»Der Bedarf wird stetig größer«

Die Sozialarbeiterin Gertrud Page über Schwierigkeiten bei der Beratung von Betroffenen / Gertrud Page arbeitet im Berliner Stadtteil Marzahn als allgemeine Sozialberaterin

13.08.2008 / Fragen: Fabian Lambeck, Neues Deutschland

ND: Der DGB meldete in der letzten Woche, dass im 1. Halbjahr 2008 fast 62 000 Hartz IV-Empfänger gegen ihre Bescheide geklagt hätten. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen, ist da eine Zunahme erkennbar?


Page: Ich kann dazu nur sagen, dass die Probleme komplexer geworden sind und Arbeitslosengeld II-Empfänger immense Probleme haben, ihre Bescheide zu verstehen. Sie kommen zu uns, um sich erklären zu lassen, warum sie nun weniger Geld bekommen oder warum etwas auf eine bestimmte Weise berechnet wird. Da können wir den Leuten helfen. Aber ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, wie viele von diesen Menschen vor das Sozialgericht gehen. Ich kann nur beraten und den Betroffenen helfen, ihre Bescheide zu verstehen. Somit gebe ich ihnen die Sicherheit, wenn sie beim Jobcenter ihre Ansprüche durchsetzen wollen, sie einen Widerspruch schreiben oder ähnliches. Das ist schon eine Hilfe für die Leute, dass sie wissen, was ihr gutes Recht ist. Da können wir ihnen helfen. Alles andere entzieht sich zum Teil meiner Kenntnis.

Der Berliner Sozialrichter Michael Kanert sieht den Hauptgrund dieser Klagewelle in der »strukturellen Überforderung« der Job-Center. Teilen Sie diese Einschätzung, wird denn in den Job-Centern viel falsch gemacht?
Das weiß ich nicht genau. Wir haben direkt mit den Mitarbeitern oder mit den Bearbeitern in den Job-Centern überhaupt keinen Kontakt. Ich weiß also nicht, ob die Kollegen dort gut genug ausgebildet sind oder nicht. Da gibt es keine Telefonnummern. Wir können also nicht den direkten Draht wählen, wenn es ein Problem gibt.

Sind die Bescheide vom Job-Center, mit denen die Betroffenen zu Ihnen kommen, fehlerhaft oder haben die Arbeitslosen einfach nur Probleme, die komplizierte Rechtslage zu verstehen?
Die uns vorgelegten Bescheide sind auch zum Teil fehlerhaft. Die Menschen, die zu uns kommen, die vermuten schon, dass da irgendwas nicht stimmt. Entweder der Bescheid weist Fehler auf, das Geld kommt nicht und die Miete kann nicht gezahlt werden. Das sind die Fälle, mit denen wir es zu tun haben. Und da wäre es natürlich gut, wenn man jetzt einen direkten Draht zu den Job-Centern hätte. So könnten die Mitarbeiter noch einmal nachrechen, ob sie sich da eventuell vertan haben?

Würde es Ihre Arbeit erleichtern, wenn Sie einen Ansprechpartner im Job-Center hätten?
Sicherlich, ein kürzerer Weg wäre wünschenswert, und möglicherweise wären manche Probleme so schneller aus der Welt zu schaffen. Ein direkter Ansprechpartner in den Job-Centern wäre für beide Seiten von Vorteil.

Sie beraten also die Hartz IV-Empfänger. Danach gehen die Menschen mit diesem Beratungsergebnis zurück zum Job-Center – oder ziehen sie gleich zum Sozialgericht?
Voraussetzung ist ja, dass erst einmal ein Widerspruch eingelegt wird. Und dann, wenn dieser nicht bearbeitet wird oder die Bearbeitung zu viel Zeit in Anspruch nimmt, kann man natürlich zum Sozialgericht gehen.

Wie viel Zeit vergeht, bis so ein Widerspruch verhandelt wird?
Das ist sehr unterschiedlich. Hier sind ja die sogenannten Widerspruchsbeiräte zuständig, die setzen sich ja aus Mitarbeitern zusammen. Ich sitze zum Beispiel auch in so einem Widerspruchsbeirat – allerdings beim Sozialamt. Alle vier bis sechs Wochen tagt dieser Beirat und dann wird über die Widersprüche entschieden. Und wenn sehr viele Widersprüche vorliegen, dann dauert es unter Umständen sehr lange. Das ist natürlich ein Problem. Und viele können die Zeit auch nicht abwarten, weil es eben finanziell nicht weitergeht. Diese Betroffenen entscheiden sich dann für das Sozialgericht, um diese Dinge etwas schneller klären zu lassen.

In welchen Bereichen gibt es Beratungsbedarf bei Ihren Klienten?
Wir sehen uns die vorgelegten Bescheide an, die uns vorgelegt werden, und da ist ja dann alles enthalten: Die Miete ist ja ein Teil dieser Berechnung. Die monatlichen Berechnungen oder die Bewilligungsbescheide, das sind die Dinge, die wir uns ansehen müssen, da gibt es die meisten Fragen.

Wer ist der Träger Ihrer Beratungsstelle?
Unser Träger ist die Immanuel-Diakonie-Group, also ein freikirchlicher Träger, der in Wannsee sitzt. Wir nennen uns Beratung plus Leben und sind Mitglied beim Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz.

Müsste die öffentliche Hand Beratungsstellen wie Ihre noch stärker fördern?
Wir werden ja finanziert aus öffentlichen Mitteln. Das geht über das Diakonische Werk und wird dann an uns weitergereicht. Von daher werden wir schon von staatlicher Seite gefördert, aber das wird eben immer weniger.

Es steht also immer weniger Geld zur Verfügung?
Ja, und dabei wird es für uns immer schwieriger. Die Beratungsfälle nehmen ja rasant zu, der Bedarf wird stetig größer, aber unsere finanziellen Mittel schwinden sozusagen. Da haben wir unser Problem.

Gibt es denn eine offizielle Begründung, warum die Gelder gekürzt werden?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es wäre wünschenswert, wenn unsere Arbeit doch besser honoriert wäre. Denn es ist tatsächlich so, dass es einen riesigen Bedarf gibt, aber immer weniger Beratungsstellen. Wir hatten vorher noch eine in Lichtenberg, die wurde – allerdings aus anderen Gründen – geschlossen. Und damit gibt es wieder eine Beratungsstelle weniger. Die Leute kommen jetzt also aus zwei Bezirken oder teilweise von noch weiter her.