Konturen einer europäischen Lösung: Fluchtursachen nachhaltig bekämpfen und ein europäisches Investitions-programm

Von Axel Troost

08.03.2016 / 08.03.2016

Führende Sozialdemokraten[1] schließen nationale Alleingänge in der Flüchtlingspolitik aus. Sie fordern ein öffentliches Investitionsprogramm und kritisieren Finanzminister Wolfgang Schäuble deutlich. Um es vorweg zu sagen: eine solche Linie mit entsprechenden Taten haben wir von der LINKEN seit Beginn der großen Koalition immer wieder von der bundesdeutschen Sozialdemokratie eingefordert.

Vor dem wichtigen Krisengipfel bezieht die SPD Position: die europäische Strategie der Bundesregierung sei richtig. Die drei Autoren Norbert Römer, Thorsten Schäfer-Gümbel und Ralf Stegner erklären aber auch: „Angela Merkel und ihr Finanzminister müssen sich aber den Vorwurf gefallen lassen, dass europäische Solidarität heute auch deshalb so schwer zu erreichen ist, weil sie allzu lange eine harsche Austeritätspolitik in Europa durchgesetzt haben. Sie haben die Griechen in der Finanz- und die Italiener in der Lampedusakrise zu lange allein gelassen.“

Die Schlussfolgerung der führenden Sozialdemokraten: wir werden niemals zulassen, dass mitten in Europa Flüchtlingsfamilien an Grenzzäunen stranden und einem humanitären Desaster überlassen werden. Deutschland brauche einen Integrationsplan und ein Solidarprojekt. Ihr Ziel: Dass die Hoffnung auf sozialen Aufstieg wieder stärker wächst als die Angst vor dem Abstieg. All das werde nur gelingen, wenn wir jetzt zu Investitionen bereit sind, die für den Erhalt unserer Wirtschaftskraft und für ein selbstbestimmtes Leben in sozialer Sicherheit unabdingbar sind. Jetzt brauchen wir ein Integrationspaket. Das müssen wir notfalls auch gegen den Bundesfinanzminister durchsetzen. Wolfgang Schäuble glaubt, dass Askese die Voraussetzung für Wachstum sei, ganz gleich, welche Anforderungen die Zukunft an uns stellt. Er irrt. Wenn wir jetzt die Kraft für dringend notwendige Zukunftsinvestitionen aufbringen, wird Deutschland in zehn Jahren ein stärkeres und sozial gerechteres Land sein, als es heute ist.

Diese Erkenntnis kann in der Tat den dringend notwendigen Kurswechsel bedeuten, wenn die bundesdeutsche Sozialdemokratie sich praktisch politisch hinter dieses Programm stellt und auch vor einer Kooperation mit Grünen und Linkspartei nicht länger zurückschreckt. Gehen wir die Punkte durch:

1. Es geht darum, dass dieses Europa einen gemeinsamen Weg zur Bewältigung der Flüchtlingsfrage einschlägt. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Fluchtursachen vor allem im Nahen und Mittleren Osten. Niemand soll glauben, dass durch einseitige Grenzschließungen die Probleme beseitigt werden könnten.

Wir brauchen einen Ausbau der Finanzierung für die vor Ort Hilfen der UN-Hilfs-organisationen. Und die europäischen Mitgliedsländer müssen vor allem Griechenland bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms unterstützen. Um den Ansturm der Flüchtlingsmassen zu bewältigen, braucht Griechenland die in Brüssel beantragte Nothilfe von 480 Mio. Euro, weil die Regierung damit rechnet, bald rund 100.000 Menschen versorgen zu müssen, die wegen der Schließung der Grenze nach Mazedonien nicht weiterkommen.

Die Staats- und Regierungschefs sollten dem Vorschlag der EU-Kommission zustimmen, die ein solches Nothilfepaket von 700 Mio. Euro bis 2018 beantragt hat.

Dadurch könnten die Voraussetzungen geschaffen werden, alle verhängten Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums bis Jahresende zu beenden. Um eine Rückkehr zu Schengen bis Jahresende möglich zu machen, will die Kommission drei Prioritäten setzen: eine Sicherung der Schengen-Außengrenze in Griechenland, das Ende des Durchleitens von Flüchtlingen innerhalb der EU und entlang der Balkanroute und ein Ende von Alleingängen in der Flüchtlingskrise.

Griechenland ist vom Zustrom von Migranten aus dem Osten nach Europa derzeit am meisten betroffen. 131.724 Personen machten dieses Jahr schon die Reise übers Mittelmeer, 122.637 von ihnen landeten in Griechenland (Angaben des UN-Flüchtlingswerks UNHCR). Mit der Grenzsperre der westlichen Balkanländer gegen Griechenland wird die Lage in Griechenland verschärft, weil nur noch geringe Zahlen von Migranten – 580 pro Tag – nach Norden weiterreisen können. Zehntausende Menschen übernachten derzeit in Griechenland im Freien. Dass Griechenland in der gegenwärtigen Notlage Unterstützung braucht, hat auch die EU-Kommission erkannt. Die ersten 300 Mio. Euro des Nothilfepakets sollen so schnell wie möglich schon im laufenden Jahr fließen. Dazu will die EU-Kommission den EU-Staaten und dem Europaparlament einen Nachtragshaushalt vorschlagen. Je 200 Mio. Euro sind für 2017 und 2018 vorgesehen.

Die EU-Kommission erwägt auch, die Flüchtlinge in Griechenland mit Bargeld und Lebensmittelgutscheinen zu versorgen, wie bereits in der Türkei und im Nahen Osten. Eingesetzt werden können die Mittel laut Kommission unter anderem für Nahrungsmittel, Unterkunft und die medizinische Versorgung von Flüchtlingen. Der zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides mahnte zugleich, dass auch diese Hilfe „nicht all unsere Probleme lösen“ könne. Es gebe keine „Zauberformel“ dafür. Ein Ende der Flüchtlingskrise könne „nur eine europäische Lösung“ bringen.

Gelingt es auch in Griechenland menschenwürdige Bedingungen für die dort festsitzenden Flüchtlinge zu schaffen und gleichzeitig auch, dass die Außengrenzen der EU wieder besser geschützt, das Schlepperwesen bekämpft, die Flüchtlingslager in den Syrien umgebenden Staaten besser ausgestattet werden und die Schengen- und Dublin-Regeln trotz allen Missständen wieder in Kraft sind, wird der Zustrom der Migranten zwar zurückgehen, aber nicht versiegen.

2. Auf dem Gipfel wird entschieden, ob eine gemeinsame europäische Antwort eine Lösung unter Einschluss Griechenlands wird – oder eine, die Griechenland zu einem großen Auffanglager der Nahostkriege macht wie den Libanon, die Türkei und Jordanien. Daran könnte das Land zerbrechen, was zur Gefahr für die gesamte EU werden könnte.

3. Es ist ein Ausdruck der gegenwärtigen Spaltung der EU, dass der EU-Gipfel zur Bewältigung der Flüchtlingskrise im Abschlussdokument erklärt, die Balkanroute komplett zu schließen und damit Griechenland zwingt, den Löwenanteil der Flüchtlinge aufnehmen. Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann macht sich dabei zum Sprecher der harten Linie: „Ich bin sehr dafür, mit klarer Sprache allen zu sagen: Wir werden alle Routen schließen, die Balkanroute auch“. De Facto soll Griechenland das große gesamteuropäische Erstaufnahmelager werden. Frankreichs Präsident Francois Hollande assistiert: „und dabei müssen wir Griechenland helfen.“

4. Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dagegen bemühen sich, den wohl mehrheitlich getragenen harten Kurs gegenüber Griechenland zu entschärfen, indem sie auf eine gemeinsame Lösung mit der Türkei setzen, die zum Ziel hat, die Zahl der ankommenden Migranten für alle EU-Staaten zu verringern, einschließlich Griechenland. Tatsächlich kommen in Deutschland wegen der Sperrungen entlang der Balkanroute nur wenige Hundert Flüchtlinge pro Tag an. Bislang waren es laut Bundespolizei im März 2.339 Menschen und damit im Schnitt 390 pro Tag. Dagegen stellt sich Griechenland den hohen Herausforderungen und will bis Anfang kommender Woche die zugesagten Unterkünfte für 30.000 Migranten und Flüchtlinge geschaffen haben. Zusätzlich sollen die Vereinten Nationen 20.000 Unterkünfte bereitstellen.

5. Trotz der im November letzten Jahres beschlossenen Vereinbarungen zwischen der EU und der Türkei für deren größere Anstrengungen bei der Unterbringung und Rücknahme von Migranten kam es bisher nicht zu einer Verständigung über die Finanzierung der Türkei-Milliarden. Der Türkei reichen die bisher zugesagten 3 Mrd. Euro nicht aus und ihre eigenen Anstrengungen bezüglich der Rücknahme zurückgeschaffter, nicht asylberechtigter Migranten und der Unterbindung des Schlepperwesens sind bisher sehr zurückhaltend.

Von der Migrationswelle noch schwerer betroffen als Griechenland sind die Länder weiter östlich. Nach einer Zusammenstellung von Amnesty International befinden sich 2,5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus Syrien in der Türkei, 1,1 Millionen in Libanon (20 Prozent der Bevölkerung), 635.000 in Jordanien (10 Prozent der Bevölkerung), 245.000 im Irak (dort gibt es zudem 3,9 Millionen interne Vertriebene). Die Aufnahmebereitschaft gegenüber den flüchtenden Nachbarn ist zwar groß, aber die Aufnahmekapazitäten sind zum Teil ziemlich erschöpft. Viele Flüchtlinge sehen auch keine Zukunft für sich in diesen Ländern – sie wollen weiter. Der Druck wird erst abnehmen, wenn der Syrien-Krieg eingedämmt oder beendet ist. Ob der vereinbarte Waffenstillstand Bestand hat; ist zweifelhaft. Ein dauerhafter Frieden mit Chancen zu einem durch Europa unterstützten Wiederaufbauprogramm dürfte nicht schnell zu erreichen sein.

6. Die Belastungen Griechenlands durch die Flüchtlingskrise können von dem dritten Memorandum-Pakt und der noch offenen Frage einer Schuldenerleichterung für Griechenland nicht abgetrennt werden. Noch besteht nicht zuletzt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) darauf, diese beiden Themen nicht miteinander zu vermischen.

Die Zeit für eine Lösung drängt. Schäuble selbst wartet auf einen Vorschlag der Troika, um einen griechischen Finanzengpass zu vermeiden. Er kenne die Finanzierungsnöte für die kommenden Wochen. „Aber es ist an den drei Institutionen, eine Lösung für den Finanzierungsbedarf Griechenlands zu finden.“ Athen muss einen Spielraum bei der von den Gläubigern geforderten Rentenreform erhalten; dies gilt vor allem für den Internationale Währungsfonds (IWF), der noch weitergehende Maßnahmen fordert, als sie Athen bisher akzeptiert hat.

Wie sehr offenbar die Zeit drängt, machte Athens Finanzminister Euklid Tsakalotos deutlich, als er vor einem Ausschuss des Europaparlaments in Brüssel vor einem Scheitern des Hilfspakets über 86 Mrd. Euro für sein Land warnte, sollten sich die Geldgeber nicht mit der laufenden Überprüfung beeilen. „Wir haben nicht endlos Zeit“, warnte er da und kündigte an, die Lage in der Eurogruppe erörtern zu wollen. Damit es nicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung kommt, müssen die Geldgeber bald über eine Lösung für das unter Druck stehende Land nachdenken.

7. Der Zustrom der Flüchtlinge trifft sowohl in der Bundesrepublik als auch in den anderen europäischen Mitgliedsstaaten auf eine seit Jahrzehnten ausgedörrte staatliche Infrastruktur (Verwaltung, Schule, Justiz, Politik, Freizeitsport, Bibliotheken etc.) als Konsequenz der neoliberalen Verschlankung des Staates. Vor allem sind der massiv geschrumpfte „sozialverträgliche“ Wohnungsmarkt und der Mangel der Strukturen für eine Integrationsarbeit ein massives Problem. Die materiellen Konsequenzen des bisherigen Abbaus staatlicher Tätigkeiten (z.B. Absenken der öffentlichen Investitionen von früher stets 10 auf 5 Prozent des BIP in den letzten Jahren) führten und führen noch immer auch ohne Flüchtlinge neben der Zersetzung des sozialen Gemeinwesens zu einer Auflösung staatlicher Infrastrukturen zu Lasten unserer wirtschaftlichen Leistungs- und Zukunftsfähigkeit.

Das gilt verschärft auch in den anderen EU- bzw. Euro-Staaten: Ohne Abschied von der „Schwarzen Null“ und ohne neue öffentliche Kredite ist das Problem nicht lösbar.

„Nur mehr Schulden“ lösen jedoch nicht das bisherige Gerechtigkeitsproblem, da über Jahre Steuern auf Vermögen, hohe Einkünfte, Veräußerungsgewinne, hohe Erbschaften und hohe Kapitaleinkünfte gesenkt wurden, während Normaleinkünfte aus Arbeit relativ und in der Summe stärker belastet wurden. Nichts gefährdet den Integrationsprozess mehr als eine ungerechte Verteilung der Lasten. Und nichts wäre deshalb dringlicher und gerechter angesichts der gewaltigen Haushaltslasten, die auf uns zukommen, als die finanzielle Neuorientierung.

Ein Kurswechsel weg von der europäischen Austeritätspolitik ist notwendig und machbar. Wir brauchen eine europaweite Abschaffung der Schuldenbremse, also des Stabilitätspaktes für alle EU-Staaten, da ihre Einhaltung auch ohne Flüchtlingsausgaben für fast alle Staaten schlicht eine Illusion ist.

Eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage und eine Überwindung der europäischen Krise benötigt eine umfassende Verständigung. Werden weiterhin kurzfristig greifende nationalstaatliche Alleingänge versucht, dann sind die Folgen deutlich. Der UNHCR–Kommissar hält zu Recht fest: „Unsere Auffassung war stets: Europa kann selbst mit Flüchtlingen umgehen. Jetzt haben wir Einsätze in Griechenland, aber auch – außerhalb der EU – in Mazedonien und Serbien. Unsere Botschaft an Europa lautet: Reißt euch zusammen, und kümmert euch selbst drum. Wenn unsere Hilfe aber benötigt wird, werden wir da sein. Unsere Angst ist, dass das Schließen nationaler Grenzen in Europa dazu führt, dass sich Hunderttausende Flüchtlinge in Griechenland einfinden werden. Ganz ehrlich, wenn es dazu kommen sollte, brauchten wir sehr viel Hilfe.“

Ich werde mich auch weiterhin dafür stark machen, jeder Tendenz nationalstaatlicher Überlegungen entgegenzutreten. Diese eröffnet keine friedliche Perspektive für die Zukunft.


[1] Norbert Römer, Thorsten Schäfer-Gümbel, Ralf Stegner im Tagesspiegel vom 4.3.2016

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