Was ein Landesvergabegesetz mit dem geplanten EU-US-Freihandelsabkommen zu tun hat
Von Hartmut Tölle
Seit dem 1. Januar 2014 hat Niedersachsen ein neues Vergabegesetz. Der DGB und die Gewerkschaften waren in die Vorbereitung umfassend eingebunden. Wenngleich man (wie so oft) Details kritisieren kann, so ist das Ergebnis insgesamt doch zufriedenstellend. Auch in Niedersachsen wird fortan bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ein Mindestlohn vorgeschrieben, bei Vergaben im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) wird nun Tarifbindung auferlegt – und auch allgemeinverbindliche Tarifverträge werden vorgegeben und kontrolliert.
Damit ist Niedersachsen mit einer ganzen Reihe von Bundesländern gleichgezogen, die in den letzten Jahren ebenfalls ihre Vergabegesetze novelliert haben. Heute fehlt ein solches Vergabegesetz nur noch in Hessen, Bayern und Sachsen. Die 13 anderen Bundesländer haben ein – im Detail mehr oder weniger umfassendes – Vergabegesetz mit sozialen und ökologischen Kriterien beschlossen. Die Vorgabe von sozialen und ökologischen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge stellt einen wichtigen Beitrag für Gute Arbeit und für eine qualitativ hochwertige öffentliche Beschaffung dar.
Eine erfreuliche Entwicklung also. Und doch ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, welche Grenzen all diese Vergabegesetze haben: Sie stützen fernab von allgemeinverbindlichen (Mindestlohn-) Tarifverträgen und fernab des ÖPNV keineswegs das Tarifsystem als ganzes. Echte Tarifbindung, also die Geltung ausnahmslos aller für ein Unternehmen einschlägigen Tarifverträge, lässt sich heute aus europarechtlichen Gründen nicht (mehr) vorschreiben. Dies ist ein großes Manko, das eine genauere Betrachtung verdient.
Im Jahr 2008 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem so genannten „Rüffert-Urteil“ das damalige niedersächsische Vergabegesetz zu Fall gebracht. Jenes Gesetz hatte Auftragnehmern öffentlicher Aufträge verbindlich vorgeschrieben, die für sie einschlägigen Tarifverträge – also nicht nur jene im ÖPNV und nicht nur allgemeinverbindliche Tarifverträge – bei der Ausführung des öffentlichen Auftrags anzuwenden. Das war eine gute und richtige Vorgabe, denn durch sie konnte verhindert werden, dass tariftreue Unternehmen gegenüber ausbeuterischen schwarzen Schafen benachteiligt werden. Diese Regelung war geeignet, einen Wettbewerb um möglichst niedrige Löhne zu verhindern und stattdessen einen Wettbewerb um eine möglichst hohe Qualität von Waren und Dienstleistungen zu entfachen.
Dennoch hat der EuGH diese Vorgabe als europarechtswidrig verboten. Im Kern lässt sich seine Argumentation darauf zurückführen, dass ausländische Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gegenüber inländischen Unternehmen nicht benachteiligt werden dürfen. Was auf den ersten Blick verständlich aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung jedoch als Einfallstor für Lohndumping und Ausbeutung. Eine echte Tarifbindung, weil als diskriminierend interpretiert, dürfen öffentliche Auftraggeber seither nicht mehr vorgeben. Tarifvertragssysteme wie das deutsche, die auf der Freiwilligkeit von Tarifverträgen beruhen, geraten massiv unter Druck. Unter dem Vorwand, einen grenzüberschreitenden diskriminierungsfreien Wettbewerb zu schaffen und Unternehmen auch fernab der eigenen Grenzen tätig werden zu lassen, wird hier ein europaweiter Wettbewerb um möglichst niedrige Löhne und möglichst schlechte Arbeitsbedingungen in Gang gesetzt.
Wer nun allerdings meint, dies alleine auf politische Fehlentscheidungen in Brüssel oder auf eine fragwürdige Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs zurückführen zu können, der irrt. Schließlich ist der europäische Binnenmarkt bewusst geschaffen worden, um den grenzüberschreitenden freien Handel auch von Dienstleistungen zu gewährleisten – und freier Handel meint eben auch, einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen öffentlichen Aufträgen für alle Unternehmen europaweit zu gewährleisten. Solche Freihandelsideologien, für die Aspekte wie Tarifbindung und sozialer Ausgleich allenfalls nachgeordnete Bedeutung haben, bilden die Wurzel des europäischen Binnenmarkts und damit auch des Rüffert-Urteils. Dass Tarifbindung hier als Diskriminierung und Hindernis für einen solchen Zugang interpretiert wird, ist zwar nach gesundem Menschenverstand unverständlich – aber aus einer Freihandelslogik heraus durchaus konsequent. Schließlich müsste ein Unternehmen, das in 28 EU-Staaten tätig ist, auch 28 Tarifvertragssysteme anwenden. Aus Freihandelssicht, aus Unternehmersicht ein Graus.
Gerade die Erfahrungen mit dem niedersächsischen Vergabegesetz, gerade das Rüffert-Urteil sollte uns aber misstrauisch und vorsichtig werden lassen, wenn heute wieder das Hohelied des Freihandels gesungen wird. Aktuell verhandeln die EU-Kommission und die US-Bundesregierung über ein transatlantisches EU-US-Freihandelsabkommen. Und auch bei diesem Abkommen soll es wieder einmal – unter anderem – um einen „diskriminierungsfreien Zugang“ zu ausländischen Märkten gehen. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und im Bereich der öffentlichen Versorgung soll dieser Zugang umfassend ausgeweitet werden. Ausländische Unternehmen sollen den einheimischen gleichgestellt werden, Hindernisse und Ausnahmeregelungen will man abbauen. Insbesondere die europäische Verhandlungsseite dringt nachdrücklich auf diesen Punkt.
Allem Gerede zum Trotz, dass dieses Freihandelsabkommen soziale Standards nicht senken werde: Das Schlimmste ist zu befürchten, wie uns die Vergangenheit lehrt. Denn auch bei der Schaffung des europäischen Binnenmarkts hat man wiederholt versichert, soziale Standards blieben gewahrt. Im Ergebnis haben wir heute Vergabegesetze, die echte Tariftreue nicht vorgeben dürfen und deren Beitrag im Kampf gegen prekäre Beschäftigung bescheiden bleiben muss. Und das, obwohl diese Vergabegesetze weitgehend – und richtigerweise – alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, die heute noch verblieben sind.
Auch das ist eine Konsequenz von Freihandelsabkommen.
Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 1/2014.
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