Parteiisch statt weise - Vorbild "Agenda 2010": Sachverständigenrat macht Front gegen Koalitionspläne
Von Klaus Fischer
Vorbild »Agenda 2010«: Sachverständigenrat macht Front gegen Koalitionspläne und verdammt Mindestlohn, Mietpreisbremse und Rentenpläne von Schwarz-Rot
Die »fünf Weisen« sind unzufrieden mit ihren Brötchengebern. In ihrem Jahresgutachten lassen die Mitglieder des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kaum ein gutes Haar an den Plänen der Politiker für die kommenden Jahre. Bei der Vorstellung des Papiers am Mittwoch in Berlin waren es dann auch die scharfen Töne zu den laufenden Koalitionsgesprächen, die für mediale Aufmerksamkeit sorgten.
»Überwiegend zu Lasten künftiger Generationen« gingen die Pläne von Union und SPD, so das Fazit der bestallten Gutachter. Gemeint sind vor allem die von Schwarz-Rot in Aussicht gestellten politischen Trostpflaster für die ärmeren, älteren und im arbeitsteiligen Prozeß der Gesellschaft benachteiligten Menschen: Gesetzlicher Mindestlohn, Mietpreisbremse, Rentenpläne. Da schien es offenbar naheliegend, die 500-seitige Expertise gleich unter einen flockigen Titel zu stellen: »Gegen eine rückwärtsgewandte Politik.«
Das Gegenteil von reaktionär ist fortschrittlich, der Zukunft zugewandt. Die »Weisen« machten dann auch ausgiebig von dem alten Trick Gebrauch – sie gaben vor zu wissen, wie es in 20, 30 Jahren aussehen wird. »Die aktuelle wirtschaftliche Situation und die gute Position Deutschlands im Vergleich zu den Krisenländern des Euro-Raums scheinen bei vielen politisch Handelnden den Blick auf die großen zukünftigen Herausforderungen verstellt zu haben«, heißt es. Viele der derzeit diskutierten Wohltaten, wie die Mütterrente, die Aufstockung von niedrigen Altersbezügen oder großzügige Ausnahmen von der Rente mit 67 sind den Gutachtern zufolge so etwas wie Hypotheken für unsere Kinder und Kindeskinder. Auch gegen eine Beibehaltung des Rentenbeitragssatzes – den die Verhandlungspartner von Union und SPD derzeit diskutieren – zogen die unparteiischen Ökonomen zu Felde: Die Senkung sei aufgrund der vermeintlich gut gefüllten Rentenkasse nicht nur möglich, sondern »zwingend«, schrieben sie in ihr Gutachten. Deshalb sollte »von Rechtsänderungen Abstand genommen werden«. Anzunehmen ist, daß sie eine Entlastung der »Arbeitgeberseite« bei den Beiträgen anstreben. Das könnte durchaus direkt gewinnerhöhend wirken. Maßnahmen wie der geplante Mindestlohn nannten die »Weisen« mehrheitlich wachstums- und beschäftigungsfeindlich. Lediglich der Würzburger Hochschulleher Peter Bofinger sieht das anders: Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei »vertretbar«, sagte er.
»Wes Brot ich eß, des Lied ich sing«, lautet eine alte Weisheit. Wer also glaubt, ein Gremium wie der Sachverständigenrat sei unparteiisch oder gar über den Parteien stehend, hat nicht verstanden, wie es läuft. Manchmal aber geben die um derartigen Anschein Bemühten klar zu, auf welcher Seite im gesellschaftlichen Aneignungs- und Verteilungsprozeß sie stehen: Zu den größten Herausforderungen zählen die »Weisen« die zunehmende Alterung der Gesellschaft, heißt es in einem Bericht der Nachrichtenagentur dpa. Und weiter: Hier habe die Politik in der Vergangenheit bereits wichtige Änderungen eingeleitet. Die starke wirtschaftliche Verfassung Deutschlands sei Ergebnis »der vielen sinnvollen Reformen der Vergangenheit«, allen voran der »Agenda 2010«.
Soviel zum Kapitel »Weisheit«. Wem zur Steigerung der Profitraten nur noch einfällt, die Angehörigen des unteren Drittels der gesellschaftlichen Einkommenspyramide weiter zu schröpfen, ist ein ziemlich armseliger Ökonom. Ausgenommen natürlich, man betrachtet Sozialdarwinismus als Naturgesetz, wie einst Gerhard Schröder und Josef Fischer als Anführer der »rot-grünen« Bundesregierung, der die »Agenda« historisch angelastet werden wird.
Als Mittel zu Disziplinierung sozialunionistischer Großkoalitionäre mögen die Hinweise ausreichen. Man spielt sich ohnehin nur die Bälle zu. Scheinbar sportlich nahm es auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Das Gutachten komme zum richtigen Zeitpunkt, sagte sie am Mittwoch, und es schien fast, als wolle sie damit die fünf Experten (vier Herren, eine Dame) ein wenig veräppeln. »Wir werden die Hinweise ernst nehmen« versprach sie und begab sich zur fünften großen Koalitionsverhandlungsrunde. Zuvor beschied sie noch schnell, daß nicht alle Forderungen eins zu eins umgesetzt werden könnten. Und überhaupt sei ja alles in Butter: »Die Lage kann uns mit Freude erfüllen.« Aber die Herausforderungen der Zukunft seien groß. Dazu gehöre der demografische Wandel.Es gibt Ökonomen, die sogar die Geburtenrate als wirtschaftsprognostisches Qualifikationsmerkmal sehen, eines, auf das man wetten kann. Dabei ist offensichtlich – zumindest in den entwickelten kapitalistischen Staaten – daß die Warenproduktion im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß immer weniger Arbeitskräfte braucht. Vielleicht sorgen sich diese Leute auch nur um den Konsumentennachwuchs. Insofern dürfte nach der nächsten »Agenda« à la Schröder/Fischer die Verelendung groß genug sein, um die Betroffenen zu höherem natürlichen Reproduktionstempo zu animieren.
(mit: dpa, AFP)
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