Wem gehört die Straße?
Von Bernhard Sander
Frankreich ist heute ein Land, in dem selbst eine Justizministerin nicht mehr vor offen rassistischen Angriffen auf Titelseiten der Rechtspresse geschützt ist – und ein kollektiver Aufschrei des politischen, künstlerischen und intellektuellen Frankreichs ausbleibt.
Frankreich ist heute außerdem
- ein Land mit einem Innenminister, der sich mit der Justizministerin und dem Koalitionspartner darüber streitet, ob Bagatellstraftäter noch ins Gefängnis wandern und wie hart man Rückfalltäter bestrafen soll, der zudem eine ganze ethnische Gruppe für »nicht integrierbar« erklärt und ihre Notunterkünfte abreißen lässt, ohne seine Entlassung zu fürchten;
- ein Land, in dem am Tag des Waffenstillstands des Ersten Weltkrieges rechtsradikale Jugendbanden den Staatspräsidenten während der Feierlichkeiten auspfeifen;
- ein Land, dessen High-Tech-Legionäre sich nach großspurigen Erfolgsmeldungen im Saharasand gegen verlumpte Armeen festgerannt haben, und das seine Journalisten in diesem Krieg nicht vor Mord und Erpressung schützen kann;
- ein Land, in dem ein breites Bündnis von Kleinselbständigen, Schlachthofarbeitern, rechtsradikalen Agitatoren und Unabhängigkeitskämpfern in der Bretagne Mautstationen wegen einer geplanten Diesel-Steuer niederreißen und die Vereine der 1. Fußballliga gegen den Spitzensteuersatz mit einem Wochenende mit Spielabsetzungen und gesponserten Festen protestieren wollen.
Der von der Linkspartei und dem Front de Gauche-Chef, Jean-Luc Mélanchon, angekündigte »Marsch für eine Steuerrevolution« versucht, verloren gegangenes Terrain zurückzuerobern. Doch ist dies keine Antwort auf die umfassende Krise des Landes. Niemand weiß, wie der Taifun heißt, dessen Ausläufer das Land erzittern lassen, aber die Krise hat sich mittlerweile um eine starke psychologische Dimension vertieft.
Diese wird von vielen Seiten benannt, aber kann nicht erklärt werden. Im Kern einer moralischen Erneuerung müsste ein ökonomisches Reformprogramm liegen, das die Konsequenz aus dem gescheiterten Neoliberalismus zieht und Aussicht auf eine Verbesserung der Lebenslage bietet.
Soeben wurden die neuesten ökonomischen Befunde über das Land bekannt: Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts hat sich wieder auf Null rückentwickelt. Die internationalen Instanzen, in diesem Fall die OECD, raten der Regierung, die Rahmenbedingungen für die französische Wirtschaft so umzugestalten, dass Unternehmen ein Chance im internationalen Wettbewerb erhalten. Der hohe Importüberschuss lässt sehr viel Reichtum an ausländische Anbieter fließen.
Der OECD-Generalsekretär kritisiert einerseits den zu hohen Mindestlohn und verweist andererseits auf Spanien, Portugal, Griechenland und Irland, wo die Lohnstückkosten seit der Eurokrise sinken – und vor allem auf Deutschland, dessen Niveau lange stagnierte. Allerdings muss auch die OECD einräumen, dass die private Nachfrage in Frankreich die Konjunktur stabilisiert. Der Mindestlohn wird offenbar in der kommenden Zeit zu einem international sehr umkämpften Feld, da sein jeweiliges Niveau die Basis darstellt, auf dem die Tarifgefüge aufbauen können.
Die Tatsache der extremen Jugendarbeitslosigkeit im Land nutzend, klagt die OECD, dass die »Arbeitskosten« gerade für die schlecht Qualifizierten immer noch zu hoch seien. Mittlerweile haben 16,6% der Franzosen zwischen 20 und 24 keinen Schul- oder Berufsabschluss. Doch nach dem Zusammenbruch haben neoliberale Ideen auch in Frankreich an Zugkraft verloren.
Die Nationale Front, die sich mit ihrem Bündnis mit der niederländischen PVV von Geert Wilders weiter vom rechtsextremistischen Image ihrer Gründergeneration absetzt, ohne ihren nationalistischen, fremdenfeindlichen Kern aufzugeben, hat für solche Vorschläge bereits eine passende Antwort gefunden: Sie will die praktische Berufsausbildung im Kleinbetrieb staatlich fördern, um über diese quasi duale Ausbildung ihrer Anhängerschaft billige Arbeitskräfte zuzuführen und die Staatsprogramme streichen. Aber solche Verbesserungsvorschläge sind nur Beiwerk. Ebenso sind es die drakonischen Vorstellungen zur Wiederherstellung der Arbeitsmoral.
Das Angebot des FN ist kein zusammenhängendes Ganzes, aber jeder der Punkte atmet den Geist des »Franzosen zuerst!« Dem kollektiven, ziellosen »gegen etwas sein« bietet die Nationale Front behutsam, aber vernehmlich die Ausgrenzung als einigenden Diskurs an.
Zur Behutsamkeit gehört, sich von allzu radikalen Kräften abzugrenzen und den Nationalismus zu entschärfen. So tourt die Chefin Marine Le Pen derzeit durch Europa, formt im Hinblick auf eine künftige Fraktion im Europa-Parlament eine Gruppe mit der italienischen Lega Nord, der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Vlaams Belang aus Belgien, den Schwedendemokraten und Partei der Freiheit der Niederlande. Die ungarische Jobbik und goldene Morgenröte Griechenlands werden bewusst außen vor gelassen, um Vorwürfe des Antisemitismus zu vermeiden.
An der Eigendynamik des Ausgrenzungsdiskurses wird sich dadurch nichts ändern, da die Heterogenität der Anhängerschaft immer von neuem zu Streit führt. Die Rechte wird nur solange stark sein, wie es ihr gelingt Unternehmer und Arbeitnehmer Schulter an Schulter zu mobilisieren wie auf den Straßen der Bretagne; und das geht nur, wenn es gegen »die in Paris«, »die in Brüssel« und die »die anderen« geht.
Dem wird die Linke mit dem Gefeilsche über die Zusammensetzung kommunaler Listen (mit, ohne, gegen die PS) nichts entgegensetzen können. Was in Zeiten der Stärke eine Berechtigung hatte, ist heute die Inszenierung einer Farce. Sie ist umso grausamer, als sie bereits im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampf 2002 aufgeführt wurde. Die Linksfront droht an dem Gewurschtel von Kleinstparteien an der Aufgabe zu scheitern, eine Sammlungsbewegung für die Menschen außerhalb der Institutionen und Apparate zu werden.
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