OECD warnt vor der Vertiefung der sozialen Spaltung
Von Joachim Bischoff und Bernhard Müller
Die aktuelle Bestandsaufnahme der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) über die sozialen Verhältnisse läuft auf eine harte Abrechnung mit der neoliberalen Kürzungspolitik hinaus. Mehr als fünf Jahre nach der großen Krise verschlechtert sich die soziale Lage in zahlreichen OECD-Ländern durch hohe Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich in eine Sozialkrise umgesetzt. Die Mitgliedsländer werden daher aufgerufen, mehr für die soziale Abfederung der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise zu tun. »Kurzfristige Einsparungen an den falschen Stellen« könnten den Staaten langfristig teuer zu stehen kommen, warnte die Organisation in ihrem jährlichen Bericht »Gesellschaft auf einen Blick 2014« mit dem Untertitel »Die Krise und ihre Auswirkungen«.
Die Studie geht davon aus, dass die Sozialausgaben in der OECD nach ihrem vorübergehenden Anstieg in den ersten Krisenjahren in vielen Staaten unter den Druck der Haushaltskonsolidierung geraten. Der periodisch vorgestellte Bericht gewährt einen Überblick über soziale Trends und politische Entwicklungen in OECD- und ausgewählten Schwellenländern. Die vorliegende Ausgabe enthält auch neue Informationen zum Vertrauen der Bürger in Institutionen, zur Kriminalität, zur Krankenversicherung und dem subjektiven Gesundheitszustand, sowie zum Bezug von Arbeitslosenunterstützung.
Zwar erhole sich die Weltwirtschaft nach der Wirtschaftskrise in kleinen Schritten. Von einem durchgreifenden Wirtschaftsaufschwung könne man angesichts der Wachstumsraten und der Prognosen zwar nicht sprechen, doch zumindest sei der wirtschaftliche Abwärtstrend gestoppt: Für die Eurozone werde ein Wachstum von 1,1% erwartet, die Weltwirtschaft soll um 3,6% zulegen. Der Aufschwung alleine werde aber nicht reichen, um jenen wieder auf die Füße zu helfen, die es am härtesten getroffen habe, warnt die OECD.
Eine gewichtige Folge der Krisenkonstellation ist, dass der Anteil der Menschen, die angeben, nicht immer genug Geld zu haben, um ausreichend Essen zu kaufen, im OECD-Schnitt bei 13% liegt. In Griechenland stieg dieser Anteil in der Krise um neun Prozentpunkte auf 18%. In den USA sind es gar 21% (plus 7,7 Prozentpunkte). Der Grund für diese Verschlechterung: Löhne und der Arbeitsmarkt haben sich noch nicht von dem tiefen Rückschlag in der großen Krise erholt. Viele der sozialen Folgen machen sich aber erst langfristig bemerkbar, betont die OECD.
Die Sozialausgaben sind im Zuge der Krise in den reichen Industrieländern gestiegen: Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich von 2007 bis 2010 von 19 auf 22%. Am stärksten war der Anstieg in jenen Ländern, die von der Krise relativ am schwächsten betroffen waren – darunter Österreich, Deutschland und die Schweiz, wo die Sozialausgaben weit über dem OECD-Schnitt liegen. In Österreich sind es 28% des BIP.
In der Studie warnt die OECD vor künftigen Problemen, wenn die Kürzungspolitik fortgeführt wird. Derzeit sind insgesamt 48 Millionen Menschen in den 34 OECD-Ländern ohne Arbeit – ca. 15 Millionen mehr als im September 2007. Die Finanzkrise habe tiefe Auswirkungen auf Beschäftigung, Einkommen und Lebensformen der Menschen.
So hat sich die Anzahl von Menschen, die in einem Haushalt ohne Arbeitseinkommen leben, in Griechenland, Irland und Spanien verdoppelt. Auch haben Geringverdiener-Haushalte in vielen OECD-Ländern relativ die größten Einkommensverluste hinnehmen müssen. Besonders hart traf es hier Estland, Italien, Griechenland, Irland und Spanien.
Deutschland, Österreich und die Schweiz stehen im internationalen Vergleich verschiedener Sozialindikatoren gut da: Die Arbeitslosigkeit liegt in allen drei Ländern bei etwa der Hälfte des OECD-Durchschnitts. Die verfügbaren Haushaltseinkommen in der Schweiz gehören zu den höchsten innerhalb der OECD. In Deutschland und Österreich sind sie in den ersten Jahren der Krise (2007 bis 2010) auch stärker gewachsen als die Inflation. Die Einkommensungleichheit ist geringer als im Schnitt der OECD-Länder: Der Abstand zwischen den 10% der Bevölkerung mit dem geringsten und der 10% mit dem höchsten Einkommen ist mit dem Faktor 5,9 (AT); 6,7 (DE) und 7,3 (CH) erheblich kleiner als im OECD-Mittel (9,5). Allerdings hat sich die Lücke in Österreich während der Krisenjahre etwas vergrößert.
Wie in den meisten OECD-Ländern sind die Sozialausgaben seit 2007 auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gestiegen und liegen, bis auf die Schweiz, erheblich über dem OECD-Durchschnitt von 21,9% des Bruttoinlandsprodukts. In Österreich fließt ein Großteil des Geldes in Renten und auch in Deutschland fallen die Rentenausgaben mit einem Viertel der Gesamtausgaben für Soziales weit höher aus als im Durchschnitt der OECD-Länder. Die finanzielle Herausforderung der Bevölkerungsalterung dürfte sich in Deutschland durch ein weiteres Sinken der Geburtenrate verschärften.
Die OECD geht davon aus, dass die Sozialausgaben verstärkt unter den Druck der Haushaltskonsolidierung geraten. Sie warnt daher vor »falschem« Sparen: Die Sozialausgaben müssten so gestaltet werden, dass sie die Folgen der Krise für die Schwächsten der Gesellschaft dämpfen. Kürzungen seien deshalb sehr vorsichtig vorzunehmen und der soziale Zusammenhalt müsse im Blick bleiben.
Dazu sei es notwendig, Investitionen und sozialpolitische Maßnahmen auf die Bedürftigsten zuzuschneiden. Auch sei es wichtig pauschale Einschnitte zu vermeiden, unter denen vor allem die ärmsten Mitglieder der Gesellschaft oder Alleinerziehende leiden würden. Wohn-, Familien- oder Kindergeld sind für diese Gruppen häufig elementar, und unbesonnene Kürzungen in Bereichen wie Kinderbetreuung oder beruflichen Eingliederungsmaßnahmen könnten die Arbeits- und Entwicklungschancen ganzer Generationen gefährden.
Durch den Verzicht auf allgemeine Kürzungen der Sozialleistungen könnten auch hohe Folgekosten vermieden werden. Beispiel Gesundheitsvorsorge: Die Einschränkung vorbeugender Maßnahmen, etwa das Screening zur Früherkennung von Brustkrebs, könne später zu höheren Gesundheitsausgaben führen.
Sehr deutlich wird in »Gesellschaft auf einen Blick« formuliert, dass der »Wirtschaftsaufschwung allein wird nicht ausreichen (wird), um die soziale Spaltung zu überwinden und jenen wieder auf die Füße zu helfen, die es am härtesten getroffen hat«. OECD-Generalsekretär Angel Gurría hebt zudem hervor: »Die Regierungen müssen wirksamere sozialpolitische Maßnahmen ergreifen, um für künftige Krisen vorzubauen. Sie sollten auf jeden Fall der Versuchung widerstehen, Reformen zu verschieben, nur weil die wirtschaftliche Erholung beginnt Fuß zu fassen.«
Es gibt wenig vergleichende Untersuchungen über die soziale Spaltung der Gesellschaften. Die OECD hat eine wichtige Bestandsaufnahme im Zeitalter der Austerität vorgelegt. Die Warnungen vor einer Fortführung oder gar Verschärfung der Kürzungs- und Konsolidierungspolitik dürften freilich ungehört verhallen.
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