Ein bitterer Befund, DEUTSCHE ZWEIHEIT
Von Gabriele Oertel im Feuilleton Neues Deutschland
Ginge es nach der Art und Weise, wie Jubelfeiern zu diversen Jahrestagen organisiert werden, wäre die deutsche Einheit schon am 3. Oktober 1990 vollendet gewesen. Auf anderen Gebieten ist sie noch 20 Jahre danach weit von Vollendung entfernt. Zu diesem Schluss kommt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die sich nicht nur mit ihren Memoranden gegen den Zeitgeist stemmt. Folgerichtig nennen die Memo-Wissenschaftler, die auch seit Jahren den Vereinigungsprozess beleuchten, ihre jetzt im PapyRossa Verlag erschienene Bilanz denn auch »Deutsche Zweiheit«.
Doch nicht nur wegen des Titels unterscheidet sich diese Analyse der sozial-ökonomischen Prozesse von den meisten zum Jubiläum zuhauf erschienenen Publikationen – in denen die einen sich am desaströsen Zustand der DDR kurz vor deren Ende weiden und die anderen genau den weit von sich weisen. Vielmehr atmet die »Zweiheit« eine auf Fakten gestützte Sachlichkeit, die offenbar in bewusster Abgrenzung zu Häme wie Betroffenheit gewählt wurde – und den Autoren für einen kritischen und differenzierten Blick auf DDR-Wirtschaft wie falsche Weichenstellungen im für sie »alles in allem« gescheiterten Einigungsprozess geboten schien.
Der Fokus der 16 Analysten aus Ost und West richtet sich nicht ausschließlich auf den schwierigen Transformationsprozess im Osten, sondern erweitert den Horizont auf die gesamtdeutsche Entwicklung. »Die Veränderungen durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik betrafen in erster Linie die ostdeutsche Bevölkerung. Sie waren aber nicht auf den Osten beschränkt, sondern hatten auch Konsequenzen für die alte Bundesrepublik und ihre Bevölkerung«, lautet der Befund. Dass diese Konsequenzen nicht nur die West-Ost-Finanztransfers betrafen und die Wirtschaft im Westen – selbst reform- und veränderungsbedürftig – von der Einheit trefflich profitierte, ist bekannt. Nachgewiesen wird aber auch, welche negativen Auswirkungen das Verschwinden einer Alternative zum kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem für den westlichen Landesteil hatte: neue Auseinandersetzungen um den Erhalt des Sozialstaates, Arbeitskämpfe um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Fest steht, vieles von dem, was heute Westdeutschen zugemutet wird, wurde zunächst im Osten als Testballon gestartet. Fest steht aber auch, dass der bloße Nachbau West einem wirklichen Aufbau Ost noch immer im Wege steht. Wenig freudvolle Umfrageergebnisse bei der Bewertung der Einheit hier wie da sind die Folge.
Dem Titel getreu untersucht werden die wirtschaftliche Entwicklung in Ost wie West seit der Vereinigung wie auch Wirkungen öffentlicher Finanztransfers auf beide Landesteile. Breiten Raum räumen die Autoren der ökonomischen Entwicklung in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Einheit ein, um grundverschiedene Ausgangs- und Entwicklungsbedingungen zu verdeutlichen. Aufstieg und Zerstörung des »Rheinischen Kapitalismus« in der BRD werden dabei genauso seziert wie Erfolge und Scheitern des Staatssozialismus in der DDR. Derlei historischer Kontext, der in vielen anderen Publikationen nur am Rande Erwähnung findet, dürfte dem jüngeren Lesepublikum manche Erhellung bieten. Denn viel mehr als Schlagworte, wie das vom goldenen Wirtschaftswunder auf der einen und das von der ruinösen Planwirtschaft auf der anderen Seite, ist dank 20-jährigem ideologischem Trommelwirbel oft nicht hängengeblieben.
Dass die Autoren es nicht beim Beschreiben von Geschichte und Gegenwart belassen, dürfte der eingeweihte Leser auch nicht erwartet haben. Geradezu ein Muss war für sie, Elemente eines alternativen Reformprojektes für einen politischen Wirtschaftswechsel vorzustellen. Veränderung prekarisierter Arbeitsverhältnisse, Zurückdrängung der Finanzmärkte, sozial-ökologischer Umbau, Weiterentwicklung sozialer Sicherungssysteme, sozial-gerechtere Steuerreform und solidarische Ökonomie sind Stichworte auf ihrer Agenda wider die realkapitalistischen Verhältnisse in der Bundesrepublik.
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Hg.):
Deutsche Zweiheit – Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?
PapyRossa Verlag. 235 S., br., 16,90 ¤.
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