Super-GAU-Kapitalismus
Von Rudolf Hickel, Neues Deutschland
Nicht erst die dreifache Katastrophe in Japan durch Erdbeben, nachfolgenden Tsunami und Havarie eines Atomkraftwerks verlangt ein fundamental neues Denken und Handeln. Die lebens- und naturbedrohenden Risiken müssen umfassend und ideologiefrei bewertet werden. Den Skandal gebiert das Unwort »Restrisiko«, das brutal in das Megarisiko einer Kernschmelze umschlägt. Dabei ist der Einsatz der als sauber und preiswert gelobten Kernenergie von Anfang an durch Kritik aus der Wissenschaft und Politik begleitet worden. Frühzeitig gab es Studien, die nachwiesen, dass die Kerntechnologie nicht beherrschbar ist.
Die Kritiker haben auch die Behauptung widerlegt, Atomstrom sei gegenüber anderen Energiequellen deutlich billiger. Werden die monetären und weit darüber hinausgehenden, nicht ökonomisch bewertbaren Kosten einer Havarie eingerechnet, dann wird die so erzeugte Kilowattstunde Strom unbezahlbar. Die viel zu billige Verpreisung hat den Energiekonzernen gigantische Profite verschafft. Allein die von der Bundesregierung unter Vernachlässigung der Sicherheitsstandards durchgepeitschte Verlängerung der Laufzeit der alten Atomkraftwerke würde brutto über 50 Milliarden Euro in die Kassen der Energiekonzerne spülen. Dieser Extraprofit wird kaum durch die symbolisch eingeplante Steuer auf Brennstoffstäbe reduziert.
Klar ist: Die Profitwirtschaft mit dem Stoff Spaltmaterial hat zusammen mit der folgsamen Politik die Verantwortung für den Urknall aus dem bagatellisierten Restrisiko. Auch mit wachsender Nachfrage nach Strom ist die Nutzung der Kernenergie nicht mehr zu rechtfertigen. Dagegen spricht die Ethik der Verantwortung gegenüber Mensch und Natur. Aber auch ökonomisch ist eine Rechtfertigung von Atommeilern zur Deckung der Energienachfrage töricht. Denn durch den angeblichen Sachzwang Kernenergie wird die Suche nach alternativen, nachhaltigen und am Ende preiswerteren Energiequellen unterdrückt. Ein schockartiger Ausstieg aus der Kernenergie würde die Suche danach beschleunigen. Dazu gehört auch ein Qualitätssprung bei der Energieeinsparung. Egal ob Kapitalismus oder Sozialismus, die Ächtung der Kernenergie gilt systemübergreifend. Rückblickend muss gesagt werden, die Rechtfertigung von Kernspaltung in der DDR mit den sozialistischen, nicht profitwirtschaftlichen Bedingungen war ebenso unverantwortlich. Die Gesetze der Kernspaltung gelten im Kapitalismus gleichermaßen wie im Sozialismus. Die primitive Glorifizierung der Produktivkräfte übersieht, dass es sich hier um technologisch nicht beherrschbare Destruktionskräfte handelt.
Insgesamt zeigt sich, der real existierende Kapitalismus gebiert immer mehr Krisen, die seine eigenen Grundlagen bedrohen. Was für die Atomwirtschaft das explodierte Restrisiko ist, ist für die Finanzmärkte eine tiefgreifende systemische Krise. Der weltweite Beinahzusammenbruch der Banken ist ebenfalls durch die profitierende Wirtschaft vorangetrieben und zugleich bagatellisiert worden. Die Kritiker einer deregulierten Finanzökonomie wurden diffamiert, ausgegrenzt. Zur Erfassung dieser Systembedrohung taugt das gewohnte Bild vom Kapitalismus, der sich nur vorübergehend in der Krise vom Pfad der Wohlstandsstiftung entfernt, nicht. Heute geht es um wachsende Systemrisiken, die die Kraft haben, eine Kernschmelze des Kapitalismus auszulösen. Die gesellschaftliche Herausforderung lautet: alle Systemrisiken schonungslos erfassen und Alternativen zum Wohle heutiger und künftiger Generationen finden und realisieren.
In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.
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