Die Krise hat soziale Spaltungen vertieft
Ein Interview mit Ingo Schmidt
Ein Interview mit Ingo Schmidt über soziale Spaltungen, Nationalismus und Rassismus und deren Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzkrise. Schmidt leitet gegenwärtig das Labour Studies Program der Athabasca University (Kanada). In dem Sammelband “Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa”, der im Juni 2013 erschienen ist, hat er einen Artikel zu dem Thema dieses Interviews verfasst.
Was hat die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise mit sozialer Spaltung zu tun?
Ingo Schmidt: Soziale Spaltungen hat es selbstverständlich bereits vor der Krise gegeben. Sie haben mit unterschiedlichen Vermögenspositionen, Zugang zu Ausbildung und Arbeitsplätzen, aber auch mit Diskriminierung nach Geschlecht, Hautfarbe und Staatsangehörigkeit zu tun. Sie sind kapitalistischen Gesellschaften strukturell eingeschrieben, ihr Ausmaß kann aber je nach Wirtschaftslage schwanken und kann auch politisch beeinflusst werden. Im Laufe der Wirtschaftskrise ist es zu einer massiven Vertiefung dieser Spaltungen gekommen. Zunächst durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Einkommensverlusten. Dann aber auch durch ein Krisenmanagement, das Geldvermögen mit Steuergeldern vor der Entwertung gerettet hat, durch eine neue Runde des Sozialabbaus und die Senkung arbeitsrechtlicher Normen, die zu weiteren Einkommensverlusten unter Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Rentnern geführt haben. Diese Wirkungen von Krise und Krisenmanagement sind regional sehr unterschiedlich ausgefallen. In Südeuropa, Irland und England waren sie sehr viel stärker als in Deutschland, Skandinavien oder den Benelux-Ländern. Mit den sozialen Spaltungen haben also auch die regionalen Ungleichheiten zugenommen. Ein Effekt, den man nicht nur in Europa, sondern weltweit beobachten kann.
Dass die Krise zu einer sprunghaften Vertiefung sozialer Spaltungen geführt hat, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die langfristig zunehmende Ungleichheit vor der Krise. Seit den frühen 1980ern wurde überall auf der Welt eine Politik der Umverteilung von unten nach oben betrieben, die zu steigenden Gewinnen, Investitionen und schließlich Wachstum und Beschäftigung führen sollte. Die Rechnung ist aber nicht aufgegangen: Steigende Gewinne wurden in zunehmendem Maße in Finanzanlagen gesteckt, weil Investitionen in zusätzliche Produktionskapazitäten und Beschäftigung angesichts unzureichender Absatzaussichten zurecht als wenig profitabel angesehen wurden. Als die Renditeansprüche der Finanzinvestoren nicht mehr aus der realen Wertschöpfung bedient werden konnten, kam es zu Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise.
Du sprichst in Deinem Artikel vom “neoliberalen Wettbewerbsstaat” – was ist damit gemeint?
Ingo Schmidt: Laut neoliberaler Theorie stellen Markt und Staat Gegensätze dar, ersterer stehe für Effizienz und Wachstum, letzterer für Verschwendung und Klientelwirtschaft. Wird die Staatstätigkeit auf den Schutz privaten Eigentums begrenzt, könne der Markt seine wohlstandsmehrenden Kräfte ungehindert entfalten. Diese Theorie steht aber in deutlichem Gegensatz zu der Politik, die Anhänger des Neoliberalismus in Regierungen und Staatsverwaltungen direkt oder über Lobbyaktivitäten indirekt betreiben. Die neoliberale Praxis treibt die bereits erwähnte Umverteilung von unten nach oben mit staatlichen Mitteln voran. Dabei spielt der Hinweis auf Aufrechterhaltung oder Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eine zentrale Rolle, dient er doch dazu, den Abbau von öffentlichen Diensten, Sozialleistungen und Standards denen gegenüber zu rechtfertigen, die negativ von solchen Maßnahmen betroffen sind. Empirische Untersuchungen zeigen sehr deutlich, dass beispielsweise eine Verschlechterung des Kündigungsschutzes oder erweiterte Möglichkeiten zur Beschäftigung von Zeitarbeitern keineswegs zu Investitionen und Wachstum führen. Umgekehrt führen die Beibehaltung oder gar Ausweitung solcher Schutzrechte nicht gleich zur Kapitalflucht. Allein, in den meisten Fällen reicht der Glaube, dass es dazu kommen könnte, um Kürzungen durchzusetzen. Die Angst, im internationalen Wettbewerb nicht bestehen zu können, erlaubt es dem Staat, die neoliberale Umverteilungspolitik im Interesse der oberen Zehntausend voranzutreiben.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesem “neoliberalen Wettbewerbsstaat” auf der einen Seite und Nationalismus sowie Rassismus auf der anderen?
Ingo Schmidt: Die Wohlstandsversprechen des Neoliberalismus haben sich nur für eine kleine Gruppe von Vermögensbesitzern erfüllt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist schon froh, wenn sie nicht von der sozialen Leiter fällt. Angesichts der großen Zahl von Menschen, die sozial bereits deklassiert sind, ist die Ausbreitung derartiger Abstiegsängste mehr als verständlich. Damit verliert der Neoliberalismus aber erheblich an Überzeugungskraft, weshalb die Durchsetzung neoliberaler Politik schwieriger wird. Als Ausgleich für den Abbau sozialen Schutzes führen neoliberale Politstrategen häufig den Zusammenhalt der Nation oder die Überlegenheit der eigenen Rasse ins Feld. Allerdings vermeiden sie zumeist eine offen nationalistische oder rassistische Sprache, oder sie nehmen entsprechende Vorlagen aus dem rechtsradikalen Raum auf und übersetzen sie in die politische Terminologie des neoliberalen Mittelfeldes. Der materielle Kern der Anrufung von Nation und Rasse besteht darin, dass der Staat, oder besser Nationalstaat, qua Gesetz Einwanderung sowie den Zugang zu Sozialleistungen steuern und auf diese Weise eine nach Nation und Rasse gegliederte Hierarchie herstellen kann. Menschen, die als Fremde ausgegrenzt werden, werden dann als die wahre Ursache sozialer und ökonomischer Missstände dargestellt. Vorstandsvorsitzende und Banker haben nichts mit Zeitarbeitern oder Hartz IV-Empfängern gemeinsam, nicht einmal mit Tariflohnempfängern. Ausgrenzung dient zur Übertünchung sozialer Spaltungen durch die Betonung geteilter Nationalität oder Rassenzugehörigkeit. Nationalismus und Rassismus sind die Ersatzideologie des Neoliberalismus im Angesicht seines Scheiterns.
Inwiefern haben sich dem “neoliberalen Wettbewerbsstaat” mit der Krise Legitimationsprobleme aufgetan?
Ingo Schmidt: Der neoliberale Wettbewerbsstaat ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits betont er die Anpassungszwänge, die vom internationalen Wettbewerb ausgehen. Andererseits verspricht er aber auch individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, vor allem natürlich für Unternehmer, jenseits staatlicher Gängelung. Nun müssen immer mehr Menschen erkennen, dass sie im globalen Wettbewerb nicht mithalten können. Im Bemühen um den sozialen Klassenerhalt bleibt für die Selbstentfaltung kein Raum. In der Krise wurden viele Menschen trotz verzweifelter Anpassungsbemühungen deklassiert oder an den Rand des sozialen Absturzes gedrängt. Gleichzeitig mussten sie mit ansehen, wie die sozialen Sicherungssysteme, die ihren Fall hätten abfedern können, zusammengestrichen wurden, während Banken und Vermögensbesitzern große Summen Steuergelder hinterher geworfen wurden. Der Gegensatz zwischen neoliberalen Versprechungen und neoliberal-kapitalistischer Wirklichkeit ist mittlerweile ähnlich frappierend wie der Kontrast zwischen Sowjetpropaganda und real existierendem Sozialismus kurz vor seinem Untergang. Die Suche nach Alternativen hat begonnen. Dabei kann es zu einem Aufschwung rechtspopulistischer oder faschistischer Bewegungen kommen, es werden aber auch solidarische Alternativen zum Neoliberalismus oder sogar zum Kapitalismus denkbar.
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