Die Flüchtlingsfrage als europäische und gesamtdeutsche Aufgabe
Von Axel Troost
Die größte Flüchtlingskrise seit Ende des zweiten Weltkriegs (EU-Innenkommissar Dimitris Avramopulos) führt dazu, dass der Zustrom von Schutzsuchenden nach Europa deutlich ansteigen wird. Die weltweiten Flüchtlingszahlen erreichen in den letzten Jahren immer neue Höchstmarken. So befanden sich Ende 2014 weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Dies ist die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet wurde. Bisher hat die Bundesregierung mit 450.000 AsylbewerberInnen in diesem Jahr gerechnet. Aktuell gehen die Behörden davon aus, dass mehr als 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden. Die Zahl der in Deutschland eintreffenden Flüchtlinge und AsylbewerberInnen hat im August erstmals in einem Monat die Marke von 100.000 überschritten.
Die Verteilung der Schutzsuchenden ist in der EU und der Eurozone sehr unterschiedlich. Die aktuellen Reportagen belegen, dass Deutschland bei einem Großteil der Flüchtlinge als Zielort eine hohe Anerkennung hat. Hier erwarten sie ein rechtstaatliches Verfahren bei dem Asylverfahren und eine humanitäre Grundversorgung bei Unterbringung, Ernährung, medizinischer Betreuung und Ausbildung. Die Flüchtlinge haben ein klares Ziel: ein Leben in Sicherheit und die Chance für einen existentiellen Neubeginn.
Die meisten anderen europäischen Mitgliedsstaaten haben weitaus größere Probleme bei der Bewältigung der Flüchtlingsbewegung. Ökonomische Probleme, zum Großteil weitaus höhere Arbeitslosigkeit und zudem auch massive Schieflagen in den öffentlichen Finanzen. Diese eigenen nationalstaatlichen Probleme können zwar die teils offenkundigen Abwehrmaßnahmen gegenüber der Aufnahme von Schutzsuchenden nicht legitimieren, aber sie sind ein wichtiger Grund zur Erklärung der Fehlschläge zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Konzeption.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat den Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, neben der bisher vereinbarten Umverteilung von rund 40.000 Flüchtlingen (auf freiwilliger Basis) weitere 120.000 Schutzsuchende auf die EU-Länder zu verteilen. Der Plan der Kommission, diese 40.000 Flüchtlinge aus den Mittelmeerländern Italien (bisher 24.000) und Griechenland (bisher 16.000) über verpflichtende Quoten auf alle EU-Staaten zu verteilen, war im Juni am Widerstand einer Reihe osteuropäischer Staaten und Großbritanniens gescheitert. Vereinbart wurde im Juli lediglich die Verteilung von 32.000 Menschen auf freiwilliger Basis. Verteilt werden sollen nach Junckers Plänen nun also insgesamt 160.000 Menschen. Dies kann bestenfalls als weiterer Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Flüchtlingskonzeption gewertet werden.
In Deutschland hat sich nach anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile die Haltung durchgesetzt, dass die Gesellschaft die überraschend gestellten Anforderungen bewältigen kann. Vor allem das starke Engagement aus der Zivilgesellschaft hat dazu beigetragen bürokratische Hindernisse und viele Vorbehalte aufzulösen. Deutschland hat die organisatorische Power und die gesellschaftliche Infrastruktur mit den Herausforderungen fertig zu werden.
Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern kann sich die Bundesrepublik auf einen ausgeglichenen Haushalt stützen und die Steuereinahmen signalisieren auch deutliche Spielräume für die nicht eingeplanten Ausgaben. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat erklärt der steigende Mittelbedarf für die Unterbringung von Flüchtlinge sei zu bewältigen. Angesichts der Rekordzahl von Flüchtlingen müssen Bund, Länder und Kommunen dauerhaft zusätzliche Milliarden für deren Aufnahme und Betreuung bereitstellen. Allein die Kosten für die Unterbringung, Versorgung und das Taschengeld der Asylbewerber werden sich voraussichtlich um sechs Milliarden Euro im Jahr erhöhen – so eine interne Schätzung der Bundesregierung. Bislang hat der Bund den Ländern und Kommunen dafür lediglich eine Milliarde Euro an Entlastung für dieses Jahr zugesagt. Im Prinzip trifft die Faustformel von ca.10.000 -12.000 Euro für jede/n Schutzsuchende/n die Realität, die sich allerdings bislang in den Bundesländern und Kommunen höchst unterschiedlich in der Finanzierung abbildet. Der brandenburgische Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) rechnet mit Kosten für die Erstaufnahme eines Flüchtlings von 1.000 bis 1.200 Euro im Monat. Nimmt man die Prognose von 800.000 Asylanträgen in diesem Jahr und geht von drei Monaten Aufenthalt in der Erstaufnahme aus, so das ehrgeizige Ziel, dann kämen rein rechnerisch Kosten von 2,4 bis 2,9 Mrd. Euro zusammen. Auf das Gesamtjahr berechnet sind dies zehn bis knapp zwölf Milliarden Euro. Den größeren Teil, so die Forderung der Bundesländer, muss der Bund übernehmen. Bisher zahlen die Länder, die damit in vielen Fällen an die Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit stoßen.
Zur Deckung der Sozialausgaben für Flüchtlinge und ihre Integration in den Arbeitsmarkt sind im kommenden Jahr laut Bundesregierung zusätzliche Mittel von 1,8 bis 3,3 Mrd. Euro nötig. Diese Kosten würden auf rund 7 Mrd. Euro im Jahr 2019 anwachsen, so das Sozialministerium. Die Hauptlasten tragen allerdings die Kommunen.
Das Bundeskabinett hat jetzt auch anerkannt, dass die Soforthilfe für dieses Jahr endlich eine entsprechende gesetzliche Regelung erfordert und dass eine neue Konzeption für die Finanzhilfen an Städte und Gemeinden zur Bewältigung des Flüchtlingszustroms auf den Weg gebracht werden muss. Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf beschlossen, nach dem die Kommunen vom Bund in diesem Jahr eine Milliarde Euro zur Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen erhalten sollen. Ursprünglich waren 500 Millionen zugesagt worden. 500 Millionen Euro, die erst 2016 fließen sollten, werden nun vorgezogen. Die Unterstützung für die Kommunen muss in näherer Zukunft weiter aufgestockt werden. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat schon eine Erhöhung der Hilfen des Bundes auf rund drei Milliarden Euro ins Gespräch gebracht. Grund ist der massiv anwachsende Strom an AsylbewerberInnen aus Krisen-Ländern wie Syrien und Afghanistan, aber auch aus Ländern des Westbalkans. Inzwischen rechnet die Bundesregierung für dieses Jahr mit bis zu 800.000 Asylbewerbern - das wären fast vier Mal so viel wie im Vorjahr.
Ich setze mich dafür ein, dass die LINKE auf Bundesebene diesen Prozess der Sicherung der Finanzen für die Betreuung der Schutzsuchenden zügig umsetzt und damit den Kommunen endlich die Sicherheit für ihr Handeln vor Ort liefert. Richtig ist auch, dass diese neuen Herausforderungen eine Überprüfung und Korrektur der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen bedürfen, was im Zusammenhang mit der anstehenden Neuregelung des Länderfinanzausgleichs von unserer Partei mehrfach zum Thema gemacht worden ist.
In der aktuellen Situation ist der Solidaritätszuschlag das ideale Instrument, um den zusätzlichen Finanzbedarf zu decken. Die neue Situation zeigt, wie falsch es wäre, den Soli abzuschaffen oder auslaufen zu lassen. Allein für das kommende Jahr ist mindestens von einem Mehrbedarf von zwei bis drei Milliarden Euro allein für Unterbringung und Integration auszugehen. Auf Bund, Länder und Kommunen kommen jedoch weit mehr Aufgaben zu, auch längerfristig. Es ist völlig unstrittig, dass ein Neustart im sozialen Wohnungsbau gebraucht wird, weil der Wohnungsbedarf insbesondere in Ballungsgebieten bei weitem nicht gedeckt werden kann. Außerdem müssen und können wir in der Bundesrepublik die öffentlichen Investitionen für die Infrastruktur deutlich ausbauen. Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung darf nicht dazu verleiten, dass wir die großen Defizite bei den Investitionen vor allem im kommunalen Bereich und bei den Ländern übersehen. Die Flüchtlingsbewegung hat schlagartig enthüllt, wie fragil unsere öffentliche Infrastruktur ist. Für die Finanzierung der Herausforderung durch die Flüchtlingsbewegung und die massiven Defizite in der Infrastruktur müssen in den anstehenden Haushaltsberatungen im Bundestag Lösungen gefunden werden.
Diese politische Haltung ist auch wichtig, weil eine Gegenbewegung erkennbar ist: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will in der Asylpolitik Hürden aufbauen, um den Flüchtlingsstrom nach Deutschland einzudämmen. Die Spitzen beider Fraktionen einigten sich auf zwölf Eckpunkte, die vor allem angebliche „Anreize für eine Flucht nach Deutschland“ verringern sollen. So will die Unionsfraktion bei der Erstaufnahme von Flüchtlingen in Zukunft nur noch Sachleistungen gewähren. Denn „Bargeld bildet für Menschen aus armen Ländern einen nicht zu unterschätzenden Anreiz, nach Deutschland zu kommen“, meint die Union.
Der Errichtung von rechtlichen oder finanziellen Hindernissen wird sich die LINKE entschieden widersetzen. Die Logik der christlichen Unionsparteien ist erbärmlich oder wie der Papst kürzlich allgemein sagte – eine Schande. Es geht um Hilfe in existentiellen Notlagen. Vor dem Hintergrund der dramatischen Situation in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens („failing states“) erreicht die Zahl der Fluchtsuchenden auch in Richtung Europa in diesem Jahr erneut neue Höchststände. Und anders als in den 1990er Jahren, während der Kriege auf dem Balkan, rechnet diesmal niemand mit einem Rückgang der Flüchtlingszahlen. Das bedeutet, dass kurzfristige Anstrengungen notwendig sind, aber auch ein langfristiger Krafteinsatz.
Auf die wachsende Zahl von Schutzsuchenden erneut mit repressiven Vorschlägen und Maßnahmen zu reagieren, die – abgesehen von der unakzeptablen Begründung – schon in der Vergangenheit nachweislich wirkungslos geblieben sind, arbeiten letztlich dem Rechtspopulismus zu.
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