Ein System, das den Menschen Angst macht - Der autoritäre Wettbewerbsetatismus als Bearbeitung der Krise in Europa

Von Lucas Oberndorfer

22.01.2013 / aus: prager frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus, Ausgabe 13/ 2012

„Wenn die herrschende Klasse ihre Funktion erschöpft hat, neigt der ideologische Block zum Zerfall, und auf die Spontaneität folgt dann der Zwang, in immer weniger verhüllten und indirekten Formen bis hin zu regelrechten Polizeimaßnahmen und Staatsstreichen.“ Mit diesen Worten beschreibt Antonio Gramsci in Mitten des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft in den 1930er Jahren grundlegende Krisen der politischen Führung.


Neuzusammensetzung der Zwangsapparate
Dass sich das neoliberal konfigurierte, europäische Institutionen-Gefüge in einer solchen Hegemoniekrise befindet, wird immer offenkundiger: Nachdem der „europäische Frühling“ auch dieses Jahr zuerst in Spanien ausgebrochen ist und diesmal auch ein Generalstreik in der Lage war, die Verwertungsprozesse zu unterbrechen, ließ die spanische Regierung mit einem Gesetzesentwurf aufhorchen. Mittels einer „Reform“ des Strafrechts sollen künftig Demonstrationen oder Protestcamps als „Anschlag auf die Staatsgewalt“ geahndet werden können – schon der Aufruf über soziale Medien soll eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren nach sich ziehen können. Der katalanische Innenminister begründete dies mit den Worten: „Wir brauchen ein System, das den Demonstranten Angst macht.“1 Aber auch im Zentrum des finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes wird zunehmend mit Zwang Politik gemacht: Durch das Verbot von Blockupy Frankfurt – dem Versuch, aus Protest gegen die EU-Krisenpolitik die EZB und das Bankenviertel lahm zu legen – unternahm die Exekutive grundgesetzwidrig den Versuch, das Recht auf Versammlungsfreiheit aufzuheben.2 Und wenn nicht nur einzelne Gruppen, sondern nahezu ganze Länder aus dem neoliberalen Konsens ausbrechen, wird laut darüber nachgedacht, aus einem „postkolonialen Verhältnis“ das „post“ zu streichen. So sprach sich der Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts – in impliziter Anlehnung an Carl Schmitt – nach dem Wahlsieg der radikalen Linken dafür aus, Griechenland „zu einem europäischen Protektorat“ zu machen.

Die Erosion der Hegemoniereserven des europäischen Institutionen-Gefüges
Gerade diese Neuzusammensetzung des „dialektischen Verhältnisses von Zwang und Konsens“ (Gramsci) charakterisiert Hegemoniekrisen. Verfolgt man den Verlauf der Krise in Europa, wird zunehmend deutlich, dass die hegemoniale Phase des Neoliberalismus nun auch im imperialen Zentrum an ihr Ende zu kommen scheint. Zur Aufrechterhaltung der herrschenden Machtverhältnisse soll notfalls Zwang die wegbrechende Zustimmung ersetzen. Die im Rahmen der EU durchgesetzten, auf Konsens beruhenden Projekte des Neoliberalismus, der Binnenmarkt und die Währungsunion, die sich als im Allgemeininteresse stehende Lösung dringlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Probleme in Szene setzen konnten, haben massiv an Zustimmung verloren. Denn die sich zunehmend entfaltende, größte Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren lässt die imaginativen Bilder des Neoliberalismus verblassen und die Ausstrahlungskraft seiner Projekte schwinden.
Und auch wenn das europäische Institutionengefüge beträchtliche Anstrengungen unternommen hat, die Krise als eine des mangelnden Wettbewerbes und der übermäßigen Staatsschulden neu zu interpretieren, wird diese Neukonstitution der neoliberalen Weltauffassung beständig gestört durch das Verdrängte: Gerade in der gegenwärtigen Krise wird deutlich, dass die auf Konkurrenz und Akkumulation ausgerichteten Produktionsverhältnisse ihre eigenen Voraussetzungen unaufhörlich untergraben: die Steigerung des Lohns zur Erhöhung der Nachfrage nach Gütern, die (vergeschlechtlichte) Reproduktion der „Ware“ Arbeitskraft und die Regeneration der Natur. Die Vielfachkrise durchlöchert das Narrativ „neoliberaler Regierungskunst“, dass Gesellschaft dann sinnvoll eingerichtet sei, wenn all ihre Momente dem Wettbewerb unterliegen (Michel Foucault).
Eine tiefe Hegemoniekrise wird spätestens dann deutlich, wenn sich ein Teil der „organischen Intellektuellen“ des herrschenden „ideologischen Blocks“ von ihren bisherigen Glaubenssätzen abwenden. Diskursfragmente wie „Das kapitalistische System passt nicht mehr in die Welt“ vom Gründer des World Economic Forums, Klaus Schwab, und die Aussage des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, dass „im bürgerlichen Lager die Zweifel immer größer werden, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang“, repräsentieren daher weit mehr als einen Sturm im Wasserglas des Feuilletons.
Aber die Krise lässt nicht nur die Ausarbeitung einer „Weltauffassung“ und eines „Europabildes“ ins Stocken geraten, sondern durchzieht auch das zweite Moment konsensualer Herrschaft: Erst die Bankenrettungspakete und die sinkenden Einnahmen durch die Rezession haben die Schuldenstände explodieren lassen und damit die Spielräume für „materielle Zugeständnisse“ massiv verkleinert. Nach und nach geraten die Subalternen der EU-Mitglied staaten in den Fokus von Austeritätsprogrammen, die durch das europäische Institutionen-Gefüge verordnet und notfalls durch die „Einsetzung“ seiner Verwalter durchgesetzt werden.

Soziale Kämpfe und ihre Ungleichzeitigkeiten
Doch im Gegensatz zu den neoliberalen Sparpakten im Zuge der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion werden diese Einschnitte weder durch den aktiven, noch durch den passiven Konsens der Bevölkerung getragen: Der Syntagma-Platz in Athen, die Puerta del Sol in Madrid und der Stadtteil Tottenham in London, die emblematisch für eine Renaissance der Kämpfe in Europa stehen, befinden sich nicht zufällig in jenen Ländern, in denen bisher die härtesten Austeritätsmaßnahmen durchgesetzt wurden. In dieser Beobachtung kommt gleichzeitig zum Ausdruck, dass die Hegemoniekrise in Europa und die sich in ihr abzeichnende Autoritarisierung durch Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet sind: In Ländern, in denen sich kämpferische Traditionen mit den ungleichen Entwicklungen der europäischen Wirtschaft überschneiden, kam es zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen. Vergleichsweise ruhig blieb es in den „Exportweltmeisterländern“ (insbesondere Deutschland und Österreich), denen es durch Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktflexiblisierung gelang, ihre Nachfrageproblematik zu externalisieren.

Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus?
Aber nicht nur auf der nationalstaatlichen Ebene des Europäischen Institutionengefüges werden Zwangsapparaturen in Stellung gebracht. Denn nichts verdeutlicht anschaulicher, dass der Neoliberalismus trotz des Verlustes seiner „führenden“ Qualität noch absolut „herrschend“ ist, als die im Rahmen der EU 2011 beschlossene „Economic Governance“ und der „Fiskalpakt“, der im Laufe des Jahres 2012 ratifiziert werden soll.3 Mit den angesprochenen Maßnahmen soll die europäische Wirtschaftspolitik mit einer europäischen Schuldenbremse, einem Verfahren zur wettbewerblichen Restrukturierung und einem automatischen Austeritätsmechanismus bewehrt werden. Zugespitzt geht es um „austerity forever“. Die derzeitigen Austeritäts- und Restrukturierungsprogramme der „Problemstaaten“ sollen auf alle Mitgliedstaaten ausgedehnt und durch ihre Verrechtlichung auf Dauer gestellt werden. Um die Maßnahmen auch gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen, werden repressive Momente in Form von Geldbußen vorgesehen.

Während die Economic Governance ohne Rechtsgrundlage in der Europäischen Verfassung beschlossen wurde, geht der Fiskalpakt noch einen weiteren Schritt in Richtung Autoritarisierung. Aufgrund seines Charakters als völkerrechtlicher Vertrag unterläuft der Pakt auch noch die geringen demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Garantien des Europarechts: Der wegbrechende Konsens führt dazu, dass zur Fortsetzung der neoliberalen Integrationsweise auch noch Verfahren der formalen Demokratie (wie das Änderungsverfahren der „Europäischen Verfassung“) und grundlegende Kategorien der Rechtsform unterlaufen werden. Die Economic Governance, der Fiskalpakt und die institutionellen Präventivdispositive auf der nationalen Maßstabsebene des Europäischen Institutionengefüges sind darüber hinaus durch eine Aufwertung der Exekutivapparate und eine Entwertung jener Terrains gekennzeichnet, auf denen die Forderungen der Subalternen noch vergleichsweise günstige Ausgangsbedingungen haben (z. B. Parlamente). Die Hegemoniekrise in Europa und ihre affirmativen Lösungsversuche können daher in Anschluss an Nicos Poulantzas mit dem Begriff des „autoritären Wettbewerbsetatismus“ begrifflich gefasst werden.4
Ob sich diese Krisenbearbeitung langfristig durchsetzen kann, ist allerdings offen und Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Der Ausbau repressiver Herrschaftstechniken darf jedenfalls nicht als reine Stärkung der neoliberalen Gesellschaftsformation verstanden werden. Auch wenn sie wohl nie herrschender war als heute, lässt der Verlust ihrer führenden, spontanen Momente sie spröde werden. Letztlich geht es darum, ob sich das herrschende Institutionengefüge ungestört so neu zusammensetzen und einrichten kann, dass es über eine Autoritarisierung seine Krise überbrücken und überwinden kann. Gerade der aufziehende autoritäre Wettbewerbsetatismus verdeutlicht daher, dass sich die Subalternen auch auf die Transformation des europäischen Institutionengefüges orientieren müssen. Tun sie es nicht, werden sie durch die ökonomische und physische Re-Konfigurierung dieses Ensembles niedergeworfen werden.
Dass diese Transformation nicht allein über ein „linkes Staatsprojekt“ gelingen kann, wird deutlich wenn man sich einen der ernsthaftesten Versuche in der jüngeren Geschichte in Erinnerung ruft. 1981 kündigte Francois Mitterand – die damalige Führungsfigur eines Bündnisses aus sozialistischer und kommunistischer Partei – in seinem Regierungsprogramm den „Bruch mit dem Kapitalismus“ an. Schon nach zwei Jahren war das „projet socialiste“ durch die strukturellen Selektivitäten des finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes und seines europäischen Institutionengefüges jedoch derart aufgerieben, dass seine Politik in den neoliberalen Mainstream abtauchte. Eine umfassende demokratische und sozial-ökologische Transformation kann daher nur durch ein gesteigertes Eingreifen der Subalternen und die Entfaltung ihrer Initiativen innerhalb des europäischen Apparateensembles geschehen.
Dennoch bieten Wahlerfolge wie etwa jene von Hollande und Mélenchon in Frankreich oder der Partei der radikalen Linken (Syriza) in Griechenland wichtige Ansatzpunkte. Nicht aus sich heraus, sondern weil Bewegungen linke Regierungsbündnisse über sich und die strukturellen Selektivitäten der „politischen Form“ hinaus treiben können. Ob sich die autoritäre Wende stabilisieren wird, ist daher eine Frage, die nicht zuletzt dadurch entschieden wird, ob die Subalternen in Europa trotz der Politik der Angst zusammenströmen und, um es mit Thomas Seibert zu sagen, die „Demokratie der Plätze“ in Gang setzen: „Alle zusammen, jede für sich.“

Anmerkungen
1 Süddeutsche v. 21.4.2012.
2 Siehe den Brokdorf Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus 1985, BVerfGE 69, 315 – Brokdorf.
3 Ein Aufruf der Assoziation kritischer Gesellschaftsforschung zu dieser Thematik findet sich unter:www.demokratie-statt-fiskalpakt.org.
4 Siehe dazu und für eine nähere Darlegung der Economic Governance und des Fiskalpaktes die Beiträge unter http://homepage.univie.ac.at/lukas.oberndorfer.

Dieser Text ist der Ausgabe 13 des Magazins prager frühling entnommen. Die Ausgabe kann hierbestellt werden.