Portugal: Existenzkrise eines Musterschülers
Redaktion Sozialismus
Portugal galt gemeinsam mit Irland lange Zeit als Musterschüler des ökonomisch-finanziellen Restrukturierungsprogramms von EZB, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF). Kritiker hatten dagegen wiederholt darauf hingewiesen, dass die vordergründigen Erfolgsmeldungen täuschen; die wirtschaftliche Basis der Krisenstaaten in der südlichen Peripherie ist viel zu fragil, um drastische Sparhaushalte unbeschadet überstehen zu können. Jetzt kommt die bittere Wahrheit ans Licht.
Im Mai 2011 wurde Portugal unter den Rettungsschirm der Euro-Zone genommen und erhielt Zusagen für Kredithilfen im Volumen von 78 Mrd. Euro. Die Gegenleistung war ein »Sparprogramm«, das von Vertretern der Troika kontinuierlich überprüft wurde. »Portugal leistet in einer schwierigen Situation eine hervorragende Arbeit«, lobte Schäuble noch Mitte 2012. Der Bundesfinanzminister bezeichnete das Land als »leuchtendes Beispiel« dafür, dass der Ansatz der Stabilisierungspolitik in Europa richtig sei: »Portugal ist auf dem richtigen Weg«.
Auch im Juni 2013 war das Urteil noch recht positiv. Die EU-Kommission betonte in ihrem siebten Quartalsbericht die Fortschritte der Lissaboner Regierung. Zwar hatten die internationalen Geldgeber die Defizitziele gelockert, weil die Rezession in Europa und die harten Sparmaßnahmen auch der portugiesischen Wirtschaft schwer zugesetzt hatten. Aber das Land habe ausreichende Puffer, um seine Finanzierung mindestens bis zum Jahresende problemlos gestalten zu können, erklärte die EU-Kommission am 3. Juli. Das Finanzministerium in Lissabon könne auf eigene Mittel zurückgreifen, um nicht sogleich zur Kreditaufnahme gezwungen zu sein. Zuletzt waren die Renditen für portugiesische Bonds wieder gestiegen, nachdem sie im Mai ein Dreijahres-Tief erreicht hatten. Das Land war erst in diesem Jahr an die Kapitalmärkte zurückgekehrt.
Der IWF äußerte sich hingegen skeptischer: Die Wirtschaftsaussichten seien düster und die Bedingungen für einen Abbau des Schuldenbergs sehr fragil, hieße es Mitte Juni 2013.
Der Musterschüler Portugal präsentiert sich als sozio-ökonomischer Scherbenhaufen. Die konservative Regierung Passos Coelho hat eine rigorose Umsetzung des im Mai 2011 noch unter sozialistischer Regierung vereinbarten Memorandums über den europäischen Hilfskredit vorangetrieben. Während aber der planmäßige Abbau des zu hohen Staatsdefizits trotz immer härteren Konsolidierungsmaßnahmen nicht gelingen wollte, rutschte die Wirtschaft immer tiefer in die Rezession. In der Bevölkerung, bei den Gewerkschaften aber auch im Regierungslager schmolz der Rückhalt für den Austeritätskurs.
Anfang April 2013 hatte das Verfassungsgericht vorgesehene Einsparungen von 1,3 Mrd. Euro gekippt. Die Richter lehnten unter anderem Entlassungen und Einkommenssenkungenn für öffentlich Beschäftigte, die Abschaffung der Sonderzahlungen für Beamte und Rentner sowie Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe und beim Krankengeld ab. Mit diesen Schritten wollte die Regierung ihre Ausgaben um mindestens 900 Mio. Euro verringern. Das Urteil war zudem rückwirkend gültig. Die Regierung in Lissabon musste daraufhin neue Wege finden, um das Etatdefizit zu senken, damit das 78 Mrd.-Rettungspaket nicht zu gefährdet wird.
Eine Besteuerung der 3,5 Mio. Altersrenten sollte die Lösung bringen. Die Unterschiede zwischen den Renten sind sehr groß. Während die Hälfte der ehemaligen Angestellten im öffentlichen Dienst eine Rente von mehr als 1000 Euro erhält, liegen 85% der Altersbezüge in der Privatwirtschaft unter 500 Euro. Premierminister Pedro Passos Coelho hat nun die Einführung einer neuen Abgabe betrieben, die die Rentner aus der Privatwirtschaft ebenso betrifft wie ehemalige Staatsbedienstete, was auch innerhalb der Mitte-Rechts-Koalition umstritten ist.
Ein weiterer wesentlicher Punkt sind Immobilien. Die Troika hat auf die Umsetzung eines neuen Mietgesetzes bestanden. Damit soll der Mietmarkt neu belebt werden. In Portugal wurden Wohnungen in einem viel größeren Umfang als in Deutschland kreditfinanziert gekauft und nicht gemietet. Daraus resultiert ein Teil der Überschuldung portugiesischer Haushalte. Gleichzeitig braucht der Markt neue Anreize zur Instandhaltung der Gebäude. Laut Schätzungen sind rund 1,9 Mio. Objekte in einem schlechten Zustand, über 300.000 müssten sofort saniert werden. Das neue Mietgesetz regelt auch gewerbliche Verträge. Ob Cafés, Boutiquen oder Einzelhandel – viele portugiesische Betriebe müssen mit einer saftigen Erhöhung ihrer Mietkosten rechnen. Nach Steuererhöhungen, gestiegenen Energiepreisen und immer schwierigerem Zugang zu Krediten könnten Wuchermieten nun der Todesstoß für das Gewerbe sein.
Ein neues Mietgesetz wurde seit vielen Jahren im politischen Raum erörtert, aber nie umgesetzt. Denn die Reform schürt soziale Konflikte. Viele Mieter mit sehr günstigen Vertragsbedingungen sind alt, arm oder beides. Das Gesetz hat Ausnahmeregelungen geschaffen: Mieter, die über 65 Jahre alt oder behindert sind, dürfen ihre alten Verträge behalten. Jüngere Anwohner mit geringem Einkommen sind zwar fünf Jahre lang vor Wucherpreisen gesetzlich geschützt. Dennoch werden die Mietpreise von vielen sozial schwächeren Portugiesen so stark ansteigen, dass ihnen nur eine Möglichkeit bleibt: Sie müssen ihre Wohnung aufgeben. Die eingefrorenen Mieten waren auch Teil einer versteckten sozialen Wohnpolitik. Die Regierung hat eine Kommission beauftragt, Lösungsvorschläge für die vielseitigen Konflikte zu erarbeiten.
Da die wirtschaftliche Entwicklung negativ verläuft und die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordhoch von 18% gestiegen ist, haben die EU-Aufsichtsinstanzen Portugal mehr Zeit eingeräumt. Im März 2013 wurden die Defizitziele heruntergesetzt. Demnach soll das Land sein Haushaltsdefizit im Vergleich zur Wirtschaftsleistung in diesem Jahr auf 5,5% (von 6,4% in 2012) senken und im kommenden Jahr auf 4%. Portugal steckt das dritte Jahr in Folge in der Rezession. Das ist die längste Durststrecke seit 1970. In diesem Jahr wird ein Rückgang von 2,3% erwartet, nach 3,2% in 2012.
Doch die Austeritätspolitik macht die Sanierung der öffentlichen Finanzen zunichte. Das Haushaltsdefizit in Portugal ist in den ersten drei Monaten dieses Jahres erneut gestiegen. Es liegt bei 4,2 Mrd. Euro, entsprechend 10,6% des vierteljährlichen Bruttoinlandprodukts (BIP), gegenüber 7,9% im ersten Quartal 2012. Ins Gewicht fiel dabei unter anderem eine aus dem Notkredit finanzierte Kapitalspritze von 0,7 Mrd. Euro für das defizitäre Geldinstitut Banif. Ohne diesen Posten ergäbe sich ein Defizit von 8,8%.
Die Regierung setzte ihre Hoffnung neben der Besteuerung der Altersrenten auf einen Anstieg der Einnahmen aus direkten Steuern um 21,8% in den ersten fünf Monaten des Jahres. Gleichwohl: Über zwölf Monate betrachtet wuchs das Defizit bis Ende März auf 7,1 nach 6,4% in den zwölf Monaten bis Ende Dezember 2012. Damit droht die Regierung ihre Haushaltsvorgaben im Zuge des milliardenschweren Euro-Rettungsprogramms zu verfehlen.
Vertreter der Opposition äußerten sich grundsätzlich skeptisch über die Möglichkeit, das Defizit tatsächlich auf 5,5% drücken zu können. Die Gewerkschaften haben in einem breit getragenen Generalstreik ihre Kritik an dem Wirtschaftskurs verdeutlicht. Am 15. Juli wird die Troika zu einem neuen regulären Examen – dem achten seit der Gewährung des Notkredits im Mai 2011 – in Lissabon erwartet.
Finanzminister Gaspar galt als »Architekt« der umstrittenen Sparmaßnahmen. Angesichts des rapide schwindenden Rückhalts in der Bevölkerung und im Regierungslager für den Sparkurs trat er von seinem Posten zurück – und löste damit eine Rücktrittswelle aus. Mit einem Austritt der CDS-PP aus der Koalition mit den konservativen Sozialdemokraten verliert Ministerpräsident Coelho die Mehrheit im Parlament.
Der Konflikt ist eindeutig: Die europäischen Geberländer und der IWF pochen auf weitere Einschnitte. Sie verlangen ein klares Bekenntnis der Regierung zu dem vereinbarten Kurs als Voraussetzung für die Auszahlung der nächsten Kredittranche über 8,1 Mrd. Euro. Auf der anderen Seite gibt es keine politische Konstellation für die Umsetzung des Kürzungsprogramms. Mit Blick auf die abgesunkenen Investitionsquoten der südlichen Krisenländer kann konstatiert werden, dass über eine Austeritätspolitik keine Erholung des Wirtschaftswachstums zu erwarten ist. Ohne ein umfassendes Investitionsprogramm kann es kein Ende der Krise der Eurozone geben.
Gegen ein umfassendes Investitions- und Wachstumsprogramm wird eingewandt, dass Portugal das beste Beispiel für ein Scheitern eines solchen Vorgehens sei. In 25 Jahren seit Portugals Beitritt zur EU im Jahr 1986 hat das Land statistisch pro Tag neun Millionen Euro aus Brüssel erhalten; insgesamt rund 81 Milliarden, aus denen bis Ende dieses Jahres knapp 97 Milliarden werden. Augusto Mateus, Professor für Ökonomie und Wirtschafts-Berater, hat in einer Studie über »25 Jahre Portugal in der EU« ermittelt, dass das Geld in unterschiedlichem Maße floss: In den ersten acht Jahren gab es die wenigsten EU-Mittel (ca. 2,9 Mrd./Jahr); zwischen 2000 und 2006 stiegen sie am höchsten (ca. ¤4,27 Mrd./Jahr). Das Geld wurde insbesondere für Schulen, Krankenhäuser, Land- und Fischerei-Wirtschaft sowie Straßen- und Brückenbau verwendet. Der Strukturfonds ermöglichte einen Ausbau des Verkehrsnetzes, von es heißt, die EU habe »Straßenbeläge finanziert, die ausreichten, um die Strecke von Lissabon nach New Delhi zu teeren«.
Bei der Analyse von Einnahmen aus EU-Fonds und ihren Auswirkungen auf den jeweils begünstigten wirtschaftlichen oder sozialen Sektor spricht Augusto Mateus von verbesserten Lebensbedingungen in einigen Berufszweigen: Das Programm »Novas Oportunidades« für die Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen habe zur verbesserten Qualifikation und zu neuen Berufschancen geführt. Das gleiche gelte in der Landwirtschaft und bei der Umgestaltung der Fischerei. Dennoch spricht Augusto Mateus vom »Versagen des Projekts eines europäischen Portugal«, denn es habe in den 25 Jahren nie eine durchgängige Strategie zur Entwicklung des Landes gegeben, sodass »wir in vielen Bereichen auf halbem Wege stehen geblieben sind«. Und die Europa-Politikerin Isabel Meirelles meint, es habe »Verschwendung und fehlende Kontrolle bei der Zuteilung von EU-Geldern gegeben«.
Die spannende Frage lautet also: Wie kann verhindert werden, das Fördermittel fehlgeleitet und verschwendet werden? Wie kann erreicht werden, dass es über produktive Investitionen zu einer Ausdehnung und Stabilisierung der gesellschaftlichen Wertschöpfung kommt?
Fest steht, dass Investitionen in die öffentliche Infrastruktur allein keine Lösung sind. Die Bilanz der zurückliegenden Jahre ist eindeutig: 9.468 Kilometer neue Straßen, 2.353 Kilometer Bahngleise, die Vasco-de-Gama-Brücke, fünf neue Fußballstadien, neun Krankenhäuser, 662 Schulen und 248 Wasseraufbereitungsanlagen, Ausbildungsplätze für über eine Million junge Leute und die Einführung einer Krankenversicherungskarte. Diese EU-Gelder führten wiederum zu Investitionen aus dem In- und Ausland, die sich insgesamt auf 156 Mrd. Euro beliefen – doppelt so viel wie das Rettungspaket der Troika an Portugal. Diese Investitionen haben die Bedingungen verbessert, aber keine dauerhafte gesellschaftliche Wertschöpfung eröffnet. Offenkundig muss eine Verknüpfung von gesellschaftlichen Investitionen mit der binnenwirtschaftlichen Entwicklung angestrebt und realisiert werden. Es geht also darum, die bisherigen Ansätze – rigorose Austeritätspolitik oder unbedachte und schlecht vernetzte Investitionen in die öffentliche Infrastruktur – durch eine Stärkung der binnenwirtschaftlichen Entwicklungspotenziale zu ersetzen.
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