Was tun gegen prekäre Beschäftigung?
Von Bernhard Müller
Nach einer aktuellen Meldung haben immer mehr Lohnabhängige in Deutschland zwei Jobs. Im März 2012 gingen 8,8% der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einem Nebenjob mit geringfügiger Entlohnung nach. Demnach verdienen sich rund 2,5 Mio. lohnabhängig Beschäftigte etwas zu ihrer Hauptbeschäftigung dazu. Im Juni 2003 waren es laut Statistik mit rund 1,2 Mio. Beschäftigten nur halb so viele. Das entsprach einem Anteil von 4,3%. Diese Tendenz zum »Zweitjob« hat viel mit der Reallohnentwicklung der letzten zehn Jahre zu tun, bei der Deutschland im europäischen Verbund die Schlusslaterne hält.
Sinkende Lohnquote und stagnierende bzw. rückläufige Reallöhne haben dabei wenig mit dem fehlenden politischen Willen der Gewerkschaften zur Durchsetzung höherer Lohneinkommen zu tun, sondern sind vor allem auf die massive Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die Etablierung eines Niedriglohnsektors in Deutschland zurückzuführen. Denn die Wirkung prekärer Beschäftigung auf das Normalarbeitsverhältnis ist selbst in den Kernbereichen der organisierten Lohnarbeit deutlich spürbar. »Seit Mitte der 90er Jahre nimmt unsichere und schlecht bezahlte Arbeit zu. Neu ist, dass sich prekäre Arbeit, also Beschäftigung, deutlich unter den üblichen sozialen Standards nicht mehr auf atypische Beschäftigungsformen beschränkt. Sie ist inzwischen tief ins Normalarbeitsverhältnis, also auch in unbefristete Vollzeitbeschäftigung, eingedrungen.«
Die IG Metall hat deshalb eine Studie [1] in Auftrag gegeben, die die wichtigsten Forschungsergebnisse zur Entwicklung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland zusammenfasst und Überlegungen zu einer Neuordnung des Arbeitsmarkts anstellt.
Danach gehört die Arbeitsmarktordnung der sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegsgesellschaft der Vergangenheit an. »Die alte Verknüpfung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlicher Solidarität – Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft – hat sich aufgelöst. Unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten haben zugenommen.«
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Seit gut 15 Jahren gehört Deutschland zu den OECD-Ländern, in denen Niedriglohnbeschäftigung am stärksten zugenommen hat. Der Anteil der Niedriglöhne ist von 17,7% im Jahre 1995 auf 23,1% der Beschäftigten im Jahre 2010 gestiegen. Da es in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, ist die Streuung der Löhne nach unten besonders groß. Besonders hohe Anteile von Geringverdienern finden sich bei Minijobbern (86%), Leiharbeitskräften (67,7%), Jugendlichen unter 25 Jahren (51%) und befristet Beschäftigten (46%). Hier kombinieren sich schlechte Einkommen und Beschäftigungsunsicherheit. Die Geringverdiener mussten die größten Reallohnverluste seit 2000 hinnehmen. Ihre Arbeitszeiten sind länger als die der anderen Einkommensgruppen.
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Mehr als zwei Drittel der Geringverdiener arbeiteten 2010 in Betrieben ohne Tarifbindung. Fast die Hälfte der Geringverdiener arbeitet in Kleinbetrieben, in denen Betriebsräte selten sind. Tarif- und Großbetriebsprämien finden sich bei allen Beschäftigten außer Leiharbeitskräften und Minijobbern.
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Mit der Zunahme prekärer Arbeit haben sich auch die Aufstiegschancen verschlechtert. Die Chancen, aus dem Niedriglohnsektor auf besser bezahlte Tätigkeiten zu gelangen, sind in den letzten 15 Jahren zurückgegangen. Auch Leiharbeit und Minijobs sind immer weniger eine Brücke in reguläre Arbeit.
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Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors sollten die Beschäftigungschancen der gering Qualifizierten verbessert werden. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Mehr als 80% der Geringverdiener mit steigender Tendenz haben eine berufliche oder akademische Ausbildung.
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Die Verfestigung der Spaltung des Arbeitsmarktes führt zu hohen sozialen Kosten. Niedrige Erwerbseinkommen müssen zunehmend durch Arbeitslosengeld II (Hartz-IV) aufgestockt werden, was den Steuerzahler 2010 11,5 Milliarden ¤ kostete. Mit geringen Löhnen und diskontinuierlicher Beschäftigung kann man keine ausreichende Alterssicherung aufbauen. Vor allem in Ostdeutschland wird die Altersarmut zunehmen.
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Prekäre Arbeit lässt sich nicht mehr wie vor 1995 eingrenzen. Das starke Lohngefälle zwischen den Branchen und zwischen den Betrieben unterschiedlicher Größe schafft Anreize zur Auslagerung von Tätigkeiten in schlechter bezahlende Branchen. Neben Outsourcing und Leiharbeit gewinnen Werkverträge an Bedeutung.
Die Ursachen dieser zunehmenden Spaltung des Arbeitsmarkts sieht die Studie nicht in zunehmendem globalem Wettbewerb und technischem Fortschritt. »Andere Länder wie Dänemark oder Schweden sind davon ebenso betroffen, ohne dass dort die Ungleichheit zugenommen hat.« Stattdessen werden vier andere Gründe für den Anstieg prekärer Beschäftigung in Deutschland geltend gemacht:
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»Erstens ist der deutsche Arbeitsmarkt für Lohndumping anfällig, da es keine generellen Lohnuntergrenzen in Form von Mindestlöhnen oder allgemeinverbindlichen Tarifverträgen gibt.
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Zweitens gab die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die Agenda 2010 schlecht bezahlter Arbeit einen starken Schub.
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Drittens wirkt das traditionelle deutsche Familienmodell, in dem Erwerbsarbeit von Frauen als Zuverdienst konzipiert ist wie ein eingebauter Deregulator. Durch Ehegattensplitting, abgeleitete Krankenversicherung und Minijobs werden Frauen massiv in kleine Beschäftigungsverhältnisse geleitet.
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Viertens waren die internationalen Eliten, darunter auch die meisten Entscheidungsträger in Deutschland davon überzeugt, dass deregulierte Märkte am effizientesten arbeiten.«
Die Bedeutung der genannten Faktoren kann nicht bestritten werden. Und: Die Prekarisierung der Arbeit schwächt die Kampfkraft der Gewerkschaften, die dadurch kaum in der Lage sind, den forcierten Ausbau von Niedriglöhnen etc. zu bremsen. Aber sinkende Lohnquote, der massive Aufbau prekärer Beschäftigung und zunehmende Verarmungsprozesse von größeren Teilen der Bevölkerung ordnen sich ein in eine umfassende Transformation der nachkriegskapitalistischen Ordnung in ein System der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation, das mit Ausbruch der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff. substantiell in Frage gestellt ist.
Und es war das zweifelhafte Verdienst der rot-grünen Bundesregierung mit ihrer Agenda 2010 die Sozialsysteme an veränderte ökonomisch-soziale Bedingungen anzupassen, die ihren Ausgangspunkt in den sich ab den 1970er Jahren verdichtenden Symptomen einer Krise des sozial regulierten Kapitalismus [2] hatten: Der charakteristische Zusammenhang von hoher Produktivitätsentwicklung, sozialstaatlicher Modifikation der Verteilungsverhältnisse und der Entwicklung pluralistischer Lebensverhältnisse löst sich auf. Die Tendenz zur Verschiebung der Lohn- zu den Kapital- und Vermögenseinkommen resultiert aus der zunehmenden Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität.
Den Kern der Restrukturierung der Kapitalakkumulation bildet die über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der 1970er Jahre herausgebildete neue Qualität der Finanzmärkte. Die Akkumulation in der Realökonomie verliert an Dynamik, die Investitionen sind in Verhältnis zur Wirtschaftsleistung rückläufig und die Anlagen in den Formen des fiktiven Kapitals (Aktien, Wertpapiere) gewinnen an Gewicht. Diese Umschichtung auf die Finanzsphäre wird verstärkt durch die Ausbreitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen und die schrittweise Zerstörung der kollektiven Formen sozialer Sicherheit. In dieser Entwicklungsrichtung gewinnt der Finanzbereich die Vorherrschaft über die Wertschöpfung.
Im Kern handelt es sich um eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der organisierten Vermögensverwaltung, die in der Folge zum einen eine Auflösung der Form der organisierten Lohnarbeit und über die Prekarisierung eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse nach sich zieht. Zum andern wird diese veränderte Machtstruktur verstärkt durch den Umbau öffentlich organisierter sozialer Sicherung in Kapitalmarktprodukte. In der letzten Konsequenz soll ein von vielfältigen Formen fiktiven Kapitals überformter gesellschaftlicher Verwertungsprozess für eine Verteilung des gesellschaftlichen Surplus sorgen.
Im Zusammenhang dieser Entwicklung haben sich die Arbeitsmärkte in den kapitalistischen Hauptländern erheblich verändert und es ist in der Beschäftigungsstruktur zu gravierenden Umwälzungen gekommen. Diese Veränderungen stehen im Zusammenhang mit der verfestigten chronischen Massenarbeitslosigkeit, die sich in allen europäischen Ländern eingenistet hat. Zugleich breiten sich informelle oder ungeschützte, nicht regulierte Arbeitsverhältnisse aus. Dies zeigt sich auch im Rückgang unbefristeter (»dauerhafter«) Vollzeitbeschäftigung und einem Anstieg von Teilzeitarbeit, befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeit, (Schein-)Selbstständigkeit und Niedriglohnjobs – also Arbeitsformen, die als »atypische«, »unsichere« oder »nicht genormte« Beschäftigung bezeichnet werden. Immer mehr Menschen werden von der Teilhabe an Lohnarbeit, Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit ausgeschlossen.
Die Auflösung von tariflichen Normen und sozialen Mindeststandards ist Teil eines neuartigen Herrschaftsverhältnisses struktureller Unsicherheit. Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und die verschiedenen Formen der Prekarität sind deren Kern, verbunden mit der Ausweitung eines Kontrollsystems. Sozialstaatliche Regulationen werden außer Kraft gesetzt. In der Logik dieser neuen Akkumulationsweise sind Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen lediglich Restgrößen. Die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse haben nicht nur die Wirkung, dass sie den davon Betroffenen kaum die Möglichkeit eines relevanten Widerstands oder gesellschaftlichen Protest eröffnen, sondern die von der Prekarisierung ausgelöste Furcht erfasst rückwirkend auch die Mehrheit der Lohnabhängigen.
Neoliberale Politik hat diese Entwicklung systematisch gefördert. Mit der Behauptung, der üppige Sozialstaat, letztlich die überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen, seien Schuld an der lahmenden Akkumulation, zielt der neoliberale Politikansatz auf die systematische Begünstigung der Vermögenseinkommen, auf Lohnzurückhaltung, sozialen Druck durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse und einen Rückbau sozialer Transfers.
Das damit verbundene Heilsversprechen ist mit der Großen Krise zwar endgültig gescheitert. Allerdings hat die Politik der Entkoppelung von Lohnarbeit und sozialer Sicherheit ihre zerstörerische Wirkung entfaltet. Die soziale Sicherheit ist in vielfacher Weise durchlöchert worden. Zwar überwiegt noch immer das auf geringerem Niveau geschützte Lohnarbeitsverhältnis, doch unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit und der politisch gewollten Deregulierung nehmen die ungeregelten, atypischen und prekären Arbeitsverhältnisse massiv zu und ihrer Folge die Sicherungsfunktion der Sozialsysteme ab. Schwarz-Gelb und auch Teile des sozialdemokratischen Führungspersonals feiern Hartz IV und Agenda 2010 als Schlüssel für die schnelle Überwindung der Wirtschaftskrise nach 2009 und die immer noch relativ stabile Arbeitsmarktsituation in Deutschland und wollen den »Reformkurs« unter dem Druck der Haushaltskonsolidierung noch forcieren.
Das wollen die Gewerkschaften selbstverständlich nicht. Stattdessen wird in der Studie eine »neue Ordnung des Arbeitsmarkts« zur Eindämmung prekärer Beschäftigung gefordert, die durch ein Bündel an Maßnahmen erreicht werden soll. Dazu gehören »ein zukunftsfähiges Leitbild von guter Arbeit«, ein gesetzlicher Mindestlohn, eine Qualifizierungsoffensive, eine Neugestaltung von Leiharbeit und Minijobs (Equal Pay), eine Stabilisierung des Tarifsystems durch Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und Tariftreuegesetze sowie ein Verbandsklagerecht und eine Stärkung individueller Beschwerderechte.
Alle diese Maßnahmen sind aber nur durch staatliche Regulierung umsetzbar. »Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ähnlich wie im Finanzsektor auch im Arbeitsmarkt eine zu weitgehende Deregulierung korrigierende Staatseingriffe notwendig macht.« Dies bedeutet dann allerdings auch die Notwendigkeit einer verstärkten Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaften.
Ohne eine solche Reregulierung des Arbeitsmarkts wie auch von Boden und Finanzen öffnet sich keine gesellschaftlicher Ausweg aus der gegenwärtigen Krisenkonstellation. Darauf hat schon Karl Polanyi am Ende der ersten großen Weltwirtschaftskrise hingewiesen. »Die Kommodifizierung dieser Bereiche (Arbeit, Grund und Boden und Geld) bedeutet, sie in den Marktmechanismus einzubeziehen, das heißt die Gesellschaftssubstanz schlechthin den Gesetzen des Marktes unterzuordnen.« [3] Seine Schlussfolgerungen nach dem Zusammenbruch der traditionellen Ordnung – dem katastrophalen Ende des Versuchs, einen sich selbstregulierenden Markt und damit eine Marktgesellschaft oder marktkonforme Demokratie zu schaffen: »Arbeit, Boden und Geld aus (…) dem Markt herauszunehmen und durch deren Regulierungen den Vorrang der Gesellschaft vor den Märkten zu sichern.« [4]
Der Kanzlerkandidat der SPD, Steinbrück, zeigt sich zwar gegenüber den Gewerkschaften bereit, einige kleinere Korrekturen an der von ihm mitverantworteten Agenda 2010-Politik (Mindestlohn, Reform der Leiharbeit) vorzunehmen, aber eine »neue Ordnung des Arbeitsmarkts«, die »Arbeit aus dem Markt herauszunehmen«, wird mit ihm allerdings kaum zu machen sein.
1 Gerhard Bosch, Prekäre Beschäftigung und Neuordnung am Arbeitsmarkt. Expertise im Auftrag der Industriegewerkschaft Metall, Duisburg, September 2012
2 Vgl. zum Folgenden Joachim Bischoff, Die Herrschaft der Finanzmärkte. Politische Ökonomie der Schuldenkrise, Hamburg 2012
3 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt 1973, S. 106
4 Es ist in der Tat so: »Die Antwort lautet in ihrer einfachsten Form, dass wir den Preis einer willentlichen Amnesie zahlen. Wir ziehen es vor zu vergessen, was in den 1930ern geschah – und indem wir uns weigern, aus der Geschichte zu lernen, wiederholen wir sie.« (Paul Krugman, Feiern als wäre es 1929, 28.3.2008)
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