"Reiche werden immer reicher"
Heinz-J.Bontrup im Interview
Deutschland scheint die globale Finanz-und Wirtschaftskrise auf den ersten Blick gut überstanden zu haben. Von einem „Wachstums- und Beschäftigungswunder“ ist sogar die Rede. Sind wir in Deutschland auf dem richtigen Weg?
Es wird lediglich der Anschein erweckt, dass in Deutschland alles gut läuft. Was wir tatsächlich erleben, ist ein schwerwiegendes Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Die Reichen werden immer reicher, die Zahl der Armen nimmt zu, gleichzeitig werden die Armen immer stärker diszipliniert. Wir haben mittlerweile in Deutschland eine Armutsquote von 16 Prozent, jedes fünfte Kind wächst in Armut auf, in Berlin sogar schon jedes Dritte. In fast jeder Stadt gibt es Suppenküchen. Und wer einmal arm ist, ist immer arm. Außerdem macht Armut krank.
In der öffentlichen Debatte werden Gier oder schwindendes Vertrauen als Erklärungen für die Finanz- und Wirtschaftskrise angeboten. Welche Ursache halten Sie für ausschlaggebend?
Diese Aspekte spielen sicher eine Rolle. Die Finanzmanager haben das System bedient und die Gier geschürt. Das greift aber als Ursachenerklärung zu kurz. Die entscheidende Ursache wird nicht diskutiert. Sie liegt in der großen Umverteilung im Kontext mit der Massenarbeitslosigkeit begründet. Die Verteilungsverluste der Arbeitseinkommen belaufen sich allein von 2000 bis 2012 auf 1.023 Milliarden Euro. Nicht nur in Deutschland, weltweit ist der Anteil der Gewinne, Zins-, Miet- und Pachteinkommen am Volkseinkommen weitaus stärker gestiegen als der Anteil der Löhne und Gehälter. Folge: Die Lohnquoten sinken und die Gewinnquoten steigen.
Wie konnte es denn zu dieser Umverteilung kommen?
Die Ungleichgewichte an den Arbeitsmärkten, die Massenarbeitslosigkeit,sind dafür im Wesentlichen verantwortlich. Dabei haben wir es verlernt, kausal zu denken. Es werden immer nur die Symptome kuriert, aber nicht die Ursachen bekämpft. Nehmen Sie die Leiharbeit: Ganz furchtbar, heißt es, die Auswüchse müssen gezähmt werden. Über die Ursache der Leiharbeit spricht man jedoch nicht. In 65 Jahren Bundesrepublik Deutschland haben wir 50 Jahre mit Massenarbeitslosigkeit „gelebt“. Welch ein Systemversagen!Aus Arbeitslosigkeit, ein Gewaltakt gegen Menschen, folgt nicht nur Armut für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft als Ganzes eine enorme fiskalische Belastung, die zur Staatsverschuldung führt. Arbeitslosigkeit ist aber auch für Unternehmer ein Disziplinierungsinstrument. Der Faktor Angst spielt dabei in den Betrieben eine große Rolle, die Gewerkschaften werden dadurch gezielt geschwächt. Immer weniger Tarifverträge liegen vor. Sie waren einmal das Rückgrat des Mittelstands. Es kommt letztlich zu Lohnabschlüssen, die unterhalb der Produktivitätsplus der Inflationsrate liegen. Das Ergebnis ist die erwähnte Umverteilung zu den Gewinnen. Man kann also sagen, die Unternehmer können bestens mit der Ursache für unsere Misere, der Arbeitslosigkeit,leben.
Aber die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist doch im Großen und Ganzen rückläufig …
…ja, aber nur bei oberflächlicher Betrachtung. Die Wahrheit ist: Die zusätzliche Beschäftigung ist fast ausschließlich prekär. Das Arbeitsvolumen hat nicht zugenommen, es ist nur auf mehrere Köpfte durch eine gigantische Zunahme an Teilzeit und geringfügiger Beschäftigung verteilt worden. Zudem haben Leiharbeit, Werkverträge und Befristungen die Lebensperspektiven massiv verschlechtert. Seit der Agenda 2010 sind die Bedingungen an den Arbeitsmärkten katastrophal zu Lasten der Beschäftigten und Arbeitslosen verändert worden. Mittlerweile arbeitet jeder vierte Beschäftigte in Deutschland zu einem Armutslohn von unter 9 Euro brutto die Stunde. Daran wird der jetzt von der Großen Koalition vereinbarte Mindestlohn nichts ändern. Hier wird mal wieder nur das Symptom bekämpft, und das auch noch schlecht, und nicht die Ursache, die Arbeitslosigkeit.
Für das kommende Jahr erwarten die Wirtschaftsforschungsinstitute ein Wachstum von 1,8 Prozent. Das ist doch eine positive Entwicklung?
Glauben Sie auch an den Weihnachtsmann? Die Prognose für 2014 steht auf dermaßen tönernen Füßen! Wo soll das Wachstum denn herkommen? Vom privaten Konsum? Das verhindert die weiter stattfindende Umverteilung zu den Gewinnen. Von den Investitionen? Fehlanzeige. Die liegen im kommenden Jahr bei gerade einmal 80 Milliarden Euro. Die Ersparnisse in Deutschland werden dagegen um 200 Milliarden Euro höher sein. Die Reichen haben ein komfortables Problem. Sie wissen nicht mehr wohin mit ihrem Geld. Das Kapital wird förmlich per Anlage ins Ausland getrieben. Was ist das für eine Gesellschaft und Ökonomie, die bei Ersparnissen von 280 Milliarden Euro im nächsten Jahr gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit zementiert, weil im Inland zu wenig investiert und die Arbeitszeit nicht reduziert und auch noch Arbeitslosigkeit ins Ausland exportiertwird? Denn die importierten Güter gehen natürlich zulasten der eigenen Produktion und der Arbeitsplätze im Abnehmerland.
Immer wieder ist auch Kritik am Wachstumsdogma unserer Gesellschaft zu hören. Brauchen wir überhaupt immer mehr Wachstum für mehr Wohlstand?
Ich halte nichts von einem Nullwachstum, wie es manche mal wieder propagieren. Nullwachstum ist eine Katastrophe. Dann stellt sich sofort, und zwar noch massiv verschärft,die Verteilungsfrage und die Umwelt würde noch mehr vernachlässigt bzw. der noch größere Verlierer sein. Ich will aber kein Wachstum um jeden Preis, sondern differenziertes Wachstum: Mehr Bildung ja, mehr Rüstung
nein. Bessere Pflege und Versorgung der alten Menschen ja, mehr Wachstum bei fossilen Energieträgern nein.Und ich will vor allen Dingen, dass endlich die Umwelt in den privatwirtschaftlichen Preiskalkulationen der Produkte internalisiert wird.
Die Eurokrise ist in der öffentlichen Diskussion mittlerweile etwas in den Hintergrund getreten. Haben wir die richtigen Lehren aus der Krise gezogen?
Nein. Es wird weiter neoliberale Umverteilungspolitik zu den Besitzeinkommen betrieben und die entscheidende Krisenursache, die Massenarbeitslosigkeit hat in der EU nicht absondern dramatisch zugenommen. Und die Bekämpfung? Fehlanzeige. So wird die EU zerbrechen.Die praktizierte Austeritätspolitik, also ein strenges Kürzungsdiktat für die Südländer bei gleichzeitigem Export-Boom Deutschlands, führt in den Importüberschussländern zu Elendsökonomien. Wir brauchen mehr europäische Solidarität. Dies muss der Grundgedanke der EU sein. Der Starke muss dem Schwachen helfen, sonst fliegt uns die gesamte EU um die Ohren und wir erleben einen Rückfall in altes nationalstaatliches Denken, das jetzt schon wieder aufkommt. Das wäre für Europa eine Katastrophe. Nur ökonomische Dummchen wollen den Euro abschaffen.
Welche Maßnahmen schlagen sie vor?
Auf europäischer Ebene brauchen wir als Erstes einen Kapitalschnitt, und zwar länderimmanent durch Vermögensabgaben von den Reichen.Die Summe allen Vermögens ist nun mal immer gleich groß der Summe aller Schulden. Zunächst müssen deshalb die reichen Griechen, Spanier und Portugiesen zur Kasse gebeten werden, schließlich haben sie sich vor der Krise, und sie tun es weiter,am Volk bereichert. Danach, wenn dieser Kapitalschnitt nicht ausreicht, muss die EU helfen. Zweitens müssen wir den Schuldnern beim Investieren helfen. Griechenland muss zum Beispiel seinen Tourismus auf Vordermann bringen, und die Energieversorgung effizient gestalten, aber auch den Rüstungswahn beenden sowie eine vernünftige Finanzverwaltung und ein funktionierendes Katasteramt aufbauen. Und das Land muss in die Lage versetzt werden, sich am Kapitalmarkt zu moderaten Zinssätzen mit Geld zu versorgen.
Und was schlagen sie für Deutschland vor….
…die Länder mit extremen Exportüberschüssen, wie insbesondere Deutschland, müssen dagegen endlich ihre Binnenwirtschaft durch eine Umverteilung von oben nach unten stärken. Das heißt Löhne rauf, Gewinne runter und der Staat muss dies mit einer adäquaten Finanz- und Steuerpolitik begleiten. Dazu gehört auch eine radikale Bekämpfung von Steuerkriminalität und eine Harmonisierung von sozialen Standards in Europa und vor allen Dingen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Dann kann der Weg aus der Krise gelingen.
Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich –ist das für die Unternehmen zu verkraften?
Das ist für die Unternehmen unterm Strich sogar gewinnbringend. Denn Arbeitslosigkeit bedeutet immer auch weniger Kaufkraft und damit weniger Nachfrage, gleichzeitig für den Staat weniger Einnahmen und somit weniger Geld für die Sozialversicherungskassen, was zum Beispiel zu Rentenkürzungen führt. Aus der destruktiven Spirale müssen wir endlich raus.
Für wie realistisch halten Sie Ihre Vorschläge?
Ich halte sie für ökonomisch geboten. Leider Gottes werden sie aus bornierten Interessengründen politisch nicht umgesetzt, ja sie werden noch nicht einmal ernsthaft diskutiert. Ein Bewusstseinswandel ist daher dringend geboten und vor allen Dingen mehr ökonomisches Wissen in der Bevölkerung und bei unseren Volksvertretern in den Parlamenten.
Gespräch mit Dietmar Marciniak,
erschienen in der Recklinghäuser Zeitung vom 24.12.2013
Ähnliche Artikel
- 05.11.2012
- 23.05.2012
- 26.04.2012
- 17.02.2012
- 27.12.2011