Kämpfe um Zeit
Von Richard Detje, Sybille Stamm und Florian Wilde (Hrsg.)
«Konsequente Arbeitszeitpolitik [ist] unter Bedingungen, die durch soziale und politische Kämpfe bestimmt sind, nur [vorstellbar], wenn sie auch als politischer Machtkampf verstanden wird, als Kampf nicht nur um eine gleichmäßige Verteilung vorhandener Arbeit, sondern als Kampf um die Prinzipien gesellschaftlicher Organisierung von Arbeit, ja einer freien und gerechten Gesellschaft selbst.» (Oskar Negt 1987)
Kämpfe um Zeit begleiten die Arbeiterbewegung seit ihrer Entstehung. Lange standen dabei die Dauer des Arbeitstages beziehungsweise der Arbeitswoche im Fokus oft hart geführter Auseinandersetzungen. So konnte zunächst der 10-Stunden-Tag, dann der 8-Stunden-Tag durchgesetzt werden. In den 1980er Jahren kam es zu einer breiten Bewegung für die 35-Stunden-Woche, die am Ende in der Metall- und Elektroindustrie eingeführt wurde. Auch der Erholungsurlaub war immer ein umstrittenes und durch Kämpfe ausgedehntes Feld. 1903 wurde er erstmals in Deutschland in einem Tarifvertrag festgelegt: auf damals drei bezahlte Urlaubstage im Jahr. Gewerkschaftlichen Organisierungserfolgen und dem davon ausgehenden gesellschaftlichen Druck ist es zu verdanken, dass daraus heute in Deutschland durchschnittlich fast 30 Tage im Jahre geworden sind.
Auch wenn die Reduzierung der Arbeitszeit als eines fremdbestimmten und oft entfremdet erlebten Teils des Lebens den Kern dieser Kämpfe bildete, so wiesen sie doch immer auch darüber hinaus: auf ein Mehr an freier Zeit für die eigene und familiäre Reproduktion, für politisches und gesellschaftliches Engagement, für Muße und Erholung. Kämpfe um Zeit waren so immer auch Kämpfe um menschliche Emanzipation – Emanzipation von der Lohnarbeit, aber auch Emanzipation in der Lohnarbeitszeit. Denn auch die Ausgestaltung der zu arbeitenden Zeit selbst war immer schon umkämpft. Dem Interesse der Unternehmer nach einer Steigerung der Produktion durch Intensivierung und Verdichtung des Arbeitsprozesses steht das Bedürfnis der Arbeitenden nach Erholung und Pausen auch innerhalb der Arbeitszeit entgegen. 1973 etwa konnte die IG Metall eine fünfminütige Pause pro Arbeitsstunde (Steinkühler-Pause genannt) für jeden Akkordarbeiter durchsetzen.
Die Kämpfe um Zeit fanden ihren Ausgangspunkt meist in der Arbeitswelt und wurden wesentlich von den Organisationen der Arbeiterbewegung, vor allem den Gewerkschaften, geführt. Und doch waren sie dabei immer auch in breitere gesellschaftliche Konflikte und Bewegungen eingebettet. Nicht zufällig brachte erst die Novemberrevolution 1918 den ArbeiterInnen den 8-Stunden-Tag. Der Aufbruch gesellschaftlicher und betrieblicher Protestbewegungen nach 1968 und das damit einhergehende Erstarken der Gewerkschaften schufen den Rahmen, der neben vielen anderen Erfolgen auch die Durchsetzung der «Steinkühler-Pause» ermöglichte. Und die Protestdynamik der 1970er Jahre und die damals entstehende neue Frauenbewegung bildeten einen wichtigen Hintergrund für den leidenschaftlich geführten Kampf um die 35-Stunden-Woche.
Doch seit den 1990er Jahren scheinen die Kämpfe um Zeit ins Stocken geraten zu sein. Die von manchen gehegte Erwartung, dass steigende Produktivität weiterhin tendenziell zu geringeren Arbeitszeiten führen müsse, bewahrheitete sich nicht. Im Gegenteil: Seit mehr als zwei Dekaden nimmt die Arbeitszeit für viele Beschäftigte wieder zu. Dies gilt auch für tarifgebundene Branchen: Sollte die Arbeitszeit in der Metall- und Elektroindustrie laut Tarifvertrag bei 35 Stunden pro Woche im Westen beziehungsweise 38 Stunden im Osten liegen, beträgt die faktische Arbeitszeit oft mehr als 40 Wochenstunden. Noch stärker ist die wachsende Zahl nicht tarifgebundener Betriebe von dieser Entwicklung betroffen. Außerdem werden immer mehr Überstunden geleistet: Mit 47,3 Überstunden im Jahr ist Deutschland in dieser Kategorie europäischer Spitzenreiter. Mehr als die Hälfte dieser Überstunden wird unentgeltlich geleistet.1 Gleichzeitig wird die Arbeit durch die rasante Entwicklung der Kommunikationsmittel und durch steigende Anforderungen der Arbeitgeber immer entgrenzter: Das Bearbeiten von E-Mails in Freizeit und Urlaub gehört für viele Beschäftigte mittlerweile zum Alltag. Dabei wird die Arbeitszeit im Zeichen von Vertrauensarbeitszeit und indirekter Steuerung nicht mehr primär durch Anordnung von Überstunden, sondern auch von den Beschäftigten zunehmend selbst entgrenzt, um den eigenen wie den Fremdanforderungen überhaupt noch gerecht werden zu können. Die rasante Zunahme von stressbedingten psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Burnout – und dies sind nur die sichtbarsten Konsequenzen dieser Entwicklung – hat die Krise des Zeitregimes in der Arbeitswelt zu einem Medienthema gemacht.
Und doch ist die strukturelle Überarbeitung bei vielen ArbeitnehmerInnen nur die eine Seite dieser Krise. Die andere Seite ist die strukturelle Unterbeschäftigung von (oft weiblichen) Teilzeitkräften und eine weiterhin hohe Arbeitslosigkeit – Phänomene, die die Betroffenen ebenfalls oft krank machen. Dringend gefordert sind deshalb offensive Antworten auf diese Krise des Zeitregimes durch Gewerkschaften und die politische Linke. Doch bei der Formulierung von betrieblich wie gesamtgesellschaftlich mobilisierungsfähigen Forderungen stehen sie vor dem Problem einer immer mehr zerklüfteten Arbeitswelt, in der unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen zu unterschiedlichen Zeitwünschen führen. Geringfügig Beschäftigte wünschen sich oft mehr statt weniger Arbeitsstunden, um besser über die Runden zu kommen. Aber auch bei einer unbezahlte Überstunden leistenden Vollzeitbeschäftigten könnten Forderungen nach einer pauschalen Arbeitszeitverkürzung Angst vor einer weiteren Verdichtung ihrer Arbeit schüren. Bei Werksvertrags- und Projektarbeit werden die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden oft gar nicht mehr erfasst. Hinzu kommt, dass sich die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften – bedingt durch Mitgliederschwund, abnehmende Tarifbindung, den Druck prekärer Beschäftigung und Hartz IV – in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen deutlich verschlechtert hat, was zeitpolitische Neuaufbrüche ebenfalls erschwert.
Wie aber kann unter diesen Bedingungen ein neuer (arbeits-)zeitpolitischer Aufbruch gelingen? Wie lässt sich dieser mit den breit geführten Debatten um gewerkschaftliche Erneuerung verbinden? Um diese Frage zu diskutieren und Antworten auf sie zu entwickeln, luden die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Verein WISSENTransfer2 Akteure aus Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft seit 2012 zu mehreren zeitpolitischen Strategieberatungen ein. Aus diesen ist die vorliegende Broschüre hervorgegangen, die verschiedene ihrer Beiträge dokumentiert.
Im ersten Teil der Broschüre werden zunächst zwei unterschiedliche strategische Zugänge zum gemeinsamen Ziel Arbeitszeitverkürzung präsentiert, die stellvertretend für weitverbreitete linke Ansätze in diesem Feld stehen. Es folgen zwei Texte, die empirische Befunde zu den sich analog zum Wandel der Arbeitswelt verändernden Zeitwünschen von Beschäftigten darstellen und diskutieren. Eine Bestandsaufnahme gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik und einen Ausblick auf ihre Perspektiven liefert je ein Beitrag aus der IG Metall und einer aus ver.di. Anschließend werden Strategien für eine Reregulierung der Arbeitszeit auf gesetzlicher, tariflicher und betrieblicher Ebene vorgestellt. Den Abschluss der Broschüre bildet eine Dokumentation der Arbeitszeitdebatte der Zeitschrift LuXemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, die vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben wird.
Die HerausgeberInnen dieser Broschüre hoffen, mit dieser Publikation Bausteine für eine neue (arbeits-)zeitpolitische Diskussion und Offensive zu liefern.
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