegensatz von Armut und Reichtum schärfer geworden ist, sogar 85% am höchsten in Spanien mit 95%).

Für vier Fünftel der Bevölkerung ist das Hauptproblem die Arbeitslosigkeit. In sieben der acht in die Befragung einbezogenen Staaten ist eindeutig, dass sich die Regierungen vor allem anderen um eines kümmern sollten: um die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Auch wenn zugleich 71% der Bevölkerung in der öffentlichen Verschuldung und 67% in Inflationsgefahren »sehr große Probleme« sehen, ändert das nichts an den politischen Prioritäten. Für 72% der Spanier, über 60% der Italiener, Tschechen und Polen und über die Hälfte der Griechen und Franzosen hat Beschäftigungspolitik Priorität, während im Vergleich dazu der im politischen Diskurs an erster Stelle gesetzte Abbau öffentlicher Verschuldung mit kaum über 20% deutlich darunter liegt.

Interessant ist das Ausscheren Deutschlands aus diesem Konsens. 42% der Deutschen sehen in der Kluft zwischen Reichtum und Armut das zentrale Gegenwartsproblem. Dafür gibt es eine Erklärung, die nicht nur in der deutlich niedrigeren und im Krisenverlauf kaum gestiegenen Arbeitslosigkeit liegt. Während das obere Fünftel der Italiener über 5,6 mal so viel Reichtum verfügt wie das unterste Fünftel – in Griechenland liegt dieser Wert beim sechsfachen – disponieren die deutschen Top 20 Prozent über 12,8 mal so viel wie das untere Fünftel der Reichtumspyramide. PewResearch stützt sich auf eine Untersuchung der Europäischen Zentralband (De Grauwe/Ji), wonach »Deutschland die am stärksten ungleiche Verteilung des Reichtums von allen untersuchten Nationen Europas aufweist«. Entsprechend das Schwerpunktthema im deutschen Bundestagswahlkampf – wenn auch seiner sozialen Brisanz wiederum erheblich beraubt.

Dennoch fallen politische Schlussfolgerungen nicht leicht. Denn die Botschaften der Befragung sind widersprüchlich. Auf den eindeutigen Primat der Beschäftigungspolitik folgt kein Plädoyer für öffentliche Programme zur Stimulierung der Ökonomie (Ausnahme ist allein Griechenland). Im Vergleich hierzu hat der Abbau öffentlicher Verschuldung eindeutig Vorrang. »Die große Sorge der Bevölkerung hinsichtlich der Arbeitsplätze und ihr starker Wunsch, dass die Regierung Maßnahmen ergreift, um die Beschäftigung auszuweiten, setzt sich nicht um in eine Unterstützung von mehr Ausgaben zur Anfeuerung der Wirtschaft«. Eine paradoxe Konstellation.

Noch ein bemerkenswerter Befund. Während nun auch hierzulande innerhalb der Linken Euro-Ausstiegsmodelle[2] als politische Option gehandelt werden, ist die deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Europa weiterhin dafür, an der Gemeinschaftswährung festzuhalten.

Nur Minderheiten – am stärksten noch in Deutschland und Frankreich – votieren für eine Rückkehr zu einer nationalen Währung. In Italien und Spanien ist die Zustimmung im Vergleich zum vergangenen Jahr sogar noch gestiegen, in Griechenland ist sie mit 69% weiterhin exorbitant hoch. Mit Ausstiegsszenarien wird die politische Linke nicht punkten, eher verlieren.

[1] PewResearchCenter: The New Sick Man in Europe: the European Union vom 14. Mai 2013. Die repräsentative Befragung umfasst folgende Länder: Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Polen, die Tschechische Republik und Deutschland. Durchgeführt wurde sie zwischen dem 2. und 27. März 2013. Das Pew-Forschungszentrum mit Sitz in Washington wird von einer gemeinnützigen Stiftung getragen.
[2] Siehe zu der von Oskar Lafontaine angestoßenen Diskussion: Joachim Bischoff / Björn Radke, Der Euro, neoliberale Austeritätspolitik und DIE LINKE; http://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/der-euro-neoliberale-austeritaetspolitik-und-die-linke/. Wir werden darauf im Juni-Heft von Sozialismus ausführlich eingehen.

Den Artikel mit interessanten statistischen Zahlen finden Sie auf www.sozialismus.de