Alternativen zur Vertiefung der sozialen Spaltung
von Axel Troost
Auch wenn vier Wochen vor der Bundestagswahl die Debatte um einen Schuldenschnitt für Griechenland wieder hochkocht, scheint insgesamt die Krisenentwicklung in der EU keinen großen Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung zu besitzen. Dabei beschäftigt die Angst vor negativen wirtschaftlichen Folgen wie Altersarmut durch niedrigere Zinsen und Renten die Menschen derzeit offensichtlich viel stärker, als es aktuell im Wahlkampf der Parteien den Anschein hat. Vier von fünf Bürgern befürchten, dass die Turbulenzen in der Europäischen Union und im Euro-Raum hierzulande die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen. Dass die Krise – wie einige Politiker der schwarzgelben Koalition Glauben machen wollen – ihren Höhepunkt bereits überschritten hat, denken aber nur 17 Prozent der befragten Bürger. Die überwiegende Mehrheit der Befragten meint, dass die Eurokrise noch lange anhalten wird.
Diese Befürchtungen haben angesichts der sich weiter ausbreitenden atypischen, prekären Beschäftigung einen konkreten Anschauungspunkt. Auch die weiter angestiegene Zahl der Beschäftigten in der Bundesrepublik mit einem Zweitjob 2012 ordnet sich in die wachsende soziale Spaltung ein: Von 1,15 Millionen im Jahr 2003 auf mehr als 2,6 Millionen Ende 2012. Demnach verdoppelte sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einem Zweitjob innerhalb von zehn Jahren von 4,3 auf 9,1 Prozent. Diese Zweitjobs sind überwiegend Minijobs, deren Einkommensgrenze bis Ende 2012 bei 400 Euro lag und ab Januar 2013 auf 450 Euro angehoben wurde.
Für Annelie Buntenbach vom Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist die „hohe Zahl der Zweitjobber eine dramatische Folge und gleichzeitig Treibsatz des riesigen Niedriglohnsektors in Deutschland." Laut einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weist Deutschland bei den auf Basis von Stundenlöhnen ermittelten Niedriglohnquoten mit einem Anteil von 24,1% an allen Beschäftigten den höchsten Wert unter den 17 Vergleichsländern der EU auf und ist damit in Sachen Niedriglohn Spitze. Dass hat auch damit zu tun, dass die Deregulierung des Arbeitsmarkts durch die rot-grünen, schwarz-roten und schwarzgelben arbeitsmarktpolitischen „Reformen“ der letzten zehn Jahre politisch besonders massiv gefördert wurde. Ungeschützte Leiharbeit, prekäre befristete Beschäftigung und der enorm gewachsene Bereich geringfügiger Beschäftigung wurden durch diese „Reformen“ sehr viel stärker vorangetrieben als in anderen europäischen Ländern. Bis heute fehlt zudem ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn.
Die Arbeitsmärkte und Beschäftigungsstrukturen haben sich auch im Ausland stark verändert. Eine verfestigte chronische Massenarbeitslosigkeit hat sich in allen europäischen Ländern eingenistet. Und vor allem in den südlichen Länder der europäischen Peripherie hat die Arbeitslosigkeit eine bislang unvorstellbare Größenordnung angenommen. An eine schnelle Lösung dieser Fehlentwicklung ist nicht zu denken.
Seit Leiharbeiter in Deutschland schrittweise bessergestellt werden, weichen die Unternehmen immer öfter auf Werkverträge aus. Mindestlöhne, Tarifverträge und Branchenzuschläge schmälern ihren Profit. Auf Kongressen preisen Wirtschaftsberater unverblümt die großen Vorteile der Werkverträge gegenüber „überregulierter“ Leiharbeit. Seit das Bundesarbeitsgericht den Betriebsräten eine neue Waffe gegen den Einsatz von Leiharbeitern in die Hand gegeben hat, kann man eine deutliche Ausweichreaktion des Kapitals auf andere Formen der atypischen Beschäftigung feststellen.
Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wird die Zahl der BürgerInnen, die auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind, deutlich einschränken. Und die Abschaffung der Minijobs könnte den Niedriglohnsektor wirksam eindämmen. Aber diese Maßnahmen können nur der erste Schritt einer umfassenden Regulierung und Bekämpfung der sozialen Spaltung sein.
Die Europäische Union und der Euro-Club haben in den zurückliegenden Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, sind aber in der großen Krise selbst zu einem Krisenherd geworden. Die Erwartung, dass eine monetäre Integration die realwirtschaftlichen Prozesse angleichen und damit Produktivitätsunterschieden einebnen würde, wurde gründlich blamiert – das Gegenteil ist der Fall.
Die Krise entwickelte sich unter dem wachsenden Druck der Finanzmärkte hin zur fortschreitenden Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme. Insbesondere die zunehmend privatisierten und durch Kapitalanlagen gedeckten Rentensysteme brachte die Sicherungssysteme in Schieflage. Ein weiterer Grund liegt beim Akkumulationsregime, das auf großen Konkurrenzunterschieden, damit Leistungsbilanzungleichgewichten und Verschuldung der Defizitstaaten gründet.
Entweder dominiert in der nächsten Zeit weiterhin die mit der Krise wachsende soziale Spaltung oder es wird ein Entwicklungspfad in Richtung einer gesellschaftlich gesteuerten und kontrollierten Ökonomie eröffnet. Unerlässlich für eine wirtschaftsdemokratische Erneuerung Europas ist der Aufbau eines neuen Europäischen Sozialmodells. Es ist schon erstaunlich, wie parzelliert die Abwehrkämpfe gegen Sozialabbau und Privatisierung in den Mitgliedstaaten geführt werden, obgleich die Angriffe überall die gleichen sind: Beispiel Rente mit 67. Auch hier geht es um die Herausbildung einer europäischer Öffentlichkeit.
Dabei kann von Mindeststandards beispielsweise für einen europäischen Mindestlohn und von einem europäischen Sofortprogramm gegen Armut ausgegangen und schrittweise zu einer Angleichung von sozialen Niveaus in Europa (Anteil von sozialstaatlichen Ausgaben am BIP) übergegangen werden, ohne dabei in der nationalen Entwicklung begründete Besonderheiten gleich aufheben zu wollen. Insbesondere die Fortschritte beim Aufbau eines neuen Europäischen Sozialmodells können sich als starker Hebel zur Entwicklung eines balancierten Binnenmarktwachstums erweisen.
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