Armut: Tendenz steigend
Von Bernhard Müller
Zur Jahreswende 2012/13 ist heftiger Streit um das Ausmaß von sozialer Spaltung in der Berliner Republik entbrannt. Neue Untersuchungen belegen, dass die soziale Polarisierung trotz der relativ guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre weiter vorangeschritten ist.
Dennoch reden Vertreter der schwarz-gelben Bundesregierung und des von der ökonomischen Elite finanzierten wissenschaftlichen Personals – die Bundestagswahl 2013 im Blick –, von »Alarmismus«. Diese Abwehrhaltung prägt auch die Auseinandersetzung über den jetzt vom Paritätischen Wohlfahrtsverband (PW) vorgelegten Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland.[1]
Nach dem Bericht des PW wurde 2011 mit einer Armutsgefährdungsquote[2] von 15,1% ein absoluter Höchststand seit der Vereinigung erreicht. Die Daten zeigen seit 2006 einen klaren Trend nach oben. Armuts- und Wirtschaftsentwicklung haben sich völlig voneinander gelöst: Ging im Jahr 2006 ein signifikantes Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 4% noch mit einem Rückgang der Armutsgefährdungsquote von immerhin 0,7% einher, so kann 2011 überhaupt kein positiver Zusammenhang mehr zwischen Wirtschafts- und Armutsentwicklung festgestellt werden. Ganz im Gegenteil: Obwohl das BIP um 3,9% wuchs, stieg auch die Armut um 4,1%. Damit hat sich die Dynamik der sozialen Spaltung in 2011 deutlich verstärkt.
Dies auch trotz einer relativ guten Arbeitsmarktsituation, die zu einem Rückgang bei der Langzeitarbeitslosigkeit geführt hat. Die Armut wächst seit 2006, obwohl die SGB-II-Quote leicht zurückgegangen ist – auch wenn sie mit 9,8% im Juli 2011 nach wie vor auf sehr hohem Niveau verharrt. Dies ist ein unübersehbarer Hinweis auf Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Noch deutlicher wird dieser umgekehrt proportionale Zusammenhang zwischen Armuts- und Arbeitsmarktentwicklung, wenn man die Entwicklung der Arbeitslosenquote im Berichtszeitraum betrachtet: Die guten statistischen Erfolge in der Arbeitsmarktpolitik werden mit einer »Amerikanisierung« des Arbeitsmarktes, dem Phänomen der »working poor«, erkauft.
Prekarisierung der Lohnarbeit
Der enorme Vormarsch atypischer Beschäftigung wird in einer neuen Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans Böckler Stiftung bestätigt.[3] Danach haben sämtliche Formen atypischer Beschäftigung seit den 1990er Jahren zugenommen. Der Anteil der Leiharbeiter, Mini- und Midijobber, befristet oder in Teilzeit Beschäftigten hat sich bis 2010 von etwa 20% auf knapp 38% aller Arbeitnehmer erhöht. Am weitesten verbreitet ist Teilzeitarbeit mit über 26% der abhängig Beschäftigten. Dies ist vor allem auf die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen zurückzuführen, die über 80% der Teilzeitbeschäftigten ausmachen. Hinzu kommt ein erhöhter Bedarf an zeitlicher Flexibilität vor allem bei Dienstleistungsbetrieben.
- Einen befristeten Arbeitsvertrag hatten 2010 – ohne Auszubildende – etwa 10% der Beschäftigten. Vor allem Jüngere sind von Befristung überproportional häufig betroffen.
- 2011 gab es 7,4 Mio. Minijobber – im Vergleich zu 5,5 Mio. 2003. Immer mehr Arbeitnehmer üben eine geringfügige Beschäftigung als Zusatzverdienst aus, mittlerweile ist jeder dritte Minijob eine Nebentätigkeit, um die Haushaltseinkommen zu stabilisieren oder zu steigern. Während Beschäftigte mit Normalarbeitsverhältnis und Minijob noch über ein Mindestmaß an sozialer Absicherung verfügen, müssen hauptberufliche Minijobber mit erheblichen Nachteilen bei der Beschäftigungsfähigkeit und der Alterssicherung rechnen. Zu diesem »harten Kern« gehört etwa die Hälfte der geringfügig Beschäftigten. Alle Minijobber gleichermaßen betrifft das Problem der geringen Bezahlung: Mit weitem Abstand gegenüber allen anderen Formen atypischer Beschäftigung rangieren Minijobs an der Spitze des Niedriglohnsektors. Über zwei Drittel verdienen weniger als 8,50 Euro pro Stunde, mehr als ein Viertel sogar weniger als fünf Euro. Schaut man auf alle atypisch Beschäftigten, erhielten 2010 rund 58% nur einen Niedriglohn. Als Niedriglohn gilt ein Bruttostundenlohn, der weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens beträgt. 2010 waren das 10,36 Euro.
- Leiharbeit umfasst mit 2,5% zwar nur ein vergleichsweise kleines Segment des Arbeitsmarkts. Allerdings hat sich der Gesamtumfang seit den Hartz-Reformen verdoppelt. Dabei ist Leiharbeit in stärkerem Maße als andere Beschäftigungsformen konjunkturabhängig, was sich in den Krisenjahren 2008 und 2009 deutlich gezeigt hat. Zudem erhalten Leiharbeiter im Vergleich zu Beschäftigten mit Normalarbeitsverhältnis wesentlich häufiger Niedriglöhne. Auch bei der Beschäftigungsstabilität und dem Zugang zu betrieblicher Weiterbildung sind sie benachteiligt.
- Frauen sind unter den atypisch Beschäftigten überrepräsentiert: Nur 45% aller weiblichen Lohnabhängigen – gegenüber 87% der Männer – arbeiteten 2010 in einem Normalarbeitsverhältnis. Was den weiblichen Teil der Lohnabhängigen angeht, kann atypische Beschäftigung als »neues Normalarbeitsverhältnis« betrachtet werden. Dass der Anteil der atypisch beschäftigten Frauen seit 2003 um weitere zwei Prozentpunkte gestiegen ist, erklärt sich vor allem mit der Zunahme von Minijobs. 80% aller Minijobber waren 2010 weiblich. Alleinerziehende sind ebenfalls überproportional betroffen. Viele haben aufgrund ihrer Versorgungspflichten kaum Zeit für Vollzeitarbeit und müssen sich deshalb für Teilzeit oder geringfügige Beschäftigung entscheiden, vermuten die Forscher.
- Gering Qualifizierte sind zwar unter den atypisch Beschäftigten stärker vertreten als unter Lohnabhängigen mit Normalarbeitsverhältnis. In der Mehrheit sind sie allerdings nicht: Selbst von den Minijobbern haben 63% eine berufliche Ausbildung, 13% sogar einen Hochschulabschluss.
Der neue Armutsatlas
Die Prekarisierung der Lohnarbeit ist neben der Arbeitslosigkeit der entscheidende Faktor bei der Ausbreitung von Armut in Deutschland – selbst in Zeiten noch guter Konjunktur. Sie hat auch zu einer bemerkenswerten Verschiebung bei der regionalen Verteilung von Armut beigetragen. So fällt im mehrjährigen Vergleich aller Länder auf, dass Deutschland zwar nach wie vor ein zerrissenes Bild hinsichtlich seiner Armutsquoten abgibt, dass jedoch die Armutsspanne zwischen den Ländern in den letzten vier Jahren zunehmend kleiner geworden ist. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind zwar noch eklatant, werden jedoch seit 2005 im Trend etwas kleiner. Bemerkenswerterweise ist diese Annäherung in etwa gleichen Teilen einer Verbesserung der Situation im Osten und einer Verschlechterung der Situation im Westen geschuldet.
Trotz dieses allmählichen »Annäherungsprozesses« zwischen Ost und West bleibt die Kontur eines dreigeteilten Deutschlands bestehen. Nach wie vor fällt der Süden mit Bayern (11,3%) und Baden-Württemberg (11,2%) positiv aus dem Gesamtbild heraus. Es folgt das große Mittelfeld, bestehend aus neun Bundesländern, die sich um den bundesdeutschen Mittelwert von 15,1% gruppieren. Abgeschlagen sind die Länder Sachsen (19,6%), Sachsen-Anhalt (20,5%), Berlin (21,1%), Mecklenburg-Vorpommern(22,2%) und Bremen (22,3%).
Der zunehmenden »Zerfransung« der Ost-West-Struktur entspricht, dass sich unter den elf Regionen mit einer Armutsgefährdungsquote von über 20% neben Berlin gleich vier westdeutsche Regionen befinden.
Berlin und das Ruhrgebiet: dramatische Zonen der Armut
Berlin und das Ruhrgebiet stellen in der mehrjährigen Betrachtung die mit Abstand besorgniserregendsten Regionen in Deutschland dar. Die negativen Trends haben sich in beiden Regionen noch einmal dramatisch beschleunigt. In Berlin sprang die Armutsgefährdungsquote um 1,9% von 19,2% (2010) auf 21,1% (2011). Seit 2006 ist hier die Armut kontinuierlich gestiegen, um insgesamt 24,1%. Auch im Ruhrgebiet ist die Armutsquote von 2010 auf 2011 von 17,4% auf 18,9% gesprungen. Seit 2006 hat die Quote in dieser Region damit bereits um 19,6% zugelegt.
Berlin und das Ruhrgebiet haben darüber hinaus gemeinsam, dass es sich bei Berlin mit 3,5 Mio. und dem Ruhrgebiet mit über 5 Mio. EinwohnerInnen um die beiden größten Ballungsgebiete Deutschlands und beim Ruhrgebiet sogar um das fünftgrößte Ballungsgebiet Europas handelt. Mehr als jeder zehnte Bundesbürger wohnt in einer dieser beiden Regionen.
Die Dynamik der Entwicklung im Ruhrgebiet muss als mindestens so dramatisch wie in Berlin eingeschätzt werden. In der Region Duisburg / Essen hat die Armut seit 2006 und in der Region Dortmund seit 2005 um über 24% zugenommen. In den Ruhrgebietsstädten ist die Situation in Teilen noch dramatischer. In der Stadt Dortmund stieg die Quote seit 2005 um über 30% auf 24,2% an. In Duisburg (23,5%) betrug der Anstieg seit 2006 sogar über 45% und in Essen (19,8%) seit 2007 ganze 57%.
Insgesamt bestätigt sich auch im Ruhrgebiet der Bundestrend, wonach die wachsenden Armutsquoten offensichtlich neben einer hohen Arbeitslosigkeit vor allem dem Niedriglohnsektor und prekärer Beschäftigung geschuldet sind.
Kinderarmut
Von Armut besonders stark betroffen sind vor allem Kinder und Jugendliche. Nach einer neuen Auswertung des WSI[4] leben in Deutschland knapp 2,46 Mio. Kinder und Jugendliche unter der Armutsgrenze. Das entspricht einer Armutsquote von 18,9% bei Personen unter 18 Jahren – 3,8% mehr als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Unter den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist sogar fast jeder Dritte (30,3%) von Armut betroffen. Von den Kleinkindern unter drei Jahren lebt jedes fünfte (20,5%) in einem Haushalt mit einem Einkommen unter der Armutsschwelle.
Regional unterscheiden sich die Armutsquoten – entsprechend der oben beschriebenen Verteilung von Armut insgesamt – auch bei Kindern und Jugendlichen erheblich: Am höchsten ist der Anteil in Bremen (32,6%), Mecklenburg-Vorpommern (30,1%), Sachsen-Anhalt (28,1%) und Berlin (27,1%). Die niedrigsten Kinder-Armutsquoten finden sich in Bayern (11,8%), Baden-Württemberg (13,2%) und Hessen (15,4%). Mit Abstand die meisten armen Kinder und Jugendlichen leben in Nordrhein-Westfalen: 678.000. Da das bevölkerungsstärkste Bundesland mit 22,8% auch eine relativ hohe Armutsquote hat, gibt es zwischen Rhein und Weser mehr Kinder und Jugendliche in Armut als in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zusammengenommen.
Und: Die Armutsquote von Kindern und Jugendlichen ist trotz der soliden wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen Jahren nur wenig gesunken. Zwar ging der Anteil von 2005 bis 2010 leicht zurück. Von 2010 auf 2011 – wie bei der Armut insgesamt – stieg die Armutsquote aber wieder an, sodass die Kinderarmut im vergangenen Jahr nur um 0,6% niedriger lag als 2005 (19,5%).
Was zu tun wäre
Die Bundesregierung wie die Schönfärber der ökonomischen Eliten dieses Landes versuchen ihre Tatenlosigkeit zu legitimieren. So hält auch Bundesarbeitsministerin von der Leyen (CDU) die Entwicklung der Armut in Deutschland nicht für alarmierend. »Man sollte die Probleme weder dramatisieren noch kleinreden. Armut ist in einem reichen Land wie Deutschland relativ«. Wer hätte das gedacht? Zudem gebe es weniger Kinder in Hartz IV. Auch die Programme für arbeitslose Alleinerziehende zeigten Wirkung. »Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.«
Der Paritätische Gesamtverband sieht diesen »richtigen Weg« nicht und macht die Bundesregierung für die wachsende Armut in Deutschland mitverantwortlich. Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider kritisierte in diesem Zusammenhang den Abbau öffentlich geförderter Beschäftigung sowie eine »steuerpolitische Umverteilung von unten nach oben«. Auch eine Reihe von Sparmaßnahmen wie die Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger und der Energiekostenkomponente beim Wohngeld wirkten armutsverstärkend.
Mit guten Argumenten fordert der Paritätische Gesamtverband ein Sofortprogramm, um der Armut entgegenzuwirken. Schneider bekräftigte die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, Mindestrenten und einem Mindestarbeitslosengeld I sowie dem Wiederausbau öffentlich geförderter Beschäftigung, Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze sowie einer Reform des Wohngeldes. Ergänzt werden müssten diese Sofortmaßnahmen durch langfristige Maßnahmen besonders in der Bildung und bei der Jugendhilfe.
Sollte die Passivität im Kampf gegen Prekarisierung und Armut anhalten, und mit dem Abflauen der Konjunktur droht hier eine weitere Zuspitzung, kann dies in den abgehängten Regionen wie Berlin oder dem Ruhrgebiet zu einer weiteren Ausbreitung rechtspopulistischer Mentalitäten führen,[5] wie wir sie heute schon für wirtschaftlich besonders benachteiligte Regionen Ostdeutschland feststellen müssen. Insofern ist eine gute Wirtschafts- und Sozialpolitik immer auch ein entscheidender Beitrag im Kampf gegen Rechts.
[1] Der Paritätische Wohlfahrtsverband: Positive Trends gestoppt, negative Trends beschleunigt. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2012, Dezember 2012; http://www.der-paritaetische.de/index.php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&file=fileadmin/dokumente/2012Armutsbericht/a4_armutsbericht-2012_web.pdf&t=1356776024&hash=d23600750664c6f3
[2] Die Zahlen basieren auf dem Mikrozensus. Er ist die größte Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik. Nach einer Zufallsstichprobe wird etwa 1 Prozent aller Haushalte in Deutschland befragt. Dies sind ca. 390.000 Haushalte mit etwa 830.000 Personen. Durch die hohe Haushalts- und Personenzahl sind zudem relativ tiefe regionale Analysen möglich, ohne dass die statistischen Unsicherheiten zu groß werden. Der Mikrozensus ist damit nicht nur aktueller, sondern im Grunde auch zuverlässiger als andere Datenquellen wie EU-SILC oder SOEP.
Bei der Berechnung der »relativen Armutsquoten« werden, wie mittlerweile in der EU üblich, Personen in Haushalten gezählt, deren Einkommen weniger als 60% des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Einkommens (Median) in Deutschland beträgt. 2011 lag die so errechnete, quasi-amtliche Armutsgefährdungsschwelle für einen Singlehaushalt bei 848 Euro. Für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag sie bei 1781 Euro.
[3] Berndt Keller/Susanne Schulz/Hartmut Seifert: Entwicklung und Strukturmerkmale der atypisch Beschäftigten in Deutschland bis 2010 (pdf), WSI-Diskussionspapier Nr. 182, Oktober 2012.
[4] Eric Seils/Daniel Meyer: Kinderarmut in Deutschland und den Bundesländern(pdf);http://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_kinderarmut_2012_12.pdf
[5] Auf den Zusammenhang von abgekoppelten Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut und der einer deutlich höheren Ausbreitung rechtspopulistischer Mentalitäten verweist die neue Studie der Friedrich Ebert-Stiftung: Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Siehe dazu auch die Beiträge in Sozialismus Heft 1/2013.
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