Almosen zum Einheitsfest
Von Christa Luft
Reden und Berichte zur zwanzigsten Wiederkehr des Einheitstages haben Konjunktur. Bei der Bundesregierung und in den meisten Medien ist die Tonlage die übliche: Was hinter uns liegt, ist eine Erfolgsgeschichte. In den neuen Ländern blühen die Landschaften, und Deutschland als Ganzes steht in Europa glänzend da.
Ja, manches hat sich positiv entwickelt. Aber über sechs Millionen Hartz-IV-Beziehende in West und Ost müssen sich angesichts von Jubelbotschaften verhöhnt fühlen, wenn man ihnen zeitgleich Almosen im Werte einer Flasche Fusel als „Zulage“ zu ihren kargen Leistungen avisiert. Die Kritik daran darf sich aber nicht auf die Frage beschränken, ob zehn oder zwanzig Euro angemessener gewesen wären. Es geht vielmehr darum, dass Deutschland nach der Einheit zum Vorreiter von Sozialabbau in Europa geworden ist und so seine internationale Wettbewerbsfähigkeit ausbaut. Der Liberale Lord Dahrendorf hatte Recht, als er vor Jahren resümierte, dass sich seit dem Ende der Systemauseinandersetzung der „rheinische“, einst sozial gezähmte Kapitalismus, zum „reinen“ Kapitalismus wandelte. Die Wirtschaft steht im Dienste des Profits, der Mensch muß sich rechnen.
Die beschämenden Hartz-IV-Regelungen erzeugen Armut und lähmen bei den Noch-Beschäftigten aus Furcht vor sozialem Abstieg nach einem Jobverlust das Aufbegehren gegen Lohndumping und unwürdige Arbeitsbedingungen. Mit solchen Wirkungen haben Menschen in Ost und West gleichermaßen zu tun. Allerdings ist der Grad der Betroffenheit im Neubundesgebiet besonders hoch. Die Hartz- IV-Beziehenden nehmen dort an der Gesamtbevölkerung zwischen 21,6 Prozent (Berlin) und 13,4 Prozent (Thüringen) ein. Im Westen reicht die Skala von 18,6 Prozent (Bremen) bis 5,1 Prozent (Bayern).
Laut jüngstem Jahresbericht der Bundesregierung zur Deutschen Einheit gab es im Juli 2010 in Ostdeutschland 1.646.320 erwerbsfähige Hilfsbedürftige, also ALG II-Beziehende. Darunter waren eine Million Langzeitarbeitslose und über 600.000 Menschen, die trotz Arbeit nicht genug zum Leben verdienen. 7,2 Prozent aller Beschäftigten gehen mit weniger als fünf Euro/Stunde nach Hause, in Westdeutschland sind das anteilig 2,9 Prozent. Bei einem Stundenverdienst von unter sechs Euro lautet das Verhältnis 12,8 : 5,4 Prozent und bei unter sieben Euro 21,5 : 8,5 Prozent. Niedrigste Entlohnung mit notwendiger Aufstockung ist zwischen Elbe und Oder eine noch stärker verbreitete Praxis als zwischen Elbe und Rhein.
Das wird hier nicht hervorgehoben, um Ost und West gegeneinander auszuspielen. Erinnert werden soll vielmehr an Vorgänge, die wesentlich zu dieser Lage beigetragen haben: Der für die ostdeutsche Wirtschaft ruinöse Wechselkurs bei der Einführung der D-Mark und der frevelhafte Umgang mit dem DDR-Volkseigentum durch die Treuhand. Mit Billigung der Bundesregierung betrieb sie eine fieberhafte Privatisierung vornehmlich zugunsten der westdeutschen Konkurrenz. Wo sich kein Käufer fand, wurde abgewickelt und liquidiert. Das war Vermögensraub an der ostdeutschen Bevölkerungsmehrheit mit millionenfacher entschädigungsloser Enteignung auch von Erwerbsarbeitsplätzen. Bis heute schlägt sich das in einem hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen und anhaltender Abwanderung junger Leute nieder. Herhalten muß für die überstürzte Währungsunion und die dubiosen Treuhandpraktiken immer noch die Legende vom kurz bevorstehenden Zusammenbruch der DDR.
Im zwanzigsten Jahr der Einheit wäre es überfällig, das größte Betrugskapitel der Nachkriegsgeschichte endlich ehrlich unter die Lupe zu nehmen. Und statt Almosen zu verteilen, geht es um eine an den Geboten des Grundgesetzes orientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik.
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