Merkels kleine Schritte führen in eine Sackgasse

Von Axel Troost, finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE und stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE

21.08.2014

Noch im Frühjahr überboten sich Forschungsinstitute und Politiker in optimistischen Zukunftsvisionen. Ein Beispiel: "Deutschland an der Schwelle zur Hochkonjunktur - das Bruttoinlandsprodukt expandiert in diesem Jahr um 1,9 Prozent, im 2015 dürfte ein Zuwachs von 2,5 Prozent erreicht werden. Während die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten im laufenden Jahr in etwa normal ausgelastet sind, liegt die Überauslastung im nächsten Jahr schon bei mehr als einem Prozent. Maßgeblicher Treiber der konjunkturellen Dynamik ist die Investitionstätigkeit, die ihre im vergangenen Jahr begonnene Erholung fortsetzen werden (Anstieg der Bruttoanlageinvestitionen um 4 Prozent in diesem und 6,4 Prozent im nächsten Jahr). Hierzu trägt das weiterhin extrem expansive monetäre Umfeld bei, das vor allem den Wohnungsbau stimulieren wird. Hinzu kommen zyklische Auftriebskräfte." (IfW 13.März 2014) Noch im Juni hatte die Bundesbank für Deutschland ein Wachstum von 1,9% für dieses Jahr in Aussicht gestellt. Ende Juli musste Bundesbankpräsident Jens Weidmann allerdings schon einräumen, dass der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts etwas hinter dieser Prognose zurückbleiben könnte. Jetzt die Überraschung: Die bundesdeutsche Wirtschaft ist in den letzten Monaten geschrumpft!

In meinen Kolumnen habe ich vor diesen überschwänglichen Visionen immer wieder gewarnt. Alle entwickelten kapitalistischen Länder, also auch die Bundesrepublik Deutschland, kämpfen auch im 7.Jahr nach der Großen Krise immer noch mit den Verwerfungen der ökonomischen Strukturen. Jetzt wird die Desillusionierung durch die Verhältnisse erzwungen. Die deutsche Wirtschaft ist Mitte des Jahres deutlich ins Stottern geraten. Das Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller in Deutschland produzierten Waren und Dienstleistungen, schrumpfte im zweiten Quartal dieses Jahres um 0,2% im Vergleich zum Vorquartal. Auch das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Euro-Zone stagnierte im zweiten Quartal gegenüber dem Vorquartal, nachdem das Wachstum bereits in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres enttäuschend ausgefallen war. Für die EU-28 gab es eine geringe BIP-Zunahme von 0,2%, was mit Blick auf das Vorquartal (+0,3%) ebenfalls eine Verlangsamung bedeutet.

Diese wenig optimistischen Daten befördern die regierungsamtlichen Befürchtungen, Deutschland könnte seine Funktion als europäische Wachstumslokomotive verlieren. Aber viele Ökonomen glauben nicht, dass die deutsche Wirtschaft dauerhaft den Wachstumskurs verlassen wird. Der Konsum in Deutschland sei immer noch erfreulich stark, und hinter der "Delle" stünden vor allem die weltweiten Krisen und die Schwäche großer Euro-Staaten, sagen die Experten.

Gleichwohl: Ich bleibe bei meiner Skepsis. Die erhoffte wirtschaftliche Erholung in der Euro-Zone lässt weiterhin auf sich warten. Nicht nur die Ökonomie in Deutschland ist geschrumpft. Auch in Frankreich, dem zweitgrößten Land des Euro-Raumes, entwickelte sich die Wirtschaft enttäuschend. So stagnierte die französische Wirtschaft zum zweiten Mal in Folge. Die Pariser Regierung sah sich in Anbetracht der jüngsten Konjunkturzahlen veranlasst, ihre Wachstumsprognose um die Hälfte nach unten zu korrigieren. Sie rechnet damit, dass das BIP im laufenden Jahr nur um bescheidene 0,5% zulegen wird. Noch düsterer sieht es im Nachbarland Italien aus, das nach einem weiteren BIP-Rückgang in einer Rezession steckt.

Die Erwartungen und Hoffnungen auf einen nachhaltigen Aufschwung waren unbegründet. Die zugespitzten Verteilungsverhältnisse, die hohen Schuldenlasten bei privaten Haushalten, Unternehmen und öffentlichen Institutionen liefern zu geringe Impulse zur Stabilisierung der europäischen Ökonomien. Die Investitionen der Unternehmen sind schwach; dies wird durch die unzureichenden öffentlichen Investitionen und die Austeritätspolitik der Staaten verstärkt. Auch die außereuropäischen Exportmärkte liefern keinen Ausweg.

Die aktuelle Schwäche der meisten europäischen Wirtschaften ist ein deutliches Warnsignal: Die Verwerfungen aus der Krise sind nicht überwunden und gefordert ist ein grundlegender Politikwechsel. Wenn die seit Jahren anhaltend schwächelnde Ökonomie und die damit verbundene Vertiefung der regionalen und sozialen Spaltung in den EU-Ländern überwunden werden sollen, dann müssen sich Regierungen und EU-Kommission endlich zu einem Aufbruch durchringen: sofortige Beendigung der Austeritätspolitik. Gestützt auf die europäische Investitionsbank (EIB) könnten ein mächtiges Investitionspaket für die marode öffentliche Infrastruktur und nationalspezifische Programme für die südeuropäischen Krisenländer geschnürt werden, um den massiv geschrumpften Ökonomien nachhaltig auf die Beine zu helfen. Begleitet werden muss eine solche Anstrengung eines "europäischen New Deals", wie ihn auch die europäischen Gewerkschaften fordern, durch systematische Schritte zur Korrektur der Verteilungsverhältnisse und eine Politik der Schrumpfung der Finanzsektoren.

Die Tendenz zu einer chronischen Stagnation der EU-Wirtschaften wird durch die sich mehr und mehr verschlechternde internationale Lage zusätzlich belastet. Die Bundesbank notiert zurecht: "Die den Frühjahrsprognosen zugrunde liegende Erwartung, die zyklische Grundtendenz werde sich im zweiten Halbjahr 2014 weiter festigen, wird durch die aktuelle Indikatorenlage infrage gestellt." Vor allem der Streit mit Russland sei ein Störfaktor, insbesondere für die Exportwirtschaft.

Viele Wirtschaftsexperten warnen jedoch dennoch vor übertriebenem Pessimismus. Die Stimmungseintrübung erfolge von einem hohen Niveau aus. Die weiter aufwärtsgerichtete Binnennachfrage spreche gegen eine konjunkturelle Richtungsänderung. Die Konsumlaune der privaten Verbraucher bleibe von den erhöhten Konjunkturrisiken bislang unbeeindruckt. Gleichwohl sind die Risiken für die Konjunktur Europas nach Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) "immens". Auch die EZB-Ökonomen verweisen vor allem auf die erhöhten geopolitischen Risiken sowie die Entwicklung in den Schwellenländern und an den globalen Finanzmärkten. EZB-Präsident Mario Draghi hatte bereits vor einer Woche erklärt, dass nach seiner Einschätzung vor allem die Lage in der Ukraine und in Russland größere Auswirkungen auf die Euro-Zone haben werde. Gemäß der jüngsten Erhebung der EZB gehen die vierteljährlich befragten "professionellen Beobachter" gleichwohl davon aus, dass die Wirtschaft der Euro-Zone im laufenden Jahr um 1% wachsen und 2015 weiter an Dynamik gewinnen wird.

Meine Schlussfolgerung: Der stotternde europäische und deutsche Wirtschaftsmotor wird durch die Politik der Konfrontation und der Sanktionen mit Russland zusätzlich belastet. Die Logik der Sanktionen sind nicht nur außen- und sicherheitspolitisch falsch, weil nur durch Kooperation und gemeinsame Sicherheit Konflikte in Europa zu lösen sind. Sanktionen sind auch ein immenser Risikofaktor für die Gestaltung der europäischen Wirtschaft. Zurecht warnt dieser Tage das gewerkschaftsnahe Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) davor, dass die Gefahr einer Rezession in Deutschland drastisch gestiegen sei. "Der deutliche Sprung mahnt zur Wachsamkeit… . Er könnte ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die seit Dezember 2012 währende Phase sehr geringer Rezessionswahrscheinlichkeiten zu Ende ist und die deutsche Wirtschaft nunmehr in ein unruhiges Fahrwasser mit deutlich erhöhter Unsicherheit gerät."

Mit einem politischen Kurswechsel kann das unruhige Fahrwasser verlassen werden. Die Koordinaten für die Fahrt in ein Revier der sozialen Befriedung und einer sozial-ökologischen Transformation sind seit langem bekannt. Statt den Kriechgang oder die Schrumpfkur durch weitere kleine Schritte fortzusetzen, könnte mit einem Politikwechsel ein neues Kapitel der sozialen Kooperation und Befriedung in Europa eröffnet werden.