Ein offener Brief an den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel
Von Heiner Flassbeck
Lieber Herr Gabriel,
Sie haben in Ihrem Eröffnungsvortrag auf dem gerade zu Ende gegangenen Parteitag der SPD in Leipzig etwas sehr Wichtiges gesagt: „Scheinbar (sic; Anm.d.Verf.) bedarf es neben der sozialen Kompetenz der SPD auch einer deutlich stärkeren Wirtschaftskompetenz unserer Partei.“ Zu diesem Satz kann ich Sie nur beglückwünschen.
Wenn wir aber einmal kurz Revue passieren lassen, was zu einer „stärkeren Wirtschaftskompetenz“ gehört, dann ist die Sache nicht so einfach, wie sie sich in dem Satz anhört. Denn Wirtschaftskompetenz kann viel oder wenig heißen. Es kann heißen, dass möglichst viele in der Partei so über Wirtschaft reden können, wie die Wirtschaft das selbst gerne tut und gerne von anderen hört. Das aber wäre für eine sozialdemokratische Partei genau das Gegenteil von Wirtschaftskompetenz, weil das Wissen von der Wirtschaft in der Wirtschaft, d.h. den Unternehmer- und Bankerkreisen selbst doch sehr begrenzt und zudem vollkommen von Interessen geleitet ist, die der sozialdemokratische Wähler gerade nicht teilt.
Wirtschaftskompetenz kann aber auch heißen, dass es möglichst viele in der Partei gibt, die ein Verständnis von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen haben und das den Menschen auch nahebringen. Das klingt zwar gut, ist aber, wie ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen kann, ganz schwer. Dann müssten nämlich viele Parteifunktionäre der SPD in der Lage sein, dem größten Bauunternehmer im Wahlkreis Paroli zu bieten, wenn der darüber klagt, dass Arbeit in Deutschland zu teuer ist, oder sie müssten dem Sparkassendirektor entgegentreten können, der behauptet, die niedrigen Zinsen führten zur Inflation. Die Krux mit der Wirtschaftskompetenz ist eben, dass man sich entscheiden muss, ob man bei der einzelwirtschaftlichen Kompetenz stehen bleiben will oder ob man weiter geht und gesamtwirtschaftliche Kompetenz erlernt.
Entscheidet man sich für die gesamtwirtschaftliche Kompetenz, weil einzelwirtschaftliche Kompetenz für eine Partei, die bundespolitische Bedeutung haben will und beim Regieren für die Interessen aller Bürger eintreten muss, von vorneherein sinnlos ist, dann kommt man an einer weiteren zentralen strategischen Entscheidung nicht vorbei. Man muss sich nämlich entscheiden, an welches Bild von der Wirtschaft man glauben will: an eine sich (neoklassisch) weitgehend selbst regulierende Marktwirtschaft – einschließlich der Arbeits- und Finanzmärkte –, in der dem Staat nur eine korrigierende Rolle zukommt und in der die Unternehmen mit ihrer Sicht der Dinge meistens richtig liegen. Oder an eine (keynesianisch) nahezu blind in die Zukunft taumelnde Wirtschaft, die ohne ein strenges und tägliches Management von Seiten des Staates kein einziges der großen Probleme lösen kann, die vor uns liegen.
Erhard Eppler, den viele Sozialdemokraten seit vielen Jahren für einen ihrer Vordenker halten, hat schon Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gesagt, die SPD müsse über Keynes hinaus. Das ist gut gesagt, aber schwer getan, denn bis heute wissen wir nicht, wohin das führt, weil es über Keynes hinaus einfach nichts gibt. Tertium non datur.
Aber selbst wenn Sie das alles entschieden haben, fällt die Kompetenz nicht wie Manna vom Himmel. Eine große Partei mit vielen Funktionären muss permanent geschult werden im richtigen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Denken, um Kompetenz an der Basis wirklich glaubhaft vermitteln zu können. Das muss die CDU nicht, weil es dort genügt, dass der Funktionär im Wahlkreis zustimmend nickt, wenn der Bauunternehmer und der Sparkassendirektor ihre Wirtschaftsweisheiten verkünden.
Kompetenz beginnt aber an der Spitze. Wer heute (in der drittgrößten Industrienation dieser Erde) ernsthaft mitreden will bei den komplexen globalen und europäischen Themen, der darf nicht darauf hoffen, dass ihm die tägliche Lektüre von drei deutschen Leitmedien schon den Weg in die Zukunft zeigt. Er (oder sie) muss sich auf eine Art und Weise beraten lassen, die bisher noch kein Spitzenpolitiker versucht hat. Sie selbst haben ja zu Beginn ihres Parteivorsitzes einen Wirtschaftsrat gegründet, der diese Aufgabe haben sollte und an dem ich auch einige Male teilgenommen habe. Das war aber genau das nicht, worum es geht. Zwanzig der Partei nahestehende Wissenschaftler und Beamte, die sich alle zwei Monate für zwei Stunden mit dem Parteivorsitzenden treffen, sind der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, ein Zisch und aus. Eine große Partei, die ernsthaft und in ernst zu nehmender Weise mitreden (und eventuell mitregieren) will, muss investieren. Sie muss Geld in die Hand nehmen, um eine Struktur aus anerkannten Experten und einem Stab zu schaffen, die dem Parteivorstand jederzeit mit umfassendem Rat zur Seite steht und auch nach außen die Position der Partei vertreten kann.
Lassen Sie mich das kurz an der Schicksalsfrage Europas demonstrieren, die leider im Wahlkampf keine Rolle gespielt hat – aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann und will. In der Eurokrise hat Frau Merkel, offenbar weitgehend unbemerkt von der Opposition, aber sicher stark beeindruckt von der internationalen Diskussion, einen Schwenk vollzogen, der es in sich hat. Aus der „Staatsschuldenkrise einiger kleiner Länder“ (in Südeuropa) wurde innerhalb relativ kurzer Zeit eine Krise der Wettbewerbsfähigkeit fast aller Länder (einschließlich Frankreichs) gegen Deutschland. Und mit der heftigen amerikanischen Kritik an Deutschland ist es sogar eine Krise „Rest der Welt gegen Deutschland geworden“. Kann es sich die größte Oppositionspartei oder der kleine Koalitionspartner leisten, in Bezug auf eine solche absolut zentrale Frage keine dezidierte Meinung zu haben, ohne großen Schaden anzurichten?
Was hat die SPD dazu zu sagen? Was sagt die SPD zu der Forderung der Kanzlerin, die anderen Länder in Europa müssten jetzt so wettbewerbsfähig werden wie Deutschland und ihre Löhne senken? Können alle gleichzeitig ihre Schulden verringern und Überschüsse in den Leistungsbilanzen haben? Können die Staaten bei ihrer Verschuldung ignorieren, ob die anderen Sektoren der Volkswirtschaft sparen, insbesondere die Unternehmen? Ist die Politik der Agenda 2010 auf ganz Europa übertragbar oder nicht? Wird es dann Deflation geben oder nicht? Wird der Euro aufwerten oder nicht? Ist das, was mittlerweile in vielen Teilen der Welt der neue deutsche Merkantilismus genannt wird, die Position der SPD? Wird die SPD diese Extrem-Position der CDU in den Koalitionsverhandlungen modifizieren können? Aber wohin? Kann es einen halbierten Merkantilismus geben, eine soziale Schuldenverteilung oder eine gerechte Deflation?
Wenn man einen Augenblick darüber nachdenkt, kommt man leicht zu dem Ergebnis, dass es in fast allen diesen Fragen keinen Kompromiss geben kann, weil ein Kompromiss mit einer vollkommen falschen Position in der Regel nicht halb richtig ist, sondern ganz falsch. So dürfte es mit einer im gesamtwirtschaftlichen Sinne wirtschaftskompetenten SPD angesichts dieser offenen, aber für Europa absolut lebenswichtigen Fragen keine große Koalition geben. Sie werden sie vielleicht doch machen. Aber ich fürchte, nicht nur die deutschen Sozialdemokraten, sondern ganz Europa wird auf dieser Fahrt in heftigem Sturm und ohne jeden Kompass Schiffbruch erleiden.
Ihr Heiner Flassbeck
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