Was ist ein »Vertrauensschock«?
Von Bernhard Sander
Frankreichs Sozialdemokraten, ihre Sozialistische Partei und ihr vor einem halben Jahr gewählter Staatspräsident Hollande haben nach wie vor keine Analyse über die Tiefe und den Charakter der Finanz- und Wirtschaftskrise, in der sich das Land befindet. Und sie haben erst recht keine Strategie für ein klassenübergreifendes Bündnis, um aus dieser Krise herauszukommen. Daher werden sie nahezu wehrlos vom Unternehmerlager mit einer Kampagne auf allen Ebenen der Kommunikation (vom viralen Marketing in den Sozialen Medien über eine Bürgerinitiative von Vorstandsvorsitzenden bis zum Frontalangriff mit Gutachten) überzogen; schließlich ist die Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes selbst Chefin eines Meinungsforschungsunternehmens.
Die von der deutschen Sozialdemokratie mit Antrieb der Grünen verschärfte Konkurrenz der Nationen untereinander zeigt ihre fatalen Wirkungen. Schon spricht die Presse von einem französischen Hartz. Der im Manager-Spektrum eher als links eingeschätzte frühere Vorsitzende der französischen Staatsbahn SNCF und Zögling des damaligen Linkssozialisten Chevènement, Gallois, hat einen Bericht vorgelegt, nachdem das Land einen »Wettbewerbs- und Vertrauenschock« nötig habe und die Arbeitskosten um 30 Mrd. Euro gesenkt werden müssten, um dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben zu können. Würde das Konzept umgesetzt, entstände ein neuerlicher Druck auf die deutschen und anderen europäischen Löhne, mit dem das fatale »race to the bottom« neue Impulse erhielte.
Gerade eben hat erst die niederländische Sozialdemokratie unter dem Druck des Wahlergebnisses einen Koalitionsvertrag der Austerität unterschrieben. Zu Beginn noch moderat beläuft sich die volle Kürzungssumme ab 2016 auf 16 Mrd. Euro (im Gesundheitswesen 5,4 Mrd. Euro, soziale Sicherheit 3,2 Mrd. Euro, öffentliche Verwaltung, Kürzung des Arbeitslosengeldbezuges von 38 auf 24 Monate, beschleunigte Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre). Die steuerliche Absetzung von Hypothekenzinsen wird reduziert. Das bisherige System hatte den Hausbesitz subventioniert und zu einer Überschuldung der privaten Haushalte beigetragen und eine Immobilienblase geschaffen. Und dennoch sinkt die Neuverschuldung nur auf 1,5% (2017) und bleibt damit über den Vorgaben des Fiskalpaktes. Das Sparpaket verstärkt den Konjunkturrückgang um 0,2% des BIP im laufenden Jahr.
Von ähnlichen so genannten Reformen in den europäischen Randstaaten, die als Bedingung zur Stabilisierung der Finanzsysteme von EU-Kommission, IWF und EZB erzwungen wurden, geht – trotz der geringen produktiven Basis im verarbeitenden Gewerbe – ebenfalls ein Kostendruck auf die Volkswirtschaften der großen europäischen Wirtschaftsmächte aus. Der nun einsetzende Nachfragerückgang trifft alle europäischen Volkswirtschaften, deren Exporte zu zwei Drittel im EU-Raum verbleiben. Auch die Aufträge an deutsche Unternehmen rutschen deutlicher als im ersten Halbjahr weg – im September um 3,3% (aus dem Euro-Raum -9,6%).
Die französische Handelsbilanz ist seit zehn Jahren im Minus, trotz aller Unternehmensentlastungen unter Sarkozy. Seit der Euro-Einführung ist die Absatz-Stabilisierung auf dem Wege der Währungsabwertung auch für die französische Industrie nicht mehr möglich. Die Chinesen von heute kaufen Weingüter, aber keine Peugeots. Es steht zu befürchten, dass die Antwort nicht ein europäischer Politikwechsel, sondern eine Politik des »mehr Desselben« sein wird. Doch nachdem auch die französische Regierung den Fiskalpakt und damit die Schuldenhaftung gebilligt hat und ein nochmaliger griechischer Schuldenschnitt wieder eine tagespolitische Frage geworden ist, stellt sich die Bedrohung durch Austerität in sehr viel größerer Dimension.
Hollande, der sich von den Wahlergebnissen her im Gegensatz zu seinen niederländischen Genossen souverän verhalten könnte, hält trotz einer nach unten korrigierten Wachstumsprognose (für 2013 +0,8%) an seinen Maastrichter Sparzielen fest, was schon jetzt Kürzungen/Einnahmeverbesserungen in der Endstufe von 33 Mrd. Euro bedeuten würde. Aber er bleibt die Antwort schuldig, wo im öffentlichen Dienst diese 10 Mrd. gestrichen werden sollen – nicht nur aus Angst vor der eigenen Klientel, sondern weil die PS sehr wohl weiß, was dieser Rückgang der öffentlichen Nachfrage für die Binnenkonjunktur bedeutet. Das Image als Zauderer wird von der Opposition mit breiten Strichen gemalt. Die Kritik, die PS sei eben doch nur der bekannte sozialliberale Mist und biete ein Komödienspektakel (Mélenchon), wird der politischen Klemme jedoch ebenfalls nicht gerecht.
Das Konzept von Gallois kreist um eine Absenkung der Arbeitgeberabgaben um 20 Mrd. Euro und der Arbeitnehmerbeiträge um 10 Mrd. Euro, die kompensiert werden sollen durch eine Mehrwertsteuererhöhung und eine Anhebung der allgemeinen Sozialabgabe. Mit dieser Arbeitgeberentlastung ist die chronisch defizitäre Krankenversicherung und die Rentenversicherung nicht in stand zu setzen. Ebenso wenig hilft dieses Konzept bei der geplanten Reduzierung des allgemeinen Haushaltsdefizits. Es erfüllt einzig und allein die Aufgabe, in der öffentlichen Debatte das Argument der notwendigen Unternehmensentlastung mehrheitsfähig zu machen. Im Regierungslager wird mit Vielstimmigkeit reagiert: Der Industrieminister Montebourg will nur investierende Unternehmen entlasten, eine PS-Sprecherin begrüßt die Konzentration auf Forschungsförderung, für den frühere Vorstand von Renault (Staatsbeteiligung) stellen die Lohnkosten »nur zehn Prozent des Problems« dar. Wirkliche Wachstumsimpulse fehlen jedoch in diesem Konzept, von der angestrebten Ausdehnung französischer Weltmarktanteile ganz zu schweigen.
Die französische Regierung will in einer kurzfristigen Reaktion auf den Bericht Gallois’ Kredite in Höhe von 20 Mrd. Euro als Abgabenstundung bereitstellen, um eine Entscheidung über die so genannten Lohnnebenkosten hinauszuschieben. Insbesondere die Sozialabgaben im Mindestlohnbereich (1X bis 2,5X SMIC) sollen um 6% gesenkt werden. Obwohl in Frankreich der Niedriglohnsektor (>1,6 X Mindestlohn, rd. 1.400 Euro) so gut wie keine Sozialabgaben bezahlt, liegt die gesamte Sozialabgabenquote mit 17% des BIP höher als in Deutschland (12%) oder Spanien (11,5%). Damit sind die im September angekündigten Steuererhöhungen zur Haushaltskonsolidierung natürlich in Frage gestellt.
Doch das Problem ist struktureller und nicht konjunktureller Natur und bedarf entsprechend anderer Impulse. Die Anreize verfehlen ihr Ziel auch deshalb, weil die ausgeschütteten Dividenden seit 2003 stärker wachsen als die Investitionen. In den letzten 30 Jahren hat sich die Lohnsumme etwa vervierfacht, die ausgeschütteten Dividenden aber sind um das Zwanzigfache gestiegen. Die Arbeitskosten, gewichtet mit der Produktivität, liegen (2009) immer noch deutlich unter dem EU-Durchschnitt und hinter Deutschland, die Lohnkosten im produzierenden Gewerbe selbst mit 35,91 Euro/h in etwa gleich mit Deutschland 35,41 Euro/h. Die französischen Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegen bei 2,2% des BIP, in Deutschland bei 3,4%. Die Lissabon-Strategie hatte 3% als Ziel vorgegeben. Allerdings sind die Aktiengesellschaften nur ein kleinerer Teil der Industrie. Der Mittelstand und die Zulieferer sind einem gnadenlosen Verlagerungswettbewerb durch die großen Hersteller ausgesetzt, der ganze Landstriche verwüstet zurücklässt.
Aus den Relationen von Löhnen und Gewinnen den Schluss zu ziehen, es sei doch Geld da, ist zwar naheliegend, trifft die skizzierte europäische Dimension und das strukturelle Problem nicht. Eine bloße Umverteilung zwischen den Bestandteilen des Volkseinkommens (selbst unter Stärkung der öffentlichen Nachfrage- und Investitionstätigkeit) schafft kein ausreichendes Wachstum, um drei Mio. Arbeitslose wieder einzugliedern. Auch noch so entschlossen und militant geführte Abwehrkämpfe gegen Entlassungen, Lohnkürzungen und Sozialabbau bleiben auf den nationalen Raum beschränkt und können dem europäischen Gesamtdruck nur begrenzt etwas entgegensetzen. Die französischen Gewerkschaften verlieren außerdem wertvolle Zeit im Abstimmungspoker ihrer sieben Verbände. Die CGT befindet sich zudem im Übergang. Auch ihr bisheriger Vorsitzender ist von der zwar konfliktreichen, aber sozialpartnerschaftlichen Kultur der Staatsbahnen geprägt, konnte seinen Wunschkandidaten an der Spitze jedoch nicht durchsetzen. Sein designierter Nachfolger kommt aus der militanten Tradition der Automobilzuliefererbranche. Doch Jugend ist kein Garant für Innovation.
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