Soziale Spaltung Europas
Von Joachim Bischoff und Bernhard Müller
»Nach fünf Jahren Wirtschaftskrise und einem erneuten Konjunktureinbruch im Jahr 2012 erreicht die Arbeitslosigkeit Werte, die es seit rund 20 Jahren nicht mehr gegeben hat, die Einkommen der Haushalte sind geschrumpft und Armuts- und Ausgrenzungsrisiko steigen, besonders in den Mitgliedstaaten im Süden und Osten Europas«. Dies ist die nüchterne Bilanz der EU-Kommission.
Sie findet sich in der Ausgabe 2012 ihres Berichts »Employment and Social Developments in Europe Review« (Überprüfung der Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa). Als Grund für diese Entwicklung[1] nennt der zuständige EU-Sozialkommisar, Laszlo Andor: »Nach fünf Jahren ökonomischer Krise ist die Rezession zurückgekehrt.« Und sie treibt die Arbeitslosigkeit in Europa auf neue Rekordhöhen, wie die Arbeitslosenstatistik von Eurostat zeigt. Danach waren im November 2012.in der EU-27 26,1 Mio. Menschen und in der Eurozone 18,8 Mio. Menschen ohne Arbeit – jeweils zwei Millionen mehr als ein Jahr davor. Die Arbeitslosenquote erreichte Höhen wie seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr: 11,8% im Euro-Raum, 10,7% in der EU.
Vor allem erreicht die Jugendarbeitslosigkeit ein Ausmaß wie nie zuvor in der Geschichte: Jeder vierte Europäer unter 25 Jahren – in der Euro-Zone 24,4 %, in der EU 23,7% – hat keine Arbeit, kein eigenes Einkommen, keine Lebensperspektive. Das sind 5,8 Mio. junge Menschen in der EU und 3,7 Mio. im Euro-Raum.
Hinzu kommt: Bei Arbeitslosigkeit und Beschäftigung tut sich eine wachsende Kluft zwischen dem Norden (Deutschland, Belgien, Österreich, Finnland, Niederlande und – noch – Frankreich) und dem Süden (Spanien, Griechenland, Zypern, Malta, Portugal, Slowenien, Slowakei – auch Irland wird dazu gezählt) auf. War die Differenz der Arbeitslosenquoten im Jahr 2007, also vor der Krise, fast Null (Norden 7,8 %, Süden 7,2 %), so setzte im Verlauf der Krise eine völlig gegenläufige Entwicklung ein: Im Norden sank die Arbeitslosenquote bis Ende 2011 auf 7%, im Süden stieg sie steil an und ist inzwischen mit 14,5% mehr als doppelt so hoch. Die Differenz ereichte 7,5 Prozentpunkte im Jahr 2011.
Geradezu dramatisch ist der Anstieg von Erwerbslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit in den Haupt-Krisenländern: Spanien hat es mit einer Arbeitslosenquote von 26,6% zu tun, Griechenland erreichte bereits im September 26,0%, in Portugal sind 16,3% der Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Bei der Jugendarbeitslosigkeit ist das Bild noch trostloser. Sie beträgt fast 60% in Griechenland (57,6% im September) und Spanien (56,5%), in Portugal 38,7%, Italien 37,1% und Slowakei immer noch mehr als jeder dritte (35,8%).
Wirtschaftliche Rezession, steigende Arbeitslosigkeit und eine verschärfte staatliche Austeritätspolitik gehen einher mit zunehmender sozialer Spaltung und Armut. So berichtete Eurostat im Dezember 2012 (Pressemitteilung 171/2012 vom 3.12.12), dass im Jahr 2011 120 Mio. (119,6 Mio.), also fast ein Viertel (24,2 %) der EU-Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht waren – fünf Millionen mehr als ein Jahr davor. »Das bedeutet, dass sie von mindestens einer der folgenden drei Lebensbedingungen betroffen waren: von Armut bedroht, unter erheblicher materieller Entbehrung leiden oder in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbstätigkeit leben« (weniger als 20% des Erwerbspotenzials des Haushalts).
Auch hier ist Europa tief gespalten, reißt die Kluft zwischen armen und reichen Staaten immer weiter auf. Doch gibt es nicht nur das Armenhaus Süd, sondern auch das Armenhaus Ost wird vom Kerneuropa immer mehr abgehängt. Ehemalige RGW-Staaten, die sich von der Einführung der Marktwirtschaft eine prosperierende Ökonomie und Wohlstand versprochen hatten, geraten mehr und mehr in den Sog von Armut und Schulden. Denn der wirtschaftliche Erfolg nach der Wende wurde auch durch günstige Kredite westlicher Banken, vor allem aus Österreich und Deutschland, angetrieben, bis die Blase im Zuge der Finanzkrise platzte und die Banken den Geldhahn zudrehten. Zur Staatsverschuldung gesellte sich die private Überschuldung. In Bulgarien ist mittlerweile jeder zweite Bürger arm bzw. sozial ausgegrenzt (49,1%); in Rumänien sind es 40,3%, in Lettland 40,1%, in Litauen 33,4% und in Ungarn 31,0%.
Aber auch in den südlichen Krisenländern ist das Armuts- und Ausgrenzungsrisiko deutlich gestiegen. In Griechenland betrifft das 31% der Bevölkerung, in Spanien 27%. Dabei handelt es sich um die Werte für 2011, das »miserable Jahr 2012« (Andor) ist damit noch gar nicht bilanziert.
Bei der Armut verläuft die Spaltungslinie nicht nur zwischen Ost und West und Nord und Süd, sondern geht quer durch alle Staaten. »Der den Arbeitskräften zufallende Anteil des von der Wirtschaft generierten Gesamteinkommens ist in Europa im vergangenen Jahrzehnt zurückgegangen«, lautet die lapidare Feststellung der EU-Kommission: »Dabei hat sich die Schere zwischen gut und gering bezahlten Tätigkeiten weiter geöffnet.« Die gesellschaftliche Mitte erodiert und der untere Teil der Bevölkerung gerät immer mehr unter die Räder. Die größte absolute Zahl an Armen und Ausgegrenzten weist Deutschland mit 16,1 Mio. Menschen auf: 19,9% der Gesamtbevölkerung, also jeder Fünfte ist arm oder sozial ausgegrenzt.
Selbst Arbeit schützt in den reichen Ländern nicht vor Armut. Laszlo Andor konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen: In Ländern wie Deutschland sei das Risiko groß, trotz Arbeit arm zu werden, meinte er im Hinblick auf den hohen Anteil prekärer Beschäftigung und den expandierenden Niedriglohnsektor. Er bezog in diesem Zusammenhang eindeutig Stellung für gesetzliche Mindestlöhne.
Eine Tendenzwende zeichnet sich nicht ab, EU-Kommissar Andor beschönigt die Lage nicht: »Bei der sich verschlechternden sozialen Lage war 2012 ein weiteres miserables Jahr für Europa.« Vor allem der Verlust des Arbeitsplatzes drängt immer mehr EU-Bürger ins Abseits: Die verfügbaren Haushaltseinkommen schrumpfen, das Armutsrisiko steigt deutlich – vor allem in Süd- und Osteuropa. »Die Auswirkungen der Krise auf die soziale Lage machen sich nun deutlicher bemerkbar«, heißt es in der Stellungnahme der EU-Kommission. Diese Entwicklung drängt eine politische Schlussfolgerung auf: Wenn es nicht umgehend zu einem deutlichen Kurswechsel in den Entwicklungen kommt, dürfte die krasse Auseinanderentwicklung innerhalb Europas und der Euro-Zone in wachsende politische Probleme umschlagen.
In zwei Dritteln aller EU-Staaten steht Privathaushalten heute weniger Geld zur Verfügung als 2009. Besonders stark geschrumpft ist das Bruttorealeinkommen in Griechenland (17%), Spanien (8%), Zypern (7%) sowie Estland und Irland (je 5%). »Diese Entwicklung steht in krassem Gegensatz zu der Lage in den nordischen Ländern«, heißt es in dem Bericht. Als Beispiele werden Deutschland, Frankreich und Polen genannt, »wo aufgrund der Sozialfürsorgesysteme und der widerstandsfähigeren Arbeitsmärkte auch während der Krise das Gesamteinkommen steigen konnte«.
Der EU-Kommissar ist skeptisch, ob in der weiteren Entwicklung eine Trendwende erreicht werden kann. Die Vertiefung der sozialen Spaltung könnte allerdings durch eine entsprechende Politik zurückgedrängt werden. Im EU- Bericht wird vor allem auf die Mindestlöhne hingewiesen, wie es sie in vielen Mitgliedstaaten bereits gibt. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil sei die »Beschäftigungsquote in diesen Ländern sogar tendenziell höher«.
Die EU-Analyse hat ergeben, »dass die Mitgliedstaaten mithilfe geeigneter arbeitsmarktpolitischer Reformen und einer besseren Ausgestaltung der Sozialfürsorgesysteme wirtschaftlichen Erschütterungen besser standhalten und die Krise schneller überwinden können. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass sich die sozioökonomische Lage in Europa 2013 wesentlich verbessern wird, es sei denn, es gelingt, die Überwindung der Eurokrise glaubwürdig weiter voranzutreiben, die Ressourcen für dringend benötigte Investitionen zu schaffen, unter anderem im Bereich Kompetenzaufbau, Beschäftigungsfähigkeit und soziale Integration, und die Finanzwirtschaft in den Dienst der Realwirtschaft zu stellen.« (Andor).
Ein weiteres Ergebnis des Berichtes ist die These, dass Krise, Vertiefung sozialer Spaltung und Absenkung des Lebensstandards nicht einfach nur mit Geld oder mit Rettungsschirmen zu beseitigen sind, entscheidend bleiben wirtschaftliche Strukturreformen.
An dieser Stelle wird zugleich deutlich, dass die EU selbst mit ihrem Politikansatz hilflos auf die Entwicklungstendenzen reagiert. Die Europäische Kommission berichtet zur gleichen Zeit in dem Anzeiger 2012 für staatliche Beihilfen (Beihilfenanzeiger) die Daten für die staatlichen Beihilfen für das Jahr 2011.
Der Gesamtumfang an Beihilfen, den die EU-Kommission für die Finanzbranche grundsätzlich genehmigt und freigegeben hatte, ist enorm: Er beläuft sich von 2008 bis 1. Oktober 2012 auf 5,06 Bio. Euro – das sind ganze 40% des EU-Bruttoinlandsproduktes. In Anspruch genommen haben die Finanzinstitute Europas wegen der Krise bisher insgesamt 1,616 Bio. Euro. Das entspricht 13% der EU-Wirtschaftsleistung. Zwei Drittel der Bankenhilfen wurden in Form von staatlichen Garantien für Kredite der Banken untereinander gewährt. Neben den Liquiditätsmaßnahmen – die 1,174 Bio. Euro ausmachten – entfiel der Rest auf die Stützung der Solvenz, Rekapitalisierung und die Entlastung wertgeminderter Vermögenswerte.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Mittel für die Realökonomie (Industrie und Dienstleistungen). Die staatliche Unterstützung für die Realwirtschaft ging laut EU-Kommission 2011 gegenüber 2010 um mehr als die Hälfte zurück und machte 4,8 Mrd. Euro aus. Das zeige eine geringere Inanspruchnahme und die Sparzwänge der EU-Staaten. Die Gesamtaufwendungen für staatliche Beihilfen für Strukturreformen sanken in der Europäischen Union 2011 weiter auf 64,3 Mrd. Euro bzw. 0,5 % des EU-BIP. Bei der Verringerung des Beihilfeniveaus ist ein erheblicher Teil des Rückgangs mutmaßlich auf die schwierigere Haushaltslage in vielen Mitgliedstaaten zurückzuführen. Mit diesem Rückgang setzte sich der allgemeine Trend aus dem Zeitraum 2006-2011 fort.
Es gibt einen eklatanten Widerspruch: Durch die ökonomisch-soziale Entwicklung hat sich ein tiefer Graben in der EU entwickelt, der in eine erneute politische Spaltung umzuschlagen droht. Die Schwäche der EU-Krisenpolitik toleriert diesen sozialen Sprengstoff, der durch wachsende Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheit und damit Perspektivlosigkeit insbesondere von jungen Menschen und Alleinerziehende entsteht.
Der Fehlentwicklung könnte mit einer Umsteuerung von Finanzressourcen entgegen getreten werden. Nicht nur die Mitgliedstaaten sind gefordert, auch die Europäische Union muss endlich innovativere, sozial nachhaltige Lösungen bieten. Zwar plädiert die EU-Kommission für Arbeitsmarktreformen und betont die positiven Auswirkungen von Mindestlöhnen für den sozialen Zusammenhalt. Aber schon die Umsetzung der vorhandenen Programme zeigt deutliche Defizite. Zu Recht fordert der Europäische Gewerkschaftsbund: »Wir wollen ein soziales Europa, eines mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum, mit Arbeitsplätzen, intakter Umwelt. Die bisherigen Rezepte gegen die Krise, unter anderem Sozialabbau, Deregulierung, Abbau von Rechten, Aushebeln der Gewerkschaften, das wollen wir nicht. Der EGB ist daher in Krisenzeiten umso wichtiger, denn er ist die Stimme von 60 Millionen ArbeitnehmerInnen in Europa.«
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat vorgeschlagen, einen Marshall-Plan für Europa aufzulegen, der zumindest in den Einzelgewerkschaften positive Resonanz findet. Die DGB-Forderung nach einem Konjunktur-, Investitions- und Aufbauprogramm muss jedoch gegenüber der Politik durchgesetzt werden. »Wir brauchen dringend Strukturverbesserungen in Europa. Und wer jetzt fragt, woher das Geld dafür kommen soll: Wenn es genug Geld gibt um auf den Finanzmärkten zu zocken und zu spekulieren, dann muss doch wohl für Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, eine intakte Umwelt – ein lebenswertes Europa, auch Geld da sein.«
[1] Siehe hierzu und zum Folgenden auch: Fred Schmid, EU-Sozialbericht: Krise und Politik vertiefen Spaltung Europas, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V., 10. Januar 2013; Axel Troost, Politikwechsel gegen soziale Spaltung.
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