Hat Europa eine Zukunft?

30.11.2016 / Axel Troost

Der Schlüssel zu einem Kurswechsel in Europa liegt allererst im eigenen Land. Und mit Blick auf die Verankerung der Europa-Idee in der bundesdeutschen Wahlbevölkerung können wir ermutigt für eine Reformkonzeption eintreten. Eine deutliche Mehrheit der deutschen Wahlbevölkerung kann sich keine nationale Lösung der Flüchtlingsproblematik vorstellen und setzt auf eine europäische Reformperspektive. Dabei gibt es keine Illusionen über die politischen Hindernisse.

 

In der Tat: Europaskepsis ist im Jahr 2016 nicht nur in Großbritannien, den Niederlanden, Polen oder Ungarn verbreitet: eine neuere Studie[1] belegt, auch die Menschen in Deutschland haben ihre Zweifel – zum Beispiel, was den Umgang der Europäischen Union mit den drängenden politischen Herausforderungen angeht. Nur 35 Prozent der Deutschen sehen die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf dem richtigen Weg, 62 Prozent nicht. Besonders groß ist etwa die Unzufriedenheit über die Unterstützung der anderen EU-Staaten in der Flüchtlingskrise. 73 Prozent sind der Meinung, Deutschland sei allein gelassen worden. Mehr Transparenz und Bürgernähe wünschen sich 96 Prozent der Deutschen, eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten 95, eine enger abgestimmte Wirtschaftspolitik 87 und eine stärkere Rolle des EU-Parlaments 61 Prozent.

Und doch: die deutliche Mehrheit der BundesbürgerInnen will ein stärkeres Engagement zur Weiterentwicklung der EU. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist nach wie vor von Europa überzeugt. 39 Prozent sehen eher Vorteile in der EU-Mitgliedschaft, 12 Prozent eher Nachteile. 48 Prozent sehen sowohl Vor- als auch Nachteile. 82 Prozent wünschen sich eine größere Rolle der EU in der Welt. Nur 25 Prozent finden es gut, dass europakritische Bewegungen an Einfluss gewinnen. Nur 25 Prozent sorgen sich darum, aufgrund des Zusammenwachsens von Europa die eigene nationale Identität zu verlieren. Nur 31 Prozent wünschen sich eine geringere Bedeutung der EU und mehr Einfluss der Nationalstaaten.

Der Forderung von AfD, CSU und Teilen der CDU in der Flüchtlingskrise, die deutschen Grenzen zu schließen, schließen sich lediglich 21 Prozent der Deutschen an, 77 Prozent sind dagegen. Umso größer ist die Mehrheit derer, die der EU positive Eigenschaften zuschreiben. Sie ist eine Wertegemeinschaft, finden 81 Prozent, ein Friedensprojekt (79), „schützt unsere Freiheit“ (75), lässt die Bevölkerungen zusammenwachsen (73). Immerhin 67 Prozent sind der Ansicht, dass die EU auf gegenseitiger Solidarität basiert – etwas, das ihr von Gegnern abgesprochen wird.

Diese empirische Momentaufnahme belegt, dass die Mehrheit der Deutschen trotz schwerwiegender Probleme in der Flüchtlingsfrage oder der ungleichen Entwicklung in vielen Regionen ein realistisches Bild von Europa und der EU haben. Mag sein, dass in einigen Krisenländern die praktische Existenz Europas mehrheitlich zugunsten einer Rückbesinnung auf nationalstaatliche Ressourcen abgeschrieben wird, für eine Mehrheit der BundesbürgerInnen ist die Stärkung der europäischen Konstruktion ein lohnendes Engagement.

Fakt ist aber auch: das der aktuelle Widerspruch zwischen den Europa-BefürworterInnen und Europa-SkeptikerInnen oder -gegnerInnen nicht dauerhaft Bestand haben kann. Wir sind eben auch in Europa mit einem Wandel in den politischen Kräfteverhältnissen konfrontiert. In Großbritannien haben rechtsnationale Eliten die Abgehängten und Unzufriedenen im Namen von Abschottung, Xenophobie und Hochmut für einen Brexit eingesammelt. Mit der Wahl des populistischen Demagogen Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA unter dem Slogan „America First“ geht für die EuropäerInnen eine Ära zu Ende, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Normen und Inhalt des demokratischen Kapitalismus bestimmte. Die Aufwärtsbewegung des Rechtspopulismus in Europa und hierzulande wird dadurch weitere Impulse erhalten. In Österreich stehen bei der Bundespräsidentenwahl alle Zeichen für einen Sieg des rechtsextremen Kandidaten der FPÖ Hofer und in Italien hat der sozialdemokratische Ministerpräsident Renzi seinen Verbleib im Amt mit dem Gewinn des Verfassungsreferendums verknüpft. In Frankreich setzen die konservativen bürgerlichen Kräfte mit dem knallharten neoliberalen François Fillon auf einen Kandidaten des eher klassischen gaullistischen Konservativismus in Fragen der Innenpolitik, der ankündigt, die 35-Stunden-Woche sofort nach der Wahl abzuschaffen, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren, das Rentenalter heraufsetzen und eine halbe Million BeamtInnenstellen zu streichen. „Frankreich braucht einen Schock“, sagt er. Er wolle einen „kompletten Neustart“.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Die Hemmschwellen gegenüber der rassistischen und EU-kritischen Argumentation seitens der Parteien der neuen Rechten sind deutlich herabgesetzt, so dass in vielen Ländern der inszenierte Gestus vom mutigen „Tabubruch“, also die Selbstinszenierung als politische Akteure, die aufräumen mit der moderierenden Sprache und den Verkehrsformen der liberalen, Interessen vermittelnden und Rechte garantierenden parlamentarischen Demokratien, in offene Gewalt gegen die Schwächsten umschlägt. Ein wesentlicher Faktor für die Herabsetzung der Hemmschwellen ist die direkte oder indirekte Beteiligung dieser Parteien an den Regierungen. Jedes Mal wenn eine der europakritischen und fremdenfeindlichen Parteien an der Regierungsgewalt beteiligt wird, wird nicht nur der Zerfall der EU beschleunigt, es erhöht sich auch die Gefahr für internationale Konflikte.

Für andere EU-Länder sehen die Demoskopen ein breites und wachsendes Wählerpotenzial, aus dem Parteien wie die Anti-EU-Partei Ukip in Großbritannien oder der Front National in Frankreich schöpfen könnten. Dabei sitzen die PopulistInnen keineswegs nur am rechten Rand des Politspektrums. Die PopulismusanhängerInnen können –wenn ihnen nicht energisch entgegengetreten wird – sich immer stärker ausbreiten. Sollte es einer/m PolitikerIn oder einer Partei gelingen, erhebliche Zahlen von WählerInnen mit rechtspopulistischen Tendenzen hinter sich zu einen, dann könnten sie zu einer ernsthaften Herausforderung der demokratischen politischen Ordnung werden. Und selbst wenn solche Parteien nicht die politische Macht gewinnen können, so übt die Masse ihrer WählerInnen Einfluss auf die Entwicklung der Länder Europas aus.

Im Bewusstsein der WählerInnen bildet sich die reale konfliktreiche Konstellation in Europa ab. Die europäische Integration befindet sich in der schwierigsten Phase seit Inkrafttreten der Römischen Verträge. Die Europäische Union zeigt sich nicht in der Lage, die Strukturmängel der Maastrichter Wirtschafts- und Währungsunion zu heilen. In der Flüchtlingskrise ist es den EU-Mitgliedstaaten nicht gelungen, eine gemeinsame Politik mit einem gemeinschaftlichen Verteilungsschlüssel für Zufluchtsuchende zu entwickeln. Das Vertrauen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten erodiert. Das Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedsländern ist angespannt. In etlichen Teilen Europas haben sich Re-Nationalisierungstendenzen verstärkt.

Angesichts der negativen Folgen einer weiteren Zerstörung Europas und auch angesichts weiterer Beschädigungen des existierenden Euro-Währungssystem ist es vernünftiger, für eine radikale Reform des Euroregimes zu kämpfen. Dabei geht es um einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel: Die Aufhebung der institutionellen Fehlkonstruktion der Maastrichter WWU ist mit dem Übergang zu einer alternativen Wirtschaftspolitik sowie einer solidarischen europäischen Transfer-, Sozial- und Finanzmarktpolitik zu verbinden. In diesem Alternativprogramm sind folgende Elemente essentiell: 1. eine neue europäische Wirtschaftspolitik, 2. eine Ausgleichsunion zur Vermeidung von außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen den Mitgliedstaaten, 3. eine Vergemeinschaftung der Schulden(aufnahme)politik, 4. eine europäische Regulierung der Sozialpolitiken zur Überwindung des Systems der Wettbewerbsstaaten, 5. eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte sowie 6. eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Europäische Wirtschaftsregierung.[2]

Durch einen europäischen Politikwechsel könnte die Basis zur Realisierung überfälliger Gesellschaftsreformen geschaffen werden – darunter die immense Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die besitzenden und vermögenden Klassen zu stoppen, soziale Ungleichheit und grassierende Armut spürbar abzubauen, Ressourcen für sozial-ökologische Umbauprogramme zu erschließen, kulturellen und Bildungsfortschritt wieder zu ermöglichen. In Frankreich, Spanien, Portugal, Italien und Griechenland hätten die Regierungen einen erweiterten Handlungsspielraum dafür, dass durch die Aufhebung der Austeritätspolitiken Impulse für eine neue, sozial-ökologische Wachstumspolitik geschaffen würden. Eine weitere Komponente der neuen Wirtschaftspolitik wäre ein umfassendes europäisches Investitionsprogramm. Infolge der Krise sind die Investitionen in einigen Staaten regelrecht kollabiert – in Griechenland sind sie um 70 Prozent eingebrochen, in Italien, Spanien und Portugal um 30 Prozent. Im Durchschnitt der Eurozone liegen die Investitionen etwa 15 Prozent niedriger als vor der Krise. Auch in Deutschland, wo der Vorkrisenstand inzwischen wieder geringfügig überschritten wird, liegt die Investitionsquote dennoch deutlich unter dem Stand von vor 20 Jahren.

Schließlich kann durch eine Stärkung Europas auch ein Abbau der großen Entwicklungsunterschiede eingeleitet werden. Es geht um ein gemeinsames Hinwirken auf einen Ausgleich von beiden Seiten, d. h. von Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen und solchen mit -defiziten. Die Idee einer Ausgleichsunion ist inspiriert vom Vorschlag von John Maynard Keynes, der in den 1940er Jahren im Auftrag der britischen Regierung mit der International Clearing Union einen ähnlich gerichteten Vorschlag in die Verhandlungen über das Weltwirtschaftssystem der Nachkriegszeit einbrachte. Schon Keynes klagte darüber, dass die Verantwortung für Leistungsbilanzungleichgewichte und deren Korrektur immer nur den Schuldnern aufgebürdet worden sei.

Angesichts der unbestreitbaren Krise der EU und angesichts der ermutigenden pro-europäischen Mehrheit bei der bundesdeutschen Wahlbevölkerung plädiere ich für eine Stärkung Europas. Durch so eine Politik können wir den Euro und die EU über Radikalreformen stabilisieren und erneuern. Ansatzpunkte sind eine gemeinsame Sozial- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaat ebenso wie eine dezidierte Demokratisierung der EU.

 

[1] Die Sicht der Deutschen auf Europa und die Außenpolitik Eine Studie der TNS Infratest Politikforschung im Auftrag der Körber-Stiftung Oktober 2016

 

[2] Vgl. dazu im Einzelnen: Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan, Frank Bsirske, Joachim Bischoff, Mechthild Schrooten, Harald Wolf, Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union. www.axel-troost.de

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