Menschenrechte kennen keine Obergrenzen
Positionspapier des ISM
Debattenbeitrag zur aktuellen Diskussion angesichts steigender Flüchtlingszahlen, brennender Unterkünfte für Asylsuchende und rechter Reflexe, die nach Asylrechtsverschärfungen schreien
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So steht es ganz am Anfang des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1). Das Bundesverfassungsgericht hat zudem in mehreren Entscheidungen ausgeführt, dass die Menschenwürde auch für Menschen, die hier Schutz und Sicherheit suchen, nicht zu relativieren ist.
Genauso verhält es sich mit den Menschenrechten: Menschenrechte gelten universell.
Diese scheinbare Selbstverständlichkeit gerät in Deutschland angesichts einer steigenden Anzahl von Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Elend fliehen und es – trotz der Todesfalle Mittelmeer und aufgerüsteter Grenzen – tatsächlich bis nach Europa schaffen, offenbar einmal mehr in Vergessenheit.
Dabei müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, dass nur ein Bruchteil der weit über 55 Millionen Menschen – die Hälfte davon sind Kinder –, die sich derzeit weltweit auf der Flucht befinden, überhaupt in sicheren Ländern ankommt. Vielen Menschen gelingt die Flucht vor Krieg und Gewalt lediglich innerhalb ihres Herkunftsstaates oder in Nachbarländer, wie aktuell über vier Millionen Syrer_innen. In Flüchtlingslagern vom Ausmaß deutscher Großstädte im Libanon, Jordanien und der Türkei können sie sich kaum noch mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Hilfe der internationalen Gemeinschaft vor Ort versagt: Die UN und ihr Flüchtlingswerk waren darauf weder eingestellt noch erhalten sie von den UN-Mitgliedsstaaten – trotz gegebener Zusagen – aktuell die nötigen finanziellen Mittel. Sie sind zwar dem Krieg entkommen, dem die Welt seit vier Jahren nicht zu begegnen weiß, leiden jedoch nun in Flüchtlingslagern Hunger und wiederum unter Gewalt, werden medizinisch kaum noch versorgt – von einer Perspektive auf ein anderes, besseres Leben ganz zu schweigen. Das alles führt zur reinen Notwendigkeit, dass immer mehr Menschen sich mit dem Ziel Nord/West-Europa aufmachen.
Die EU hat dabei, als einer der stärksten Wirtschaftsräume des Planeten, die Verpflichtung schlechthin, die selbstgesetzten moralischen, humanitären und entwicklungspolitischen Ziele praktisch umzusetzen. Die Charta der Menschenrechte, die UN-Charta sowie die EU-Verträge geben die Leitlinien vor – kein neuer Grundsatz, kein Kodex muss neu erfunden werden.
Die konkrete Politik sieht jedoch anders aus: Auf die kurzfristige und publikumswirksame Öffnung der Grenzen nach Deutschland angesichts unhaltbarer Zustände in Ungarn folgte nur wenige Tage später die erneute Abschottung in Form der Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Sogar der Bahnverkehr von und nach Österreich bzw. nach Dänemark wird dieser Tage immer wieder unterbrochen, um Menschen an der Ein- oder Weiterreise zu hindern. Hinzu kommen neue Grenzzäune und weitere Abschreckungsmaßnahmen an diversen Landesgrenzen.
Die Folgen waren und sind noch längere und gefährlichere Fluchtrouten für die ohnehin schon leidgeplagten Flüchtenden, welche dadurch noch auswegloser in die Hände von Schlepper_innen gedrängt werden. Denn solange die restriktive Visapolitik beibehalten wird und es keine legalen Einreisemöglichkeiten gibt, werden sich Schutzsuchende auch von Aufrüstung und Kontrollen nicht abhalten lassen, ihre Flucht fortzusetzen – das zeigt die Praxis, das zeigen die Ergebnisse von Jahrzehnten kritischer Migrationsforschung.
Fakt ist: Dublin ist längst gescheitert. Hinzu kommt, dass permanente innereuropäische Grenzkontrollen ganz klar dem EU-Recht und somit dem Schengener Grenzkodex widersprechen, da diese nur bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit greifen dürfen. Pro Asyl hat daher völlig zu Recht deutlich gemacht: „Flüchtlinge sind Schutzsuchende, sie sind keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit. Das bestätigen selbst die Sicherheitsbehörden. Stattdessen ist die Sicherheit der Flüchtlinge in Gefahr, die aufgrund geschlossener Grenzen gefährlichere Fluchtwege auf sich nehmen müssen.“1
Was jedoch geschieht aktuell in Deutschland? Einerseits zeigt sich eine enorme Hilfsbereitschaft in großen Teilen der Zivilgesellschaft: Initiativen werden gebildet, Geflüchtete spontan an Bahnhöfen und in schnell entstandenen Notunterkünften versorgt, allerorten Spenden gesammelt, und mittlerweile wird auch in großen Buchstaben publicityträchtig für Hilfe geworben. Andererseits brennen Nacht für Nacht Unterkünfte, die für Geflüchtete hergerichtet werden, tobt an unterschiedlichen Orten einmal mehr der Mob, zündeln rechte Parteien und Organisationen von AfD bis NPD. Und während das zivilgesellschaftliche Engagement offiziell zwar verbal unter dem Stichwort „Willkommenskultur“ gelobt und gewürdigt wird, fällt dem Bundesinnenminister offenbar nichts Besseres ein, als rechte Reflexe zu bedienen – anders jedenfalls kann man den vorgelegten Gesetzesentwurf2 kaum verstehen, der nunmehr im Schnellverfahren durch Bundestag und Bundesrat gebracht werden soll.
Dieser Gesetzesentwurf ist in mehrerlei Hinsicht skandalös. In beispielloser Art und Weise wird hier die menschenfeindliche Perspektive auf Asylsuchende seitens der Großen Koalition im Bund sichtbar. Pro Asyl spricht daher folgerichtig von Abschreckung, Abschottung und Obdachlosigkeit als Folgen der geplanten Gesetzesverschärfungen3. Zudem verstößt der Entwurf in vielen Punkten offen und verfassungswidrig gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde vieler in Deutschland lebender Asylsuchender.
Wieder einmal greift die vermeintliche Logik der Abschottung, werden rechte sowie rassistische Ressentiments bedient und die Bundesregierung demonstriert ihre Lernunwilligkeit in Punkto Integration.
Was wir brauchen, ist nicht mehr Ausgrenzung, sondern gelingende Integrationsangebote, wie ein vereinfachter Zugang zu Sprachkursen, zu festem Wohnraum und zum Arbeitsmarkt sowie eine medizinische Gesundheitskarte für alle. Anstatt populistisch mit Blick auf Wähler_innen im rechten Spektrum zu versuchen, das Recht auf Asyl in Deutschland weiter zu durchlöchern, sollte sich der Bund endlich um die Entlastung der Flüchtlingsunterkünfte sowie in der konkreten Hilfe für die Flüchtlinge engagieren. Die Bundesregierung muss sich endlich praktisch hinter die vielen freiwilligen Helfer_innen stellen und diese aktiv unterstützen. Leistungskürzungen, verschärfte Abschieberegelungen bis hin zur Aussetzung von Entscheidungen über Asylanträge und neue Erwerbsverbote sind jedoch der falsche Weg.
Eine Abschreckungspolitik, verbunden mit monatelangen Warteschleifen und gewollter Perspektivlosigkeit ist offen diskriminierend, integrationserschwerend und daher abzulehnen. Die Verlängerung der Zeit in der Erstaufnahme etwa bedeutet gerade für die Kinder Erschwernisse beim Zugang zu Bildung – ein Verstoß gegen die UN-Konvention (Artikel 28), welche das Recht auf Schule und Bildung festschreibt. Was wir in der jetzigen Situation brauchen, sind Verfahrenserleichterungen und direkte Hilfen für die Schutzsuchenden. Die Stellenaufstockung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und damit beschleunigte Anerkennungsverfahren müssen endlich kommen. Für Altfälle sollte es endlich eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit für Familiennachzug und Arbeitsmarktzugang geben.
Die Einstufung weiterer Balkanstaaten als sichere Herkunftsstaaten ist abzulehnen, wie das Konstrukt sicherer Herkunftsstaaten in Gänze. Weitere Eingriffe in das Asylrecht sind völlig falsch. Stattdessen braucht es ein Einwanderungsgesetz sowie eine Ausweitung legaler Möglichkeiten der Arbeitsmigration, damit Menschen aus den Staaten des Westbalkans eine Bleibeperspektive jenseits des Asylrechts geboten werden kann.
Die Länder und Kommunen müssen endlich eine dauerhafte und strukturelle Entlastung bei den Kosten von Unterbringung, Gesundheit und Integration von Flüchtlingen von Seiten des Bundes erhalten. Die im Koalitionsausschuss im Bund beschlossenen drei Milliarden Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Diese Summe muss mindestens verdreifacht werden.
In der aktuellen Situation muss die Politik nach vorne schauen und ein ohnehin längst überfälliges Investitionsprogramm auflegen – die soziale Infrastruktur dieses Landes muss erkennbar ausgebaut werden: öffentlich geförderter Wohnungsbau, umfassende Gesundheitsversorgung, mehr Personal im Pflege-, Sozial- und Bildungsbereich. Dafür braucht es angesichts zusätzlicher Steuereinnahmen nicht einmal Sparprogramme – geschweige denn Kürzungen in anderen sozialen Bereichen. In einem solchen Investitionsprogramm – das zugleich ein Konjunkturprogramm wäre und neue Arbeitsplätze schaffen würde – liegt die Chance, bessere Lebensbedingungen für alle zu schaffen.
Insgesamt braucht die BRD, braucht die EU, braucht die Weltgemeinschaft, eine Besinnung auf den Anspruch an sich selbst, die Menschenrechte zu wahren – und zwar bedingungslos. Menschenrechte kennen keine Obergrenzen.
Das ISM tritt ein für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und ein Angebot an die Menschen, die nach ungeheuerlichen Entbehrungen und Leid Hilfe in Deutschland suchen. Wir stehen auch dafür, dass die Konflikte und die unhaltbaren ökonomischen Zustände in den Herkunftsregionen der Flüchtenden endlich abgeschafft werden.
Vorstand des ISM, 23. September 2015
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