Der »europäische Appell« der Troika. Wie verhält sich die SPD-Führung zum Fiskalpakt?

Sozialismus Aktuell

09.04.2012 / 5. April 2012

Politische Stabilisierung und ökonomische Konsolidierung in Europa? Weit gefehlt! »Die anhaltende Finanzkrise wird immer mehr zur Bedrohung der europäischen Demokratien.« Nicht wegen staatlicher Konsumexzesse, wie die in Endlosschleifen wiederholte Redeweise von der Staatsschuldenkrise suggerieren soll: »Schließlich ist ein erheblicher Teil der europäischen Staatsschulden entstanden, um durch staatliche Krisenintervention den Bankensektor zu stabilisieren und die Unternehmen der Realwirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen sowie die Sparguthaben der Bevölkerung vor den schlimmsten Folgen der Finanzmarktkrise zu retten.«

Im Klartext: Die europäische Rechte mit ihren Vorkämpfern Merkel und Sarkozy spielt mit dem Feuer: »Statt die systembedingten Kollisionen und die verhängnisvolle Rolle von Investment-Banken, Hedgefonds und Rating-Agenturen zu analysieren und entsprechende Steuerungsmechanismen zu schaffen, erklären sie die hochverschuldeten Staaten wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien zu Sündenböcken.« Die daraus resultierende Verlängerung der Krise ist noch die harmlosere Entwicklungsvariante. Aus der erkaltenden Asche des Neoliberalismus und den Feuern nationaler Chauvinismen strebt der Phönix einer extrem wandlungsfähigen anti-demokratischen Rechten empor – Victor Orban lässt aus Budapest schon mal grüßen.

Um diesen Vögeln die Flügel zu stutzen bedarf es einer starken Botschaft, die die Idee eines anderen, neuen Europas transportiert, in dem revitalisierte Demokratien einen Zukunftspfad beschreiten: »Sie kriegen ihre Staatsverschuldung in den Griff, sie überwinden die verhängnisvolle Blasenökonomie ohne echte Wertschöpfung, und es gelingt ihnen die Bändigung des ›Raubtierkapitalismus‹.«

Diese Botschaften stammen – in der Tat – vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier und dem Ex-SPD-Finanzminister und Weltökonomen Peer Steinbrück.[1] »Gut gebrüllt, Löwe« könnte man mit William Shakespeare und Max Kruse antworten. Doch für flapsige Anmerkungen ist das Thema zu ernst. Es geht um die Abwehr eines autoritären, in wiederholten und langen Krisenprozessen mit sozialen Ängsten aufgeladenen Europa, in dem Finanzmarktakteure der politischen Funktionselite den Scheid abgekauft haben – für ein Europa, das Armut und soziale Spaltungen überwindet, neue gesellschaftliche Entwicklungshorizonte eröffnet und national geschleifte politische Handlungsfelder transnational neu erschließt.

Eine Pfadentscheidung steht an. Nicht abstrakt, nicht irgendwann, sondern in diesem Jahr.[2] Ein Jahr, in dem die ökonomische Spaltung sich zwischen Zentrum und Peripherie weiter vertieft, in dem die Arbeitslosigkeit Höchststände in der überwiegenden Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union erreicht und in dem entschieden wird, ob sich 25 Staaten dieser Union einem Fiskalregime unterwerfen, aus dem es nach der Vertragsunterschrift – nach heutigen Kriterien – kaum ein Entrinnen gibt. Deshalb ist es wichtig, was die Troika der deutschen Sozialdemokratie sagt.

An ihre Zeitdiagnose hängt die SPD-Troika drei Schlussfolgerungen:

  • Die SPD will dem europäischen Fiskalpakt nur konditioniert zustimmen.
  • Die erste Kondition lautet: Der Fiskalpakt muss »um eine nachhaltig wirksame Wachstumspolitik ergänzt werden. ... Beginnen sollten wir mit einem Sofortprogramm gegen die dramatisch anwachsende Jugendarbeitslosigkeit.«
  • Die zweite: »Statt durch eine schlichte Kreditfinanzierung soll dieser neue ›Marshallplan‹ durch eine Umsatzsteuer auf Finanzprodukte (›Finanztransaktionssteuer‹) verwirklicht werden.«

Rollen wir den Karren von hinten auf. Mit »Bändigung des Raubtierkapitalismus« ist offenkundig gemeint, dass die SPD die Finanzmärkte für die Mitfinanzierung der Krisenbewältigung heranziehen will. Dazu wäre eine ordentlich konzipierte Finanztransaktionssteuer in der Tat kein schlechtes Instrument: Nicht nur weil man den Steuersatz auf ein ergiebiges Niveau festsetzen könnte, sondern ebenso, weil mit einer solchen Steuer Sand in das Getriebe spekulativer Finanzmarktgeschäfte gestreut werden könnte. Allerdings verwundert dieser Vorschlag zum gegenwärtigen Zeitpunkt von Seiten hartgesottener SPD-Realpolitiker.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, aber auch die Bundeskanzlerin werden sich für die heimische Unterstützung in Sachen Finanztransaktionssteuer bedanken, ansonsten aber darauf hinweisen, dass es dafür im Fiskalpakt-Europa keine Mehrheit, schon gar keine Einstimmigkeit gibt. Welchen Sinn macht es, eine zentrale Entscheidung mit einer nicht einlösbaren Konditionierung zu versehen? Würde man die Kondition wörtlich nehmen, müsste die SPD den Fiskalpakt ablehnen. Mit der Floskel, »die Bundesregierung wird sich weiterhin für eine solche Steuer einsetzen«, dürften sich nur politische Falschspieler zufrieden geben.

Wachstums- und Beschäftigungspolitik als weitere Kondition ist gegenüber einer ausschließlich auf Ausgabensenkungen und Abschöpfung von Kaufkraft durch Massensteuererhöhungen sehr sinnvoll. Eine europäische Investitionsoffensive weit über das verbleibende Jahrzehnt hinaus, die darauf angelegt ist, die gesellschaftliche Arbeitsteilung in Europa so zu verändern, dass der abgehängten Peripherie neue Entwicklungspotentiale eröffnet werden. Eine neue Wirtschaftsstruktur im mediterranen Teil Europas und in weiten Teilen Osteuropas, ein großes Binnenmarktprogramm in den heutigen Exportüberschussländern, das alles versehen mit dem Abbau von Prekarisierung, sozialer Spaltung und einer neuen Idee für ein soziales Europa, die auch die skandinavischen Länder wieder begeistern könnte – das wäre was!

Dass davon vor allem Jugendliche nicht nur in Griechenland und Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50% liegt, bereits kurzfristig eine Perspektive ableiten müssen, sollte selbstverständlich sein. Nebenbei: Könnte die SPD nicht auch hierzulande einen Gesetzentwurf einbringen, der zumindest die Übernahme aller Auszubildenden gesetzlich vorschreibt?

Doch eine Wachstums- und Beschäftigungspolitik braucht ein expansives politisches Umfeld. Eine europäische Schuldenbremse – Kern des Fiskalpakts – ist das exakte Gegenteil. Das IMK hat – gemeinsam mit dem OFCE in Paris und dem WIFI in Wien – die ökonomischen Perspektiven bis 2016 unter den Bedingungen der Austeritätspolitik des Fiskalpakts vermessen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaft in Griechenland in den kommenden vier Jahren kollabieren wird (-6,4%), Italien und Portugal vor einer langjährigen Rezession stehen und das ökonomische Leben in Spanien stagniert.[3]

Dem Fiskalpakt konditioniert zuzustimmen heißt, krisenverschärfender Austeritätspolitik – geringfügig abmildernd – zuzustimmen. Nimmt die SPD ihre Erklärungen zu Wachstum – ökologisch ausgewiesen – und Beschäftigung – nicht in prekarisierten Formen – ernst, muss sie den Fiskalpakt ablehnen. Ein paar Milliarden für Wachstum und Beschäftigung würden nicht annähernd die Kürzungen von öffentlichen Investitionen, öffentlichem Konsum, öffentlicher Beschäftigung und Privatisierungen ausgleichen.

Damit sind wir beim Fiskalpakt. Und da hört die Konditionierung abrupt auf. Egal, was die SPD-Troika zeitdiagnostisch vermessen hat: Dieser Pakt ist ihr Kind: »Der fiskalische Problemberg ist zu lebensbedrohender Höhe angewachsen. Nicht zuletzt deshalb ist die ›Schuldenbremse‹ von uns Sozialdemokraten aktiv vorangebracht und in der Verfassung unseres Landes verankert worden.« Das eigene Kind – Schuldenbremse – gibt man doch nicht zur schwarz-gelben Adoption frei!

Laut Fiskalpakt soll die Absenkung des strukturellen – nicht konjunkturell bedingten – Defizits auf 0,5% des BIP und des Schuldenstands auf 60% rasch erfolgen – in der IMK/OFCE/WIFO-Projektion liegt er 2016 in Griechenland bei 127%, in Italien bei 116%, in Portugal bei 107% – aber auch in Deutschland bei knapp 80%. Außer Finnland erreicht kein Staat die Vorgaben. Die Schlussfolgerung, die daraus gezogen wird, wird nicht politische Nachgiebigkeit sein, sondern ein autoritärer Kapitalismus, der die falschen Vorgaben weiter zu Lasten der subalternen Mehrheiten in den EU-Mitgliedstaaten weiter radikalisiert.

Es ist eine Illusion zu glauben, mit einer »Schuldenbremse« die öffentliche Verschuldung tatsächlich nachhaltig abbauen und ein soziales Europa aufbauen zu können. Um nach der Lehman-Insolvenz 2008 eine »systemische Krise« zu entschärfen, wurden toxisch gewordene Vermögensansprüche sozialisiert und damit eine Wertbereinigung überakkumulierten Geldkapitals verhindert. Die kapitalvernichtende Funktion der Krise wurde in erheblichem Maße außer Kraft gesetzt. Doch mit öffentlichen Ausgabenkurzungen die Bedienung von Vermögensansprüchen ermöglichen zu wollen, kann nicht klappen. An einem Schuldenschnitt kommt man nicht vorbei. Dies in sozialen Bahnen zu ermöglichen, wäre Aufgabe der Politik. Denn Vermögensansprüche sind auch Pensionsfonds, denen Millionen ihre Alterssicherung anvertraut haben.

Kapitalvernichtung als politisch geordneter und sozial ausgleichender Prozess sowie gleichzeitig Investitionsoffensiven für gute und nachhaltige Arbeit überall in Europa sind nur als umfassende demokratische Prozesse zu organisieren. Damit sind wir beim Ausgangsstatement der SPD-Troika: der »Bedrohungen der europäischen Demokratien«.

Diese Bedrohung ist Fiskalpakt-Realität. Politische Gestaltung ist weitestgehend ausgehebelt. Eine demokratisch nicht legitimierte EU-Kommission und der EuGH sind neben dem Europäischen Rat die entscheidenden politischen Player – sie usurpieren selbst die »Königsdisziplin« der parlamentarischen Demokratie: die Souveränität der Aufstellung des nationalen Budgets. Das Europäische Parlament spielt keine Rolle. Es wird »unterrichtet«, sein Präsident »kann« zu EU-Gipfeln »zur Anhörung« eingeladen werden. Das ist Demokratieentleerung. Die Zukunft der Demokratie in Europa beginnt mit der Ablehnung des zur Abstimmung stehenden Fiskalpakts.

[1] Siegmar Gabriel/Peer Steinbrück/Frank-Walter Steinmeier: Warum wir die Soziale Marktwirtschaft brauchen. Ein europäischer Appell: In der Finanzkrise geht es um die Zukunft der Demokratie. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. April 2012, S. 3.
[2] Deshalb gibt es von Seiten deutscher GewerkschafterInnen und WissenschaftlerInnen den Aufruf:www.europa-neu-begruenden.de
[3] IMK/OFCE/WIFO: Fiskalpakt belastet Euroraum. IMK-Report 71, März 2012, hier S. 20ff.