Es ist Zeit für einen neuen, einen solidarischen, gerechten und demokratischen Aufbruch in Europa.

Rede von Thomas Nord zum Kolloquium der französischen und der deutschen Linken am 23.05.2013 in Paris

28.05.2013 / 23.05.2013

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

dieses Treffen ist der erste konkrete Schritt zur Umsetzung der Vereinbarung zwischen beiden Parteien und den Fraktionen im Bundestag und in der Assemblee National zum 50. Jahrestag des Elysee-Vertrages. Ziel ist eine strategische Zusammenarbeit zwischen der Front de Gauche und der deutschen LINKEN. Die Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich wird in beiden Ländern und weit darüber hinaus als der Motor für die Europäische Integration, also der EU, wahrgenommen. Dieser Motor kommt im sechsten Jahr der Eurokrise zunehmend ins Stottern. Es läuft nicht mehr rund zwischen beiden Regierungen und der Druck auf die französischen Sozialisten, eine von Deutschland inspirierte Politik der Agenda 2010 „nachzuholen“ wächst unaufhörlich.

Konkreter Anlass für dieses Kolloquium ist daher auch die Verabschiedung der Gallois- Gesetze durch die sozialistische Regierungsmehrheit in der Assemblée Nationale und der Versuch, diesen Vorgang mit der Einführung der Hartz-Gesetze in Deutschland 2003, also vor genau 10 Jahren, zu vergleichen, den Charakter diesen Vorgangs in die politische Entwicklung der vergangenen Jahre einzuordnen und nicht zuletzt, Schlussfolgerungen für die Arbeit der linken Kräfte in beiden Ländern sowie zwischen ihnen abzuleiten.

Dieser Vorgang ist trotz aller bisherigen Zusammenarbeit zwischen der französischen Linken und der Deutschen in der Europäischen Linken neu. Nicht so sehr, weil es noch keine gemeinsamen Konferenzen gegeben hätte. Davon gab es schon mehrere. Neu ist er eher deswegen, weil durch die Euro-Krise, die Europäische Union und die Eurozone und vor allem die Kooperation von Frankreich und Deutschland aus der Peripherie der politischen Debatte in ihr Zentrum rücken.

Zumindest für Deutschland und die deutsche Linke ist das zunehmend der Fall. Für Frankreich war das schon mit der Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrages 2005 so und im letzten Präsidentschaftswahlkampf 2012 war es mit der Auseinandersetzung um den Fiskalpakt und der Schuldenbremse erneut ein wichtiges Thema.

Bei der Bundestagsfraktion ist Europapolitik in einem Arbeitskreis mit der Außenpolitik angesiedelt und wird häufig auch genauso behandelt. Die europäischen Nachbarländer kamen in der aktuellen Arbeit der Fraktion bis zur Eskalation der Eurokrise kaum vor und auf der linken Seite der Politik wurde die Wechselbeziehung zwischen den jeweiligen innenpolitischen Entwicklungen eher unterschätzt. Ernsthafter Ausgangspunkt für politische Analyse, Kritik und Strategien auch der innenpolitischen Entwicklungen ist sie in der Vergangenheit höchst selten gewesen und wenn doch, dann nur für einige wenige Funktionäre oder kurz vor der Aufstellung von Listen zur Europawahl. Die Europäische Union ist bisher gerade in Deutschland ein Projekt der bürgerlichen politischen Eliten. Im Alltagsbewusstsein spielte die EU eine untergeordnete Rolle. In meinem Bundesland Brandenburg liegt die Wahlbeteiligung bei Wahlen zum Europäischen Parlament unter 30 %.

Die Euro-Krise ändert das europäische Bewusstsein bei Millionen Menschen. Die bisher oft romantische Wahrnehmung der Europäischen Union als nicht hinterfragter Raum des Friedens, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der wachsenden Freiheiten und des Wohlstandes weicht nach und nach einer Realität aus handfesten existenziellen Fragen und Problemen für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Plötzlich fällt vielen auf: Die Europäische Union ist von einem westeuropäischen, wirtschaftspolitisch inspirierten Integrationsprojekt zu einer Institution der Durchsetzung neoliberaler Politik degeneriert.

Im Alltagsbewusstsein vieler Menschen in der EU, ist diese ein immer größer werdender Tanker. Dieser befindet sich in schwerer See und manövriert in gefährlicher Nähe zu den Klippen von Euroland. Der Tanker wird stetig größer und bekommt neue Schiffssektionen. Zugleich entfernen die leitenden Ingenieure eine Schiffsinnenwand nach der nächsten und die doppelte Außenwand. Um die gefährlich wachsenden Instabilitäten auszugleichen, zieht man kreuz und quer Hilfsbalken und Seile in den Schiffskörper ein und verliert nach und nach den Überblick über die Gesamtkonstruktion. Aus Kostengründen werden die Feuerlöschanlage, die Abwasserpumpen und die Rettungsboote eingespart. Nachdem Teile der Mannschaft die geplante Schiffsordnung wegen fehlender sozialer Standards zu Recht in einer Urabstimmung gekippt haben, begnügt sich die Schiffsführung stattdessen mit einer Sammlung von inkompatiblen Bedienungsanleitungen die keiner durchschaut, die schnell zusammengeheftet wurden und die je nach Belieben interpretiert werden.

Einem anderen Teil der Mannschaft steht inzwischen das Wasser bis zum Hals und versucht, zum Unmut der dortigen Belegschaft, sich in höher gelegenen Decks zu retten. Einige der Offiziere in den einzelnen Schiffssektionen fürchten den Untergang, wollen vermeintlichen Ballast abwerfen und planen die Reduktion des Rumpfes und zwar bei laufendem Betrieb und mitten auf hoher See. Derweil streitet man sich auf der Brücke darüber, ob Olivenöl auf den Tischen des Schiffrestaurants in Karaffen angeboten werden darf. Es steht die Frage, ob der Tanker die Titanic ist oder doch eher die Arche Noah.

Wie konnte es dazu kommen?

Stimmt die These, es gäbe keine europäische Identität? Wie wäre es mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? War das nicht einmal ein europäischer Kampfruf? Wenn auch seit Jahrzehnten in der moderneren Fassung: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Dieser Ruf mobilisierte von Frankreich ausgehend nicht nur Europa und es war egal, in welcher Sprache er gerufen wurde. Er überlebte die finstersten Zeiten europäischer Geschichte und prägt auch heute das soziale Bewusstsein der Mehrheit der Menschen in Europa. So gesehen, war die Durchsetzung des neoliberalen Entwicklungsmodells seit Ende der siebziger Jahre nicht nur ein sozialer, sondern auch ein Kulturbruch von europäischer Bedeutung. Im Rückblick wird deutlich: er ist eben so einschneidend, wie das Ende des realen Sozialismus, das zeigte, das ebenfalls für eine Mehrheit die Unterordnung individueller Freiheit unter die autoritäre Durchsetzung von Gleichheit kein akzeptables Lebensmodel ist.

Vor wenigen Wochen, Anfang April, hat uns der Tod von Margaret Thatcher daran erinnert, dass der Siegeszug des Neoliberalismus nicht erst nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus eingesetzt hat, sondern schon eine geraume Zeit vorher. Das wohl Erstaunlichste an ihrem Tod waren die heftigen Emotionen, die er in England ausgelöst hat, obwohl ihre Amtszeit schon vor 23 Jahren endete.

Eilig wurde eine Facebook-Gruppe gegründet, die ein Lied zu ihrem Erkennungszeichen machte. („Ding Dong! The Witch Is Dead“.) „Ding Dong – Die Hexe ist tot“. Es schaffte Platz 2 der BBC-Hitparade. Als Reaktion auf die Anti-Thatcher Kampagne griff die konservative BBC zum Mittel der Zensur. Erstmals in der Geschichte des Senders wurde ein Lied - das sowieso nur 51 Sekunden lang ist - nicht komplett, sondern nur sehr kurz angespielt. Sieben Sekunden. Danach folgte ein 90 Sekunden Werbeblock für Thatcher.

Wenn man die politische Lebensleistung von Frau Thatcher zusammenfassen will, dann hat dies niemand treffender getan als der 2006 in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnete Ken Loach. („ Remember she called Mandela a terrorist and took tea with the torturer and murderer Pinochet. How should we honour her? Let’s privatise her funeral. Put it out to competitive tender and accept the cheapest bid. It’s what she would have wanted.“) Er sagte: „Erinnert euch, sie hat Mandela einen Terroristen genannt und den Folterer und Mörder Pinochet zum Tee empfangen. Wie sollen wir Thatcher ehren? Lasst uns ihre Beerdigung privatisieren. Lasst uns ihre Beerdigung öffentlich ausschreiben. Der billigste Bieter bekommt den Zuschlag.“ Besser kann man diese Frau und ihre Politik nicht würdigen.

Rückführung der Staatsquote, Privatisierung ehemals staatlicher Aufgaben und Deregulierung des Kapitalverkehrs, das ist das kurz gefasste Credo des Neoliberalismus.

Großbritannien war aber nur der Anfang.

Der Name von Thatcher steht für die praktisch-politische Einführung des marktradikalen Neoliberalismus in Westeuropa. Er bedeutet: Kapitalismus pur, Effizienz und wirtschaftlicher Profit statt sozialer Gerechtigkeit. Entmachtung der Politik und das Primat des freien Markts. Militaristischer Patriotismus und starke soziale Ungleichheit. Es bedeutet Minimalstaat und Ausbeutung.

1990 endete der Kalte Krieg mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und obwohl dies das politisch angestrebte Ziel des Westen war, kam es doch überraschend und unerwartet. Mit der deutschen Vereinigung wurde der eiserne Vorhang zu einem Zeitpunkt aufgezogen, als die Eiserne Lady, die doch eher starrsinnig als standfest war, aus Downing Street ausziehen musste. Die Bundesrepublik Deutschland wandelte sich im kommenden Jahrzehnt von der Bonner zur Berliner Republik und wurde zum neuen geopolitischen Zentrum auf dem europäischen Kontinent. Die mittel- und osteuropäischen Staaten drängten in die Europäische Union und vollzogen die von ihnen erwarteten neoliberalen Anpassungsschocks. Radikale Privatisierung stand auf der Tagesordnung und aus ehemaligen kommunistischen Parteien mutierte Sozialdemokraten machten häufig den willigen Vollstrecker der vom Westen vorgegebenen neoliberalen Politik.

Mit der Eingemeindung der DDR in das vereinte Deutschland 1990 vollzog sich auch dort vom Osten ausgehend der erste Teil einer neoliberalen Schocktherapie. Das fiel aber in den alten Bundesländern kaum auf. Durch den Zusammenbruch der Industrie und ihre vollständige Privatisierung im Osten stieg die Auslastung der Betriebe im Westen und an Fachkräften gab es keinen Mangel. Auch die bereits von der Regierung Kohl eingeleitete erste Welle der Privatisierung großer Staatskonzerne erregte keine besondere Aufmerksamkeit. Erst mit dem Verfall des Wertes der Telekomaktie merkten die ersten Bundesbürger, wie sie über den Tisch gezogen wurden. Die Rente war ja sicher und der Spitzensteuersatz lag noch bei 53%. Das änderte sich mit der Regierung aus SPD und Grünen 1998.

Im ersten Akt wurde die Privatisierungen der CDU/CSU/FDP Koalition durch eine massive Umverteilung des Reichtums von unten nach oben durch Rot/Grün ergänzt. Der Spitzensteuersatz wurde um 10% gesenkt, die Unternehmenssteuer, die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer wurden massiv reduziert. Hedgefonds wurden zugelassen und der in der Finanzpolitik massiv dereguliert. Auch jetzt gab es noch keine nachhaltige gesellschaftliche Reaktion. Die öffentliche Aufmerksamkeit war durch einen anderen Vorgang gebunden. Deutschland beteiligte sich erstmals nach 1945 wieder an einem Krieg. Irgendwie darf so etwas bei der Vollendung neoliberaler Politik nicht fehlen. Erst mit der Verkündung der Agenda 2010 durch den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2003 änderte sich das gesellschaftliche Klima. Begründung für diese „Reform“ war die medial verstärkte Bewertung Deutschlands als kranker Mann Europas. Daher rührt der politische Impuls für den deutschen Hartz-Bericht. Er wurde im Februar 2002 von der Bundesregierung in Auftrag gegeben und am Nachmittag des 16. August 2002 erstmals ausgerechnet im französischen Dom in Berlin vor 600 geladenen Gästen öffentlich diskutiert. Der umstrittenste Teil der Umsetzung, die sogenannten Hartz IV Gesetze, trat zum 1. Januar 2005 in Kraft. Die Arbeitsmarktreformen, Hartz-Gesetze genannt, brachten zur schon praktizierten Privatisierung und Deregulierung den massiven Abbau sozialer und öffentlicher Leistungen. Hartz IV beendete auch in der öffentlichen Wahrnehmung vieler die Existenz der SPD als Sozialstaatspartei und brachte in der Konsequenz DIE LINKE als neue gesamtdeutsche Partei hervor. Der neoliberale Prozess konnte jedoch bisher nicht gestoppt werden. Die folgende Koalition aus CDU und SPD verschob das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre usw., usw.

Zeitgleich vollzog sich in der Europäischen Union eine weitere Entwicklung. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus wurde zunächst über eine unipolare Welt unter Leitung der USA oder eine multipolare Welt mit verschiedenen Machtzentren diskutiert. Diese Diskussion ist heute entschieden. Wir haben eine multipolare Welt, in der mehrere politische Machtzentren miteinander um Vorherrschaft ringen. Eines dieser Zentren ist dem eigenen Anspruch nach die Europäische Union. Mit ihrer sogenannten Lissabon-Strategie wurde auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000 beschlossen, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Als Messlatte dienten Japan und die USA. Der Gedanke des Wettbewerbs wurde hier nicht nur auf das Verhältnis der EU (die Euro-Zone gab es damals noch nicht als Realwährung) und den konkurrierenden Zentren Japan und USA gewidmet, sondern auch auf das Binnenverhältnis der Mitgliedssatten der EU und der Mitgliedsstaaten des Euro. Der Neoliberalismus wurde zur Leitlinie der weiteren Entwicklung der gesamten Europäischen Union.

Inzwischen leugnet selbst die deutsche Regierung nicht mehr, dass diese Strategie gescheitert ist. Europa ist in der Krise und alles andere als auf dem Weg zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt. Einen Grund zum Strategiewechsel sehen aber große Teile der europäischen politischen und Wirtschaftseliten trotzdem nicht. Im Gegenteil, die selbstorganisierte Eurokrise wird in guter alter und bewährter Weise für neue Schocktherapien genutzt. Mit der Troika wird sie in Irland, Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern und mit dem IWF in fast ganz Mittelosteuropa radikal fortgesetzt. Als nächstes steht schon lange Italien auf der Tagesordnung und dann, so zu sagen als Vollendung der ersten Runde, Frankreich.

Hier schließt sich der Kreis.

Durch die Erweiterungen von 2004 und 2007 hat die Europäische Union nunmehr 27 Mitgliedsstaaten und mit Kroatien werden es bald 28, aber eine lineare Fortschreibung der Europäisierung, die nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts mit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, den Römischen Verträgen und dem Élysée-Vertrag ihren Auftakt fand, ist das nicht mehr.

Das politische, ökonomische, kulturelle und soziale Herz dieser Linie war die Amitié Franco-Allemand, die französisch deutsche Freundschaft. Der Gedanke einer europäischen Zusammenarbeit ist seit dem Ende des zweiten Weltkriegs zwischen den beiden zentralen europäischen Staaten, Frankreich und Deutschland an das Element eines Gleichgewichts gekoppelt. Ohne diese Basis wäre das bilaterale Verhältnis beider Staaten zueinander keine Deutsch-Französische Freundschaft geworden. Das Schlagwort vom deutsch-französischen Motor hätte ohne den Gleichtakt nicht die Bedeutung bekommen, die es über lange Jahrzehnte hatte. Doch der Motor, der in den 1950er Jahren seine ersten Umdrehungen gelaufen ist, ist in die Jahre gekommen und das liegt nicht allein an den zurückgelegten Integrationskilometern.

Im Mai 2010 trat die Bundeskanzlerin nach der verlorenen NRW-Wahl vor das Plenum des Deutschen Bundestages und beantragte die Bewilligung für das erste griechische Bankenrettungspaket. Erst im Oktober 2008 hatten Bundestag und Bundesrat als Reaktion auf die Weltfinanzkrise mit Mehrheit ein 480-Milliarden-Eilgesetz zum Schutz der Banken durchgepeitscht. Seitdem wird die Fehlkonstruktion der gegenwärtigen EU und der Euro-Zone immer offensichtlicher und die architektonischen Risse sind längst von der Peripherie ins Zentrum gewandert. Eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne eine politische Union ist ein Hocker mit zwei Beinen. Das Domino der Rating-Agenturen hat volle Arbeit geleistet.[1] Im Dezember 2012 wurde das Ende der Symmetrie zwischen Deutschland und Frankreich verkündet.[2] Der Zweitakter hat keinen Gleichklang mehr und läuft spätestens seit der Wahl von Francois Hollande auch politisch in unterschiedliche Richtungen.

Das bedeutet zweierlei: Deutschland und Frankreich driften ökonomisch, sozial und politisch in unterschiedliche Richtungen. Der deutsche Vorwurf: Frankreichs wirtschaftlicher Abstieg zerstört die Symmetrie im Euroraum. Die deutsche Forderung: Frankreich braucht eine Hartz-IV Reform. Als Folge auf die politischen Linienvorgaben der schwarz-gelben Regierung wird die deutsch-französische Symmetrie nicht nur in der französischen öffentlichen Wahrnehmung zur deutschen Hegemonie. Die französische Regierungspartei PS hat zum Kampf gegen die egoistische Unnachgiebigkeit der Bundeskanzlerin aufgerufen. Innerhalb von einem halben Jahr wurde der horizontale Ansatz in einen vertikalen umgedeutet, auch Frankreich gehört nun zu den Ländern, mit denen wieder deutsch gesprochen wird.

Und obwohl Frankreich von der EU-Kommission eine Fristverlängerung für die Defizitbewältigung bekommen hat, die Bundesregierung stimmte nicht dagegen, gewinnt die Diskussion an Schärfe. Die aktuelle Lage ist mehr als eine momentane Verstimmung, sie hat einen langfristigen Trend und ist das Realisieren einer veränderten Architektur von einer westeuropäischen EU der 15 hin zu einer neoliberalen EU der 28. Rückblickend auf den Beginn der deutsch-französischen Aussöhnung in den 1950er Jahren war dieses Kräfteverhältnis auf die Achse von London, Paris und Bonn ausgerichtet, nicht auf die Achse von London, Paris und Berlin. Im Frankreich der kommenden Jahre wird entschieden in welche Richtung die Waage sich in Europa neigt.

Denn auf der anderen Seite steht Großbritannien schon bereit, den Startschuss für eine Thatcher-Gedächtnisrunde zu geben.

England ist nicht Mitglied in der Euro-Zone und neoliberaler Statthalter der Ding-Dong Lady. David Cameron hat sich mit seinem Vorstoß zu einem Referendum nach der Wahl 2015 über den Verbleib Großbritanniens in der EU mehr oder minder für die Konstituierung Europas als Freihandelszone ausgesprochen. „Es gibt kein europäisches Volk.“ Er hätte hinzufügen sollen: „Es gibt keinen europäischen Souverän und wird mit Hilfe von Britannien auch nie einen geben.“ Damit geht er auf konservative Stimmungen in Großbritannien ein, die in einem Manifest für einen Neustart der EU ausgedrückt wird: („Our ambition is to build on the success of he single market. We want to ensure the EU institutions protect and deepen the single market. We also want to protect british sovereignty, ensuring that the british Parliament can decide what is best for Britain. We do not share the vision of »ever closer union« as set out in the EU treaties.“) „Unser Ehrgeiz ist es, auf dem Erfolg des Binnenmarktes aufzubauen. Wir wollen sicherstellen, dass die EU-Institutionen den Binnenmarkt schützen und vertiefen. Wir wollen die britische Souveränität schützen, sicherstellen dass das britische Parlament entscheiden kann, was das Beste für Britannien ist. Wir teilen das Ziel einer immer engeren Union nicht, wie es in den EU-Verträgen formuliert ist.“ Aus seinem Blickwinkel wird die Londoner City deren Kapitalverkehrsknotenpunkt sein.

In der Euro-Krise und im Kampf über seinen Fortbestand konzentriert sich der Fokus im Moment auf das deutsch-französische Verhältnis oder man könnte nach der Meinung der konservativen Presse in Deutschland schon fast sagen: Das deutsch-französische Zerwürfnis.

Diese Entwicklung kann der Linken nicht egal sein.

Die Euro-Krise und die aus neoliberaler Politik resultierende Krise der politischen Institutionen der Europäischen Union gefährden inzwischen die europäische Integration existenziell. Ein Scheitern dieses Vorhabens wäre jedoch kein Triumph der Linken, weil sie z.B. mit ihrer Kritik am Lissabonvertrag oder der Konstruktion der Eurozone recht gehabt hat. Ein solcher Sieg würde schnell sehr bitter schmecken. Es wäre um bei den Griechen zu bleiben - ein Pyrrhussieg.

Ein Zurück zu einem Europa der Nationalstaaten schwächt im Zeitalter transnationaler Konzerne und allmächtiger internationaler Finanzakteure die Kräfte der Regulierung der Märkte und die Möglichkeiten sozialer Gegenmacht, gefährdet die europäische Stabilität und spielt mit dem Feuer irrationaler Nationalismen.

Je kleiner die Staaten, umso wehrloser sind diese den unregulierten und globalen Märkten ausgeliefert. Oder sie bieten sich diesen als Steueroasen an. Der Bedarf daran dürfte aber inzwischen auch gedeckt sein.

Mit der Euro-Krise delegitimiert sich das neoliberale Entwicklungsmodell. Es ist –auf Grund des Primats der vollständigen und absoluten Deregulierung der Märkte und der Kapitalfreiheit- unfähig eine funktionierende europäische Einheit dauerhaft herzustellen. Es zerstört -und zwar ersatzlos- erreichten zivilisatorischen Fortschritt, demokratische Standards, soziale Ausgleichssysteme und produziert unablässig folgende Krisen in der Ökonomie, denen permanente politische Krisen folgen.

Immer mehr Menschen spüren das. Was fehlt, ist eine zukunftsfähige, breit akzeptierte, solidarische, demokratische und gerechte Alternative für Europa und die EU. Deshalb haben die französische und die deutsche Linke begonnen, gemeinsam mit Linken anderer Länder, über solche Alternativen zu diskutieren. Dazu gehört es, die in den einzelnen Ländern gemachten Erfahrungen auszutauschen, die europäischen und globalen Zusammenhänge aufzudecken, über die Folgen der jetzigen Politik aufzuklären und gemeinsam gegen sie zu kämpfen. Auch hier, heute und jetzt tun wir dies, indem wir über die finanzpolitischen Zusammenhänge der Eurokrise und die der Hartz-Gesetze mit den Gallois-Paket diskutieren.

Die europäische Linke muss die demokratische und soziale Umgestaltung Europas und der EU als die historische Aufgabe der Gegenwart für sich begreifen. Dazu gehört, auf nationaler und auf europäischer Ebene zueinander zu finden, das antidemokratische Erbe der Vergangenheit hinter sich zu lassen und in diesem Sinn eine neue, in der Kritik radikale, aber eben zugleich in der Lösung demokratische Linke in Europa zu konstituieren. Die Fixpunkte linker Politik in Europa liegen heute nicht mehr in Moskau, dem mexikanischen Exil oder auf einem langen Marsch in China. Sie liegen heute wieder -wie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts- in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Staaten des Kontinents, also nicht zuletzt in Paris und Berlin. Die europäische Linke muss die verschiedenen autoritären Schützengräben des vorigen Jahrhunderts verlassen und unter Anerkennung zivilisatorischer Errungenschaften wie demokratischer Grund- und Menschenrechte ihre Spaltungen überwinden. Nur eine demokratische Linke ist heute dauerhaft im außerparlamentarischen und im parlamentarischen Raum bündnis- und erweiterungsfähig. Und gesellschaftliche Bündnisfähigkeit, mit Gewerkschaften, sozialen und ökologischen Verbänden und Organisationen ist dringend notwendig. Denn nur ein Bündnis der Vielen kann dem Bündnis der Mächtigen Paroli bieten. Ihre europäische Identität sollte der alte Schlachtruf der französischen bürgerlichen Revolution in aktueller Abwandlung sein: „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“. Dieses Versprechen ist für Europa noch nicht vollendet, ja es droht die Gefahr, dass das Erreichte revidiert wird.

Im kommenden Jahr werden wir den 100. Jahrestag des Beginns des I. Weltkriegs begehen und damit auch den Jahrestag des ruhmlosen Untergangs der II. Internationale, die das Versprechen sozialer Emanzipation der Unterdrückten nicht einlösen konnte. Die Vorkriegssozialdemokratie war unfähig, an ihrem Nein zum imperialistischen Krieg festzuhalten. Die Spaltung der Arbeiterbewegung war die Folge und der Kampf um den Frieden ist auch heute keine sinnentleerte Phrase. Deshalb ist dazu eine weitere deutsch-französische Konferenz der LINKEN im kommenden Jahr geplant.

Klar ist, auch heute noch ist das Verhältnis der radikalen Linken zur Sozialdemokratie ein Reizthema in Frankreich wie in Deutschland. In Großbritannien, in Deutschland und anderswo waren sozialdemokratische Regierungen maßgeblich an der Durchsetzung neoliberaler Politik in Europa beteiligt. An dieser Kritik gibt es nichts zurück zu nehmen. Viele der beteiligten Parteien bezahlen diese Politik heute mit wachsender Bedeutungs- und Einflusslosigkeit. Diese Situation führt bei einigen sozialdemokratischen Politker_innen zu verbalen Positionsänderungen. Sie denken vorsichtig über Korrekturen ihrer bisherigen Politik nach.

Noch hat die sozialistische Partei Frankreichs nicht vollständig kapituliert. Der im Wahlkampf bekämpfte Fiskalpakt, die damit verbundene Schuldenbremse und die Arbeitsmarktreformen wurden inzwischen unterschrieben. Damit ist die strategische finanzielle Handlungsfähigkeit Frankreichs dauerhaft und grundlegend eingeschränkt, aber noch tritt die französische Regierung für eine Reichensteuer ein und verteidigt Teile des öffentlichen Eigentums. Ein anderer Teil soll inzwischen als Folge des Beitritts zum Fiskalpakt, zur Finanzierung wichtiger Investitionen doch privatisiert werden. Es ist richtig und wichtig, das differenziert zu benennen und gleichzeitig den Druck von links auf diese Regierung aufrecht zu erhalten. Von rechts könnte er schärfer nicht sein. Vollendet die sozialistische Regierung in Frankreich wie Rot-Grün in Deutschland ihren Wahlbetrug, ist das nicht das Ende der Auseinandersetzung in Europa, sondern es wird eine neue Runde neoliberaler Politik eingeleitet werden. Schon läutet das neoliberale Totenglöckchen erneut mit der Melodie der Wettbewerbsfähigkeit. Die Rente ab 70 wird gefordert und eine weitere Senkung der Kosten der Arbeit, also der Ware Arbeitskraft.

Genau deshalb muss jede Chance für die Einleitung einer Kurskorrektur in der europäischen Politik hinterfragt und auf Handlungsmöglichkeiten für die LINKE abgeklopft werden. Das Wahlprogramm der französischen Sozialisten zu den Europawahlen 2014 ist meilenweit von den genannten Vorgaben der sogenannten Wettbewerbsfähigkeit neoliberaler Prägung und auch vom Europateil des Bundestagswahlprogramms der deutschen Sozialdemokraten entfernt. Etwas mehr Französisch bei der SPD ergäbe die Möglichkeit einer ersten Kurskorrektur in der deutschen Europapolitik, deutlichen Abstand zu den Zielen der britischen Konservativen und zugleich die Erweiterung des politischen Spielraums der französischen Linken im Kampf gegen die Schuldenbremse und die Gallois-Gesetze. Also aus unserer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin nicht naiv und werde auch nicht dazu aufrufen, die Sozialisten zu wählen. Ganz im Gegenteil, es ist hier und in ganz Europa bekannt: je höher das Wahlergebnis bei den Sozialdemokraten, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach den Wahlen das Gegenteil von dem tun, was sie im Wahlkampf versprachen. Die Erfahrungen sagen, nur eine starke, selbstbewusste und zielstrebige LINKE kann dazu führen, das Sozialdemokraten dazu gezwungen werden können, nach der Wahl das zu tun, was sie zu vor der Wahl zugesagt haben. Allerdings sollten wir diese Möglichkeit eben nicht ausschließen, sondern sie ganz bewusst herbeiführen. Ich nenne das konstruktive Konkurrenz.

Wir mögen den sozialdemokratischen Opportunismus nicht, aber sollten wir ihn deshalb nicht trotzdem nutzen, wenn es dadurch möglich wird, mit einer starken LINKEN eigene Politikziele durchzusetzen? Die neoliberalen und konservativen Kräfte in Europa haben da keine Skrupel. Allein werden wir aktuell keine Mehrheiten für einen Politikwechsel in Europa bekommen. Außerparlamentarische Mehrheiten reichen hin und wieder, um notwendigen Druck auszuüben und das eine oder andere zu verhindern und nichts tut zurzeit mehr Not als gemeinsamer und zeitgleicher europäisch organisierter Protest und Widerstand. Um aber eine Bessere als die jetzige Politik demokratisch durchzusetzen, genügen sie nicht. Gebraucht werden diese Mehrheiten aber jetzt, nicht erst in ferner Zukunft. Die Frage lautet also, wann können wir mit und wann müssen wir gegen Sozialisten und Sozialdemokraten unsere Ziele durchsetzen? Können wir mit ihnen gegebenenfalls auch regieren, ohne unsere Identität zu verlieren und ohne unsere Wählerinnen und Wähler zu verlieren? Auch diese Fragen sollten wir gemeinsam diskutieren.

Liebe Genossinnen und Genossen,

es kann aber sein, die Geschichte überholt unsere Debatten und auch die französischen Sozialisten kapitulieren vollständig. Dann wird es dieser Partei nicht anders ergehen als z.B. der Sozialdemokratie in Deutschland. Wählerinnen und Wähler, jetzige Mitglieder der Partei werden sich von ihr abwenden und es bleibt der demokratischen und radikalen Linken vorbehalten, als einzige Partei für ein solidarisches, gerechtes und demokratischeres Europa zu kämpfen. Dann müssen wir diese Aufgabe annehmen. Wir müssen das dann schon deshalb, weil die andere „Alternative“ in Form von Nationalistischen und rechtsextremen Parteien schon an Kraft gewinnt.

So oder so:

Von Frankreich sind in der Moderne viele grundlegende Änderungen in Europa und der Welt ausgegangen. Die französische Linke war daran zumeist maßgeblich beteiligt. Es ist Zeit für einen neuen, einen solidarischen, gerechten und demokratischen Aufbruch in Europa. Vielleicht können diesmal deutsche und französische Linke gemeinsam dafür kämpfen. Lasst es uns versuchen!.


[1] http://www.neues-deutschland.de/artikel/195133.domino-der-ratingagenturen.html

[2] http://www.handelsblatt.com/politik/international/top-oekonomen-warnen-frankreich-derzeit-groesste-gefahr-fuer-den-euroraum-seite-all/7469766-all.html