Ökonomische Stagnation und expandierende Beschäftigung: Geht das zusammen?
Von Bernhard Müller
Die stagnativen Tendenzen in der deutschen Wirtschaft haben sich auch im III. Quartal bestätigt. Nach einem Minus von 0,1% im II. Quartal gab es im III. Quartal ein Miniplus von 0,1%. Dabei bremsten die Investitionen die Entwicklung, während öffentliche und private Konsumausgaben die Konjunktur stabilisiert haben. »Insgesamt ist dies dennoch als Abflachung der Wachstumstendenz zu werten, denn die Entwicklung im zweiten Quartal ist unterzeichnet, nachdem Produktion witterungsbedingt in die Wintermonate vorverlegt worden war. (…) Eine nachhaltige Aufwärtsbewegung ist noch nicht in Sicht.« (IAB)
Gespannt richtet sich deshalb der Blick seit einigen Monaten auf die Arbeitsmarktentwicklung mit der Frage, wann die flaue Konjunktur auf den Arbeitsmarkt durchschlägt. Die Alarmmeldungen der Bundesagentur für Arbeit blieben aus: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist im November weiter zurückgegangen. Somit hat sich der Arbeitsmarkt trotz verhaltenen Wirtschaftswachstums günstig entwickelt«, konnte BA-Chef Weise vermelden.
»Günstig entwickelt« heißt: Die Zahl der offiziell registrierten arbeitslosen Menschen hat von Oktober auf November um 16.000 auf 2.717.000 abgenommen. Ein Rückgang ist im November üblich, er fiel aber dieses Jahr stärker aus als in den letzten Jahren. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat deshalb um 14.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 89.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.
Zur positiven Entwicklung gehört auch, dass die Zahl der tatsächlich Arbeitslosen, in der Statistik unter der beschönigenden Kategorie »Unterbeschäftigung« erfasst, die auch die Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 17.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im November 2014 auf 3.638.000 Personen. Das waren 129.000 weniger als vor einem Jahr.
Diese Entwicklung hängt damit zusammen, dass die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland immer noch steigt. Zum ersten Mal wurden im Oktober die Marke von 43 Mio. Erwerbstätigen überschritten. Das waren 408.000 oder 1% mehr als ein Jahr zuvor. Laut Statistischem Bundesamt hat die Steigerung zum September »infolge der Herbstbelebung« 110.000 Personen oder 0,3% betragen. Würden die üblichen jahreszeitlichen Schwankungen herausgerechnet, betrage das Plus im Monatsvergleich noch 33.000 oder 0,1%. Den Statistikern zufolge fiel die Steigerung im Vorjahresvergleich leicht überdurchschnittlich aus. Seit Januar 2014 ist die Zahl der Erwerbstätigen jeden Monat weiter gestiegen. Sie legte seit Jahresbeginn um fast eine Million zu.
Die positive Arbeitsmarktentwicklung zeigt sich auch und gerade bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Sie belief sich im September nach der Hochrechnung der Bundesagentur für Arbeit auf 30,67 Mio. Gegenüber dem Vorjahr war das ein Zuwachs von 508.000 oder 1,7 Prozent, nach +470.000 oder +1,6 Prozent im August.
Also alles positiv am deutschen Arbeitsmarkt? Vordergründig sieht es so aus, dass der Verzicht auf aktive Arbeitsmarktpolitik – wie von der schwarz-roten Bundesregierung praktiziert – die richtige Strategie ist, denn der »Markt« richtet es ja.
Diese Auffassung kann man nur vertreten, wenn man die Schattenseiten der Entwicklung ausblendet. Erstens ist es ja so, dass wenn bei stagnierender wirtschaftlicher Entwicklung und gleichbleibendem Arbeitsvolumen die Zahl der Beschäftigten steigt, nur eine Umverteilung des Arbeitsvolumens stattfindet – eine Tendenz, die in den letzten 20 Jahren auch bei wirtschaftlichen Wachstum feststellbar war und sich gegenwärtig noch verstärkt. Das ist der harte Kern der vom IAB vertretenen These, »dass (sich) Beschäftigungs- und BIP-Wachstum seit der Großen Rezession 2008/09 stärker entkoppelt haben.«
Das bedeutet für viele Lohnabhängige Arbeit in Minijobs, Leiharbeit und Teilzeit. So sehen wir auch und gerade bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, dass die Zahl der Teilzeit-Jobs relativ und absolut stärker steigt als die der Vollzeit-Jobs. So hat die sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung im Vorjahresvergleich um 230.000 oder 1,0% und die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung um 281.000 oder 3,7% zugenommen. Das hohe Lied auf die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse als »gute Jobs« muss mindestens hinsichtlich der sozialen Absicherung bei Teilzeit (Arbeitslosengeld, Rente) deutlich relativiert werden. Zudem wissen wir, dass selbst bei Vollzeit häufig Niedriglöhne bezahlt werden. Das schlägt sich auch darin nieder, dass immer mehr Lohnabhängige einen Zweitjob annehmen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen. So hatten im September 2,50 Mio. oder 8,2% der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zusätzlich einen geringfügig entlohnten Nebenjob, gegenüber dem Vorjahr 85.000 oder 3,5% mehr.
Zweitens gibt es Gruppen am Arbeitsmarkt, die vom Beschäftigungszuwachs überhaupt nicht profitiert haben. Dies betrifft insbesondere die Langzeitarbeitslosen, den sowohl die frühere schwarz-gelbe wie auch die aktuelle schwarz-rote Bundesregierung die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik drastisch gekürzt haben. So liegt die Zahl der Langzeitarbeitslosen, also der Menschen, die länger als 12 Monate arbeitslos waren, immer noch bei deutlich über eine Mio. Sie ist im Vorjahresvergleich nur um 1% oder 15.000 auf nunmehr 1.041.000 zurückgegangen. Weil sich die Arbeitslosigkeit insgesamt stärker reduzierte, ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von 37,6 auf 38,3% gestiegen.
Die These vom Aufschwung der »guten Jobs« wird vordergründig gestützt von den vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten neuen Zahlen zur Entwicklung »atypischer Beschäftigung«. Unter atypischer Beschäftigung verstehen die Statistiker alles, was vom klassischen Normalarbeitsverhältnis – Vollzeit, unbefristet – abweicht. Neben Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung (Minijobs) und Befristungen wird etwa auch die Zeit- oder Leiharbeit mit erfasst. Die FAZ sieht die Zeit zum Aufräumen gekommen: Ein Mythos kann entlarvt werden, »der von interessierten Stellen seit Jahren erfolgreich am Leben gehalten wird. Es geht um die Behauptung, dass das ›German Jobwunder‹ vor allem unsichere Billigjobs und Hungerlöhne hervorgebracht habe. Dass die Legende vom dynamischen prekären Arbeitsmarkt eben eine solche ist, belegen die Daten klar.« (28.11.2014)
Demnach sank im Jahr 2013 trotz eines kräftigen allgemeinen Beschäftigungsaufbaus auf 35,6 Mio. Menschen die Zahl der »atypisch« Beschäftigten um 71.000 auf 7,64 Mio. Dagegen kletterte die Zahl der »Normalbeschäftigten« um rund 380.000 gegenüber dem Vorjahr. Damit wuchs auch der Anteil der Normalverhältnisse an allen Erwerbstätigen um 0,7 Punkte auf 67,5% Prozent, jener der atypischen sank leicht auf 21,4%. Der Beschäftigungsaufbau verläuft in dieser Terminologie also »typisch«.
Dieser leichte Rückgang bei den »atypischen Beschäftigungsverhältnisse«, der auch schon für 2012 festgestellt wurde, kann allerdings nicht als Trendwende in Sachen Prekarisierung der Lohnarbeit interpretiert werden, weil
- erstens hier nur alle Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren, die sich nicht in Bildung oder Ausbildung befinden, erfasst werden. Die stark ansteigende Zahl der arbeitenden RuheständlerInnen wird dabei nicht berücksichtigt. Die Zahl der »Kernerwerbstätigen« stieg 2013 im Vergleich zum Vorjahr um 0,5% auf 35,6 Millionen Personen.
- zweitens bei der als atypisch eingestuften Teilzeitarbeit, nur die Jobs mit bis zu 20 Wochenstufen erfasst werden;
- drittens der Niedriglohnbereich bei Vollzeitbeschäftigung, der auch als »atypisch« einzustufen wäre, keine Berücksichtigung findet.
Das gewerkschaftsnahe WSI kommt denn auch in einer Untersuchung über »atypischen Beschäftigung« in Deutschland, in der u.a. auch alle Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse als atypisch eingestuft werden (wofür es mindestens bei der sozialen Absicherung gute Gründe gibt), zum dem Ergebnis, dass 2013 43,3% aller Beschäftigungsverhältnisse nicht als Normalarbeitsverhältnis einzustufen sind. Tendenz steigend.
Der Handlungsbedarf liegt, egal wie hoch man den Anteil prekärer Beschäftigung auch immer einstuft, auf der Hand. Zur Einhegung dieser unsicheren Beschäftigung muss sehr viel mehr getan werden als die begrüßenswerte Erhöhung des Mindestlohns. Es geht um eine Re-Regulierung des Arbeitsmarkt, zur der u.a. die enge Begrenzung von Leiharbeit und die Abschaffung der Mini-Jobs gehören sollte. Ein solche Reform ist von der schwarz-grünen Bundesregierung nicht zu erwarten. Was man allerdings von einer Bundesregierung mit sozialdemokratischer Beteiligung erwarten könnte, ist, dass sie ihre finanzpolitischen Spielräume für die Implementierung eines sozialen Arbeitsmarkts nutzt, um den abgedrängten Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance zu eröffnen. Doch auch die Bundesarbeitsministerin Nahles bleibt mit Blick auf die Langzeitarbeitslosigkeit ideenlos und passiv.