Teilung dauert fort – Überwindung erfordert Umdenken
Von Roland Claus, Ost-Koordinator der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Am Vorabend des Tages der deutschen Einheit sind die Zeitungen voll mit erstaunlich realistischen Darstellungen zum Fortbestand der Uneinheit. Das Leben spricht einfach eine zu deutliche Sprache. Daran kann auch die rosarote Beschönigung, wie sie für die Regierungsberichte zum Stand der deutschen Einheit typisch ist, nichts ändern.
Gewichtigen Anteil am so auffälligen Medienrealismus daran hat die Volkssolidarität, die mit ihrem jährlichen Sozialreport auch diesmal wieder eine Fülle von rundum belastbarem Material zu den fortbestehenden Unterschieden nicht nur materieller, sondern auch geistig-kultureller Art zusammengestellt hat.
Die Fakten sind eindeutig: Noch immer liegen die Löhne im Osten um knapp 20 Prozent unter denen im Westen, noch immer ist die Arbeitslosenquote im Osten fast doppelt so hoch wie im Westen, noch immer sind die „Segnungen“ der Agenda 2010 wie Billiglohn und Leiharbeit vor allem im Osten anzutreffen, noch immer wandern junge Frauen und Männer der Arbeit im Westen hinterher, noch immer verlieren darum ganze ostdeutsche Regionen an Zukunftsperspektive, und noch immer sind die Renten nicht angeglichen. Und dieses Rentendrama hat Wirkung nicht nur für die, die heute schon in Rente sind, sondern auch für alle, die jetzt zu arbeiten beginnen. Denn da sammeln immer noch die einen die Rentenpunkte West und die anderen die weniger wertvollen Rentenpunkte Ost, und die Quittung dafür bekommen sie in 50 Jahren, also 2063.
Und es sind eben nicht „nur“ diese Fakten. Wenn – wie die Allensbacher Meinungsforschung herausgefunden hat – die Westdeutschen der Meinung sind, die Lebensverhältnisse seien weitestgehend angenähert, aber 78 Prozent der Ostdeutschen die Auffassung vertreten, genau dies treffe eben noch lange nicht zu, dann ist das auch Ausweis von nach wie vor weit auseinander driftenden Lebensauffassungen und Lebenssichten. „Ministerien, Verwaltung und Wissenschaft werden in Ostdeutschland noch immer von Westlern dominiert“, schreibt Markus Decker in der „Berliner Zeitung“, und weiter: „Während Ostdeutsche ihre Jobs verloren, machten Westdeutsche Karriere – in Politik und Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft.“ „Der Schock der Wiedervereinigung ist noch nicht verkraftet“, lässt sich im „Hamburger Abendblatt“ der Dresdner Soziologe Karl-Siegbert Rehberg zitieren, der – das steht da aber nicht! – „natürlich“ aus Aachen stammt und seit 1992 selbst Teil jenes historisch einmaligen „Elitentauschs“ ist, dessen Folgen bis heute fortwirken.
Was machen wir, DIE LINKE, mit diesem Befund? Wir sehen uns in unseren Analysen und in unserer immer wieder erneuerten, oft aber verlachten Forderung nach Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen bestätigt. Und wir sind überzeugt: Eine Überwindung des unbefriedigenden Zustandes ist nur durch ein Umdenken möglich. Die Lebensleistungen der Ostdeutschen müssen endlich anerkannt werden. Es darf kein Tabu sein, dass es einen ostdeutsche Erfahrungsvorsprung gibt: zum Beispiel in der Kinderbetreuung, im einheitlichen Schulsystem, im für alle gleichermaßen geltenden Renten- und Versicherungssystem, aber auch in der Umstellung auf erneuerbare Energien und auf anderen Gebieten dessen, was wir als sozial-ökologischen Umbau bezeichnen.
Was 1990 abgeschlossen wurde, trug den Namen Einigungsvertrag. Es muss Schluss sein mit einer Politik, die den Einigungsvertrag als Kapitulationsurkunde begreifen will.
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