Deutschland-Bilanz - Arbeitsmarkt & soziale Spaltung

Von Joachim Bischoff und Bernhard Müller

05.08.2013 / sozialismus.de, vom 04.08.2013

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dieses Land während zwei Legislaturperioden mit letztlich großen Herausforderungen geprägt; gestützt auf die christdemokratische Partei, die sie seit weit mehr als einem Jahrzehnt zusätzlich managt. Aber die letzte, die schwarz-gelbe Legislaturperiode hat entgegen der öffentlichen Meinung im Alltagsbewusstsein der großen Mehrheit der Bevölkerung auch wenig überzeugende Seiten.

Von dem, was sich die schwarz-gelbe Koalition vorgenommen hatte, ist am Ende wenig realisiert worden. Die Überschrift über dem Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2009 lautete: »Wachstum, Bildung, Zusammenhalt«. Die Zielsetzung, vor allem den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft durch Bildungsreformen, ökonomisches Wachstum und Prosperität zu stärken, wurde unter dem Strich verfehlt. Die bestimmenden politischen Operationen lauteten Eurokrise, Staatsschuldenkrise, Rettungsschirm Griechenland. Eine bessere Kontrolle der Banken – auch das hatte sich die Koalition vorgenommen. Eigentlich sollte die Bankenaufsicht in Deutschland bei der Bundesbank konzentriert werden. Bundesbank und Finanzaufsicht BaFin teilen sich aber nach wie vor die Kontrolle.

Für die aktuell gute Position bei den Umfragen – die CDU/CSU liegt zwischen 40 und 42% – war sicherlich die zügige Erholung aus der Finanzkrise 2008/2009 ausschlaggebend. Mit Wachstumsraten von 4,2% und 3,0% in den Jahren 2010 und 2011 sowie immer noch einem Plus von 0,7% im vergangenen Jahr, als die Euro-Zone bereits in die Rezession absackte, behauptete sich Deutschland besser als die meisten europäischen Partnerländer. Bei der Arbeitslosenzahl liegt Deutschland stabil unter der kritischen Marke von drei Millionen und bei der Beschäftigung auf dem Rekordniveau von fast 42 Millionen.

Doch sehen wir uns den Arbeitsmarkt genauer an. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist im Juli 2013 leicht gestiegen: 2,9 Mio. BürgerInnen sind ohne Job. Die Arbeitslosenquote legte um 0,2 Punkte auf 6,8% Prozent zu. Im Vergleich zum Vorjahresmonat waren diesmal 38.000 Menschen mehr auf Jobsuche, die Quote blieb jedoch auf Jahressicht unverändert. Ein Faktor ist, dass sich viele Jugendliche nach dem Ende der schulischen oder beruflichen Ausbildung vorübergehend arbeitslos melden und Arbeitgeber mit Neueinstellungen bis nach den Sommerferien warten.

Damit setzt sich der arbeitsmarktpolitische Trend der letzten Monate fort: Anders als in den Vorjahren hält sich der Beschäftigungsaufbau in engen Grenzen. Gleichzeitig gibt es keinen Abbau der Arbeitslosigkeit mehr. Gegenüber den Vorjahren steigt die Zahl der Arbeitslosen – wenn auch bisher noch auf niedrigem Niveau.

Die Seitwärtsbewegung am Arbeitsmarkt hat vor allem damit zu tun, dass sich das Wirtschaftwachstum inzwischen deutlich abgeschwächt hat. Nach einem Minus im letzten Quartal 2012 (-0,7%), stagnierte die Wirtschaftsleistung im ersten Quartal 2013 (+0,1%). Für das zweite Quartal wird zwar ein leichtes Plus erwartet, dem aber nach den Prognosen im zweiten Halbjahr eine erneute Abschwächung folgen wird – mit Folgen für den Arbeitsmarkt.

In den meisten anderen europäischen Ländern ist die Situation schon jetzt sehr viel dramatischer. Zwar vermeldet die europäische Statistikbehörde Eurostat für den Juni zum ersten Mal seit zwei Jahren einen minimalen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den 17 Staaten des Euroraums bzw. in der EU 27. Die um jahreszeitliche Schwankungen bereinigten Arbeitslosenquoten verharren mit 12,1% (EU17) bzw. 10,9% aber weiterhin auf Rekordniveau.

Eurostat schätzt, dass im Juni 2013 in der EU27 insgesamt 26,4 Mio. Männer und Frauen arbeitslos waren, davon 19,3 Mio. im Euroraum. Gegenüber Mai 2013 fiel die Zahl der arbeitslosen Personen in der EU 27 um 32.000 und im Euroraum um 24.000. Im Vorjahresvergleich (Juni 2012) nahm die Zahl der Arbeitslosen in der EU 27 allerdings um 1,1 Mio. und im Euroraum um 1,13 Millionen zu.

Dabei ist die ökonomisch-soziale Kluft im Währungsraum weiterhin enorm groß: Österreich mit 4,6%, Deutschland mit 6,8% (Juli 2013) und Luxemburg mit 5,7% weisen die niedrigsten Werte auf. Die Krisenländern Spanien und Griechenland werden dagegen auch wegen der verordneten rigorosen Austeritätspolitik von einer enorm hohen Arbeitslosigkeit geplagt. Hier war jeder vierte Erwerbsfähige arbeitslos.

Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit sind junge BürgerInnen im Alter unter 25 Jahren. Im Juni 2013 waren in der EU 27 5,5 Mio. junge Erwachsene arbeitslos, davon 3,5 Mio. im Euroraum. Auch hier wieder die charakteristischen Merkmale der ökonomisch-sozialen Spaltung Europas: Die niedrigsten Arbeitslosenquote für diese Alterskohorte verzeichneten im Juni 2013 Deutschland (7,5%), Österreich (9,3%) und die Niederlande (11,0%), und die höchsten Quoten meldeten dagegen Griechenland (58,7% im April 2013) und Spanien (56,1%).

Und die Prognosen sind düster. Die Eurozone befindet sich nach wie vor in der Rezession und daran wird sich auch wegen der verschärften Sparpolitik nichts ändern. Nach Einschätzung der Wirtschaftsberatungsfirma Ernst & Young wird die Arbeitslosigkeit im Euroraum im kommenden Jahr auf 20,3 Mio. steigen und könnte erst ab 2015 wieder sinken. Das Vorkrisen-Niveau werde mittelfristig nicht wieder erreicht. Zum Vergleich: 2007 waren »nur« 11,8 Mio. Menschen ohne Job.


Deutschland: Spitzenreiter in Sachen sozialer Spaltung

Die Kehrseite des nun zu Ende gehenden deutschen »Wirtschafts- und Jobwunders« der letzten Jahre ist eine enorme Polarisierung von Einkommen und Vermögen. Nachdem zuletzt in einer Untersuchung der Europäischen Zentralbank nachgewiesen worden ist, dass Deutschland in Sachen Ungleichheit der Vermögen einen Spitzenplatz in Europa belegt, kommt nun eine neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Thomas Rein, Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich, IAB-Kurzbericht 15/2013) zu dem Schluss, dass der europäische »Zuchtmeister« auch in Sachen Niedriglohnsektor europäische Spitze ist.

Danach weist Deutschland bei den auf Basis von Stundenlöhnen ermittelten Niedriglohnquoten[1] mit einem Anteil von 24,1% an allen Beschäftigten den höchsten Wert unter den 17 Vergleichsländern auf, wenn man einmal von Litauen (27,5% absieht. »Darin zeigt sich ein hierzulande besonders hohes Maß an Lohnungleichheit.« Relativ niedrig sind die Quoten dagegen in Belgien, Frankreich, Italien und den skandinavischen Ländern.

Betrachtet man nur die Vollzeitbeschäftigten und berechnet für deren Monatslöhne eine separate Niedriglohnschwelle, ergibt der Ländervergleich ein kaum verändertes Bild: Wieder liegt Litauen an der Spitze, danach sind die Niedriglohnquoten in Großbritannien, Zypern, Polen und Bulgarien am höchsten. Die deutsche Quote liegt mit 19,5% dicht dahinter. Noch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre lag Deutschland bei den Niedriglöhnen von Vollzeitbeschäftigten im Mittelfeld der damaligen EU-Mitgliedsländer.

Verglichen mit anderen Ländern sind von Niedriglohn Teilzeitbeschäftigte und Frauen in Deutschland besonders betroffen. Frauen stellen in allen untersuchten Ländern die Mehrheit der Geringverdiener – in Deutschland sind es 62,9%. Hierzulande gibt es mit 16,7% auch eine relativ hohe Niedriglohnquote von Männern, aber die der Frauen ist mit 32,4% fast doppelt so hoch. In keinem anderen Land (mit Ausnahme Österreichs) ist die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern derart ausgeprägt.

Bei der Lohnverteilung gibt es deutliche Unterschiede zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit. In allen europäischen Ländern, die in die Untersuchung einbezogen wurden, beziehen Teilzeitbeschäftigte häufiger Niedriglöhne als Vollzeitbeschäftigte. Deutschland zeichnet sich auch hier dadurch aus, dass die Niedriglohnquoten für beide Gruppen wiederum die höchsten sind. Gleichzeitig ist der Wert für Teilzeitbeschäftigte mit 40,1% mehr als doppelt so hoch ist wie der für Vollzeitbeschäftigte (18,2 %).

Eine vergleichbare Diskrepanz ist nur in Großbritannien festzustellen. Das hat vor allem damit zu tun, dass in Deutschland deutlich mehr als 40% aller Geringverdiener in Teilzeit arbeiten. Dazu trägt vor allem auch die Verbreitung der geringfügigen Teilzeitarbeit (Minijobs) bei: Über 11% aller Geringverdiener arbeiten zwölf Wochenstunden oder weniger – ein Anteil, der in keinem anderen Land auch nur annähernd erreicht wird.

Von Niedriglöhnen besonders betroffen sind die befristet Beschäftigten. Rund die Hälfte von ihnen arbeitet in Deutschland zu Vergütungen unterhalb der Niedriglohnschwelle.

Die Druckwelle der Prekarisierung der Lohnarbeit erfasst mehr und mehr auch die »Normalarbeitsverhältnisse«. Der Ländervergleich zeigt, dass auch »Kerngruppen« des Arbeitsmarkts betroffen sind. Der IAB-Kurbericht illustriert dies »anhand einer Gruppe …, die eine Kombination von lauter ›günstigen‹ Merkmalen aufweist: männlich, unbefristet vollzeitbeschäftigt in einem Betrieb mit mehr als 50 Beschäftigten, inländische Staatsangehörigkeit, abgeschlossene Ausbildung, mindestens 30 Jahre alt. Bei dieser Kerngruppe ist zu erwarten, dass die Niedriglohninzidenz deutlich kleiner ist als im jeweiligen nationalen Durchschnitt. Das trifft zwar zu, und diese Gruppe stellt in allen Ländern nur eine Minderheit unter den Geringverdienern dar. Aber auch innerhalb dieser Gruppe sind die Vergütungen in Deutschland stärker differenziert und auch deshalb ist ihre Niedriglohnquote höher als anderswo.«

Die massive Ausbreitung prekärer Beschäftigung hat vor allem mit der durch den Finanzmarktkapitalismus ausgelösten Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der organisierten Vermögensverwaltung zu tun, die in der Folge eine Auflösung der Form der organisierten Lohnarbeit und über die Prekrarisierung eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse im nationalstaatlich organisierten Kapitalismus nach sich zieht. Die Ausrichtung am Shareholder-Value und die dahinter steckende Begünstigung der leistungslosen Kapital- und Vermögenseinkommen schlagen sich in einer gesamtgesellschaftlich fallenden Quote des Arbeitseinkommens. Und: Öffentliche Dienste sowie wichtige soziale Dienstleistungs- und Infrastrukturbereiche wie Bildung, Gesundheit, Alterssicherung, Umwelt, Wasser, Energie werden der Kapitalverwertung geöffnet.

Die Arbeitsmärkte haben sich in den kapitalistischen Hauptländern stark verändert und es ist in der Beschäftigungsstruktur zu erheblichen Umwälzungen gekommen. Eine verfestigte chronische Massenarbeitslosigkeit hat sich in allen europäischen Ländern eingenistet. Zudem breiten sich informelle, ungeschützte, nicht regulierte Arbeitsverhältnisse aus. Dies zeigt sich auch im Rückgang unbefristeter (»dauerhafter«) Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen und einem Anstieg von Teilzeitarbeit, befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeit, (Schein-) Selbstständigkeit und Niedriglohnjobs. Immer mehr Menschen sind so von der Teilhabe an ausreichendem Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit ausgeschlossen.

Dass Deutschland in Sachen Niedriglohnsektor heute eine europäische Spitzenstellung einnimmt, hat auch damit zu tun, dass die Deregulierung des Arbeitsmarkts durch die rot-grünen, schwarz-roten und schwarz-gelben arbeitsmarktpolitische »Reformen« der letzten zehn Jahre politisch besonders massiv gefördert wurde. Ungeschütze Leiharbeit, prekäre befristete Beschäftigung und der enorm gewachsene Bereich geringfügiger Beschäftigung wurden durch diese »Reform« sehr viel stärker vorangetrieben als in anderen europäischen Ländern. Bis heute fehlt zudem ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn.

Zu Recht weist der IAB-Bericht darauf hin, dass die Prekarisierung der Lohnarbeit, damit auch der massive Ausbau des Niedriglohnsektors, schon vor der Agenda-Politik eingesetzt hat. Denn »das Wachstum der Niedriglohnbeschäftigung begann bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, während die Reformen in der Hauptsache erst in den Jahren 2002 (Einsetzung der Hartz-Kommission) und 2003 (Verkündung der Agenda 2010) starteten.« Allerdings haben diese »Reformen« die Prekarisierung der Lohnarbeit beschleunigt und verstetigt.

Die Bundeskanzlerin hat keinen Blick für die atypischen Beschäftigungsverhältnisse und die massive Ausbreitung der Prekarisierung. Für sie ist ihre Amtszeit »die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung«. Dies gilt für den Bereich der Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse mit Sicherheit nicht.

Gleichwohl ist Realität: Angela Merkel genießt wie kein/e andere/r Politiker/in das Vertrauen der Deutschen. Die Union liegt knapp 50 Tage vor der Bundestagswahl in allen Umfragen weit vor der SPD. Der Koalitionspartner FDP wird die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Rot-Grün will es nicht gelingen, eine Wechselstimmung im Land zu erzeugen, und ist ohne konkret genährte Hoffnung auf einen Regierungswechsel. Affären und Skandale prallen an der Kanzlerin ab. Die Opposition findet insgesamt kein politisches Rezept zur kritischen Bewertung der Regierungsbilanz.

[1] Als Datengrundlage für den europäischen Vergleich dient der »Survey on Income and Living Conditions« (EU-SILC), eine repräsentative Befragung von Haushalten in den Mitgliedsländern der EU. Die Höhe der Niedriglohnschwelle wird in Relation zum mittleren Lohn bzw. Medianlohn in einem Land bestimmt. Genauer: Ein Lohn gilt als Niedriglohn, wenn er unter dem Schwellenwert von zwei Dritteln des Medians liegt. Wegen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse wird die Niedriglohnschwelle für jedes Land separat ermittelt. Auf Grundlage dieser Schwelle lässt sich die Niedriglohnquote (auch Niedriglohninzidenz genannt) als Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten ermitteln. Diese Quote ist der zentrale Indikator für die Größe des Niedriglohnsektors in einem Land und damit auch für die (Un-)Gleichverteilung der Lohneinkommen, allerdings nur für die untere Hälfte der Lohnverteilung.