Strike Debt? Handlungsmacht in der Krise

Von Christina Kaindl

10.04.2013 / prager frühling (07.04.2013), auf www.linksnet.de

Die gesetzlichen Regelungen von Streiks sind in Deutschland so restriktiv wie sonst in keinem anderen (einigermaßen demokratischen) Land. Dass politische Themen ausgeschlossen sind, Streiks auf ihre Rolle in eng regulierten Tarifverhandlungen beschränkt sind, hat nachhaltig geprägt, was die meisten Menschen hier unter Streik verstehen. Erinnerungen an gewonnene Kämpfe gibt es kaum: Seit die Industriegewerkschaften durch die Globalisierung mit Standortkonkurrenz und Offshoring unter Druck sind, sind die Strategien so sehr auf (Rückzugs-)Verhandlungen gerichtet, dass kaum noch an machtvolle und erfolgreiche Streiks gedacht wird – wie solche um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in den 1950er Jahren, die Durchsetzung der 35-Stunden Woche in den 1980ern, und die vielen Kämpfe, die die Kopplung von Löhnen und Profiten erst in die Wirklichkeit gebracht haben. Eher noch ist das Debakel des Streiks für eine 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland (2003) präsent. „Dass du dich wehren musst, wenn du nicht untergehen willst, wirst du doch einsehen“ (Brecht), ist vielfach Resignation und Ohnmachtgefühlen gewichen. Die Lohnzurückhaltung der großen Gewerkschaften hat den riesigen Niedriglohnsektor ermöglicht, der mit der Agenda 2010 eingerichtet wurde.

Streiks sind nicht (an sich) revolutionär: Marx fasst sie als eine Form, in der das Verhältnis von Kapital und Arbeit austariert wird. Der Wert der Ware Arbeitskraft bemisst sich wie der jeder Waren an den gesellschaftlich durchschnittlichen Kosten ihrer (Re-)Produktion. Doch das klingt nur einfach: Was ist notwendig, um Arbeitsfähigkeit der Menschen herzustellen, aufrecht zu erhalten, wie wird der gesellschaftliche Durchschnitt festgestellt? Das bemisst sich nicht an Kalorientabellen, sondern ist Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungen, Klassenkampf sagte man dazu. Zeit zum Lesen, Ausruhen, Reisen, Teilhabe an Kultur und Wissensproduktion, Schwimmbad und Wellness (früher: Sportverein, Massagen auf Rezept) – ohne das lässt es sich nicht gut arbeiten. Der Kampf geht auch um den „sozialen Lohn“: soziale Infrastruktur, Wohlfahrtsstaat. Ob das Schwimmbad umsonst ist oder von meinem Gehalt abgeht, ob es einen Rechtsanspruch auf freie Kindertagesstätte gibt oder ob die Kinderbetreuung privat finanziert werden muss – all das sind Fragen, die den Wert der Arbeitskraft betreffen, und sind gleichzeitig fein säuberlich in die politische Sphäre sortiert worden, wo sie dem Kampfmittel des Streiks entzogen sind. Streik ist ein mächtiges Mittel, – „alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ – um für die Forderungen nach einem guten Leben Druck zu machen. Politische Streiks würden diese Fragen in die Arbeitskämpfe ziehen. Dorthin, wo in der Industrie zumindest das Druckpotenzial am höchsten ist. Daher die Forderungen nach einem „Recht auf politischen Streik“ (vgl. http://politischer-streik.de).

Mag Streik nicht an sich revolutionär sein, in jedem Fall wird darin wichtiges gelernt: dass die eigenen Interessen legitim sind; dass angebliche Sachzwänge verändert werden können; dass sich gemeinsam zu organisieren Kräfte freisetzt; dass die Welt nicht untergeht, wenn man was riskiert. Von der Streikkultur der Gewerkschaften hängt dann auch ab, was konkret gelernt wird: dass es auf die Betroffenen nur solange ankommt, bis in der Zentrale entschieden wird? Oder dass „große Entscheidungen“ auch von „kleinen Leuten“ getroffen werden können?

Der Streik im Öffentlichen: Erfahrungen von ver.di Stuttgart

Der Kampf gegen die Entwertung von Arbeit und den Diebstahl an Lebensqualität kann auch in andere Felder, in andere Lebensrealitäten getragen werden und dort die gleichen Erfahrungen vermitteln: dass es möglich ist, sich zu wehren; dass die Qualifizierung für die richtigen Forderungen, für eine bessere, solidarische Organisation des Lebens bei den Vielen liegt, die dieses Leben jeden Tag erzeugen. Die aktive, demokratische Streikkultur, wie sie bei ver.di Stuttgart praktiziert wird, hat etwa dazu beigetragen, das Bild der „schwer mobilisierbaren“ Angestellten im Handel – viele junge Frauen mit Migrationshintergrund – zu wandeln.[1] Der Streik war verbunden mit Demonstrationen, mit der Besetzung des öffentlichen Raums – selbst der demonstrationsfreien zentralen Einkaufsstraße – und die Streikenden haben jeden zweiten Tag aufs Neue über die Fortführung des Streiks entschieden. Sie machen damit Erfahrungen von kollektiver Selbstbestimmung (zumindest bis die bundesweiten Verhandlungsergebnisse präsentiert werden); in folgenden Auseinandersetzungen war die Bereitschaft größer, sich auf Konfrontationen einzulassen.

Die europäische Krisenpolitik unter Merkels Federführung ist ein Angriff auf die Reste europäischer Demokratie. Und sie ist ein neuer Anlauf, das Verhältnis von Kapital und Arbeit zu verschieben, den „gesellschaftliche Durchschnitt“ zu drücken – z.B. nur einen Tag pro Woche zur Reproduktion zu haben. Mit der Krisenpolitik sind Verweigerung und Konfrontation zurückgekehrt: Verschiedene „Wir-zahlen-nicht“-Bewegungen, etwa die Verweigerung in Griechenland Sondersteuern und Mautgebühren zu zahlen, und Aufrufe, die Zahlung von privaten Schulden (Kreditkarten, Studiendarlehen etc.) zu verweigern, verbinden sich mit Forderungen nach Schuldenschnitt und neuen Formen internationaler Solidarität.[2] Alltägliche Krisen und die Vielfachkrise kommen zusammen. Schuldenpolitik ist Klassenkampf von oben und in vielen alltäglichen Streiks wird Handlungsmacht zurückgewonnen: Strike debt!

Fußnoten

[1] Bernd Riexinger, 2011: Neue Streikkultur. Praxisbeispiele aus Stuttgart, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 4, S. 52-57.

[2] siehe etwa http://bit.ly/RDsFah; Griechische Kampagne für einen Schuldenschnitt, Luxemburg 1-2012, S. 34ff.