Politikwechsel für Europa - Für eine offensiv-solidarische Gewerkschaftspolitik
Von Otto König und Richard Detje
Die Spaltung Europas lässt sich an parallelen Events ablesen. Das eine fand in Athen statt und hatte zwei Aspekte, das andere in Brüssel und hatte mehr als 50.000 TeilnehmerInnen. In beiden Fällen geht es um Deutungshoheit: Quo vadis Europa?
In Athen lautete die Botschaft von Angela Merkel und Antonis Samaras: Die Medizin der Austerität wirkt, Griechenland ist auf dem Weg der Erholung. Deshalb gelte es, der Nea Dimokratia und den Resttrümmern der Pasok im Europa-Wahlkampf den Rücken zu stärken – übrigens auch der deutschen Bundeskanzlerin in deren Bestreben, die AfD (Alternative für Deutschland) möglichst klein zu halten.
Das Event: Griechenland kehrt zurück auf die Kapitalmärkte. Für drei Milliarden Euro wurden Staatsanleihen mit einer Laufzeit von fünf Jahren zu einem Zinssatz von 4,75% platziert. Seit Ende letzten Jahres war die Aktion von den Größten der Bankenwelt – Bank of America, Merrill Lynch, Deutsche Bank, Goldman Sachs, HSBC, J.P. Morgan, und Morgan Stanley – vorbereitet worden. Schief gehen konnte eigentlich nichts.
Griechenland verspricht eine Rendite, die es gegenwärtig kaum woanders auf der Welt gibt – fünfjährige portugiesische Staatsanleihen liegen gegenwärtig bei 2,6%, spanische und italienische bei 1,8%. Die Zinsdifferenz zu Krediten aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) dürfte über die gesamte Laufzeit Schätzungen zufolge 600 Millionen Euro ausmachen – vermutlich die teuerste Aktion im Europawahlkampf.
Sie wird bezahlt werden mit weiteren Einschnitten in Griechenlands Sozialsystem. Für die Investoren wurde hingegen maximaler Risikoschutz ausbedungen: Die Aktion fand unter britischem Recht statt, das Eigentümerrechte auch bei einem Schuldenschnitt sichert.
Während der Verkauf griechischer Bonds vorbereitet wurde, marschierten über 50.000 GewerkschafterInnen durch das EU-Viertel der belgischen Hauptstadt. Ihr Protest richtete sich gegen die massiven Eingriffe in die Tarifautonomie und Arbeitnehmerrechte, gegen Lohn- und Sozialkürzungen sowie fortdauernde Entlassungen im öffentlichen und privaten Sektor – gegen das Europa des Kapitals, für ein Europa der Solidarität, wie es belgische GewerkschafterInnen auf ihre Fahnen schrieben.
Musikalisch unterstützt wurden diese von ihren französischen KollegInnen mit »On lache rien« – wir lassen nicht locker/wir lassen nichts anbrennen. Unterfüttert war die Brüsseler Demonstration durch zahlreiche Aktionen vor allen in den von Krise und Austerität am stärksten betroffenen Ländern Europas. So wurde Angela Merkel in Athen von einem erneuten 24stündigen Generalstreik in Empfang genommen.
50.000 GewerkschafterInnen aus 21 EU-Mitgliedstaaten in den Straßen Brüssels sind allerdings auch Ausdruck einer fragmentierten Klasse. Zwar hat das Regime der Austerität von der gesamten EU Besitz ergriffen – nicht nur in den Staaten, die unter der Fuchtel der Troika stehen und nicht nur im Euro-Club –, in der der Fiskalpakt und seine Überprüfung im Rahmen des »Europäischen Semesters« die Essenz parlamentarischer Demokratie, nämlich die autonome Festlegung des öffentlichen Haushalts von der Einnahmen- wie Ausgabenseite her suspendiert.
Zudem wird mit dem angekündigten Wettbewerbspakt eine Wirtschaftspolitik weiter ausgebaut, die jene ökonomischen Ungleichgewichte hervorbringt, die der eigentliche Grund der Krise der Europäischen Union sind. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass alle kraftvoll am gleichen Strang ziehen. Weder im europaskeptischen Norden, noch in den Wettbewerbsstaaten Mittelosteuropas, in »konservativen Wohlfahrtsstaaten« wie Deutschland und Österreich als Gewinner der Euro-Integration nicht, und auch nicht im angelsächsischen Westen.[1]
Die Gründe der Fragmentierung sind vielfältig: Sie spiegeln unterschiedliche sozio-ökonomische und wohlfahrtsstaatliche Entwicklungswege ebenso wider wie unterschiedliche politisch-kulturell-gewerkschaftliche Traditionen und aktuelle Krisenbetroffenheiten. Doch gerade diese gilt es im positiven Sinne »aufzuheben« – also nicht zu negieren, sondern auf eine gemeinsame europäische Plattform zu heben.
Befördert werden kann dies, wenn gerade aus Ländern, die als vermeintliche Gewinner der Fiskal- und Wettbewerbsunion Europa dastehen, GewerkschafterInnen sich zu Wort melden, die in Sorge fragen: »Ist Europa noch zu retten?«[2]
Zumal wenn sie aus Branchen kommen, die nicht im Rampenlicht deutscher Exportrekorde stehen wie die Bauindustrie, wo der stellvertretende Vorsitzende der IG BAU fragt, ob sich die EU »auf dem Weg zu Arbeitsverhältnissen wie in Katar« befindet. Oder der stellvertrende Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, der die arg gebeutelte »europäische Bildungs- und Forschungspolitik auf den Prüfstand« stellt. Zwei Branchen, die vom Prozess der Europäischen Desintegration mit am härtesten betroffen sind. Dennoch plädieren beide, der IG BAU-Kollege Dietmar Schäfers und der GEW-Kollege Andreas Keller in eine Richtung, in der Europa zu retten wäre: Kooperation statt Wettbewerb.
Doch bieten die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 überhaupt eine Möglichkeit, einen Schritt in diese Richtung zugehen? Zwei Drittel der Europäer sind inzwischen der Ansicht, dass ihre Stimme in der EU nicht zählt.[3] Dies ist eine Folge eines Regimes prekärer Stabilisierung, das in Zentralfragen demokratische Legitimation selbst rhetorisch nicht anstrebt.
»Zugleich erfolgte die Ausarbeitung von Projektinhalten und Umsetzungsstrategien zumeist in den Hinterzimmern der nationalen Regierungszentralen und der EU-Institutionen. Dabei waren die Türen für mächtige Lobbyisten der Real- und Finanzwirtschaft weit geöffnet. Auf ambitionierte Werbung um Zustimmung in der Bevölkerung wurde dagegen in der Regel verzichtet«, konstatieren die geschäftsführenden IG Metall-Vorstandsmitglieder Wolfgang Lemb und Hans-Jürgen Urban.[4]
Rechtspopulistische Parteien in Frankreich (Front National), in den Niederlanden (Partei für die Freiheit) oder in Österreich (Freiheitliche Partei Österreichs) versuchen sich das bei den anstehenden Wahlen zum Europaparlament zunutze zu machen. Ihre Wahlerfolge sind ultimative Warnungen, dass es in Europa auf dem Pfad des autoritären Konstitutionalismus (Lukas Oberndorfer) nicht mehr mit demokratischen Perspektiven weiter gehen kann.
Für Gewerkschaften allemal, selbst dort, wo sie sich wettbewerbspolitische Vorteile versprechen. Das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach wertet die Politik der »Strukturreformen« zu Recht als anti-gewerkschaftlichen Angriff: auf institutionelle Machtressourcen des Tarifvertragssystems und der Arbeitsrechte, auf Löhne und Arbeitsplätze. Mit Langzeitfolgen: »2012 wohnten über eine Million Griechen in Haushalten ohne jegliches Einkommen. Von Arbeitslosigkeit betroffen sind insbesondere junge Menschen. Die Arbeitslosenraten der Jugendlichen unter 25 Jahren liegen in Griechenland und Spanien laut Eurostat inzwischen über 50%, in Portugal und Irland über 30%. Unsicherheit und Perspektivlosigkeit drohen eine ganze Generation zu prägen.«[5]
Da sollte eine gemeinsame gewerkschaftliche Initiative für ein europäisches Zukunftsinvestitionsprogramm eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein: für qualitatives, hinsichtlich Nachhaltigkeit ausgewiesenes Wachstum und gute Arbeit – und damit für einen Politikwechsel europäischer Integration.
In diese Richtung argumentiert der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske: »Ein Investitions- und Aufbaubauprogramm für Europa, eine europäisch koordinierte Wohlfahrtsstaats- und Steuerpolitik, ein gemeinschaftliches Schuldenmanagement und neue Regeln für die Finanzmärkte wären Aufgaben für eine demokratisch gewählte supranationale Wirtschaftsregierung. Letztere müsste jedoch demokratisch legitimiert sein.«[6]
Bei den Gewerkschaften sollten die Alarmglocken läuten, meinen Lemb und Urban. Erforderlich ist ein »radikaler Politikwechsel, der den gegenwärtigen Weg in das Regime autoritärer Prekarität stoppt und alternative Entwicklungspfade ermöglicht«. Dazu reicht es nicht aus, dass sich nur die Menschen in den krisengebeutelten Ländern gegen die desaströse Krisenpolitik stemmen. Doch für einen breiten, europaweiten Widerstand sind »die Gewerkschaften in den EU-Mitgliedstaaten auf die aktuellen Herausforderungen nicht gut vorbereitet«. Deshalb plädieren sie für eine »grundlegende Erneuerung des europäischen Projekts«.
Dafür müssen Gewerkschaften, soziale Bewegungen und demokratische Parteien gemeinsam mobilisieren, um die Kräfte zu stärken, die für einen Bruch mit der Austeritätspolitik und für eine soziale Politik in einer demokratisierten Europäischen Union eintreten. Um dafür Voraussetzungen zu schaffen, startete beispielsweise die IG Metall eine Initiative zur Aktivierung ihrer Mitglieder: »Wählen gehen – damit unser Europa eine Zukunft bekommt«.[7]
Für Fatalismus besteht kein Anlass. Kehren wir noch einmal zu Griechenland zurück. Was wäre, wenn die dortige Linke des Syriza-Bündnisses vor der regierenden Nea Dimokratia die Wahlen zum Europäischen Parlament für sich entscheidet und demnächst Neuwahlen in Griechenland erzwingt? Würde das nicht eine Stärkung des EP ermöglichen, wo 25% der Abgeordneten parlamentarische Untersuchungsausschüsse beispielsweise über die Folgen der Troika-Politik durchsetzen können?
Und könnte der Durchbruch der Linken in einem Land nicht möglicherweise die Architektur des herrschenden Systems der europäischen Governance ins Wanken bringen? Immerhin ist dessen Zentrum – der Europäische Rat – auf konsensuale Beschlüsse verpflichtet.
Eine gewerkschaftliche Strategiedebatte, die darauf zielt, den neoliberalen Gegnern die rote Karte zu zeigen, sollte das ins Kalkül ziehen.
[1] Zur Entwicklung in den Mitgliedstaaten im EU-Progress hat Steffen Lehndorff mit ForscherInnen aus zehn EU-Ländern aktuell eine neue Studie vorgelegt, die nur empfohlen werden kann: S. Lehndorff (Hrsg.):Spaltende Integration, Hamburg 2014.
[2] Annelie Buntenbach/Frank Bsirske/Andreas Keller/Wolfgang Lemb/Dietmar Schäfers/Hans-Jürgen Urban: Ist Europa noch zu retten? Analysen und Forderungen für eine offensive Europa-Politik, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2014.
[3] Vgl. standard-Eurobarometer 80: die öffentliche Meinung in der europäischen Union. Erste Ergebnisse, Herbst 2013, S. 8.
[4] Wolfgang Lemb/Hans Jürgen Urban: Ist die Demokratie in Europa noch zu retten? Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2014.
[5] Annelie Buntenbach: Wer hat Recht(e) in Europa? Die Grundrechtsverletzungen der Troika beenden – Schluss mit dem Austeritätskurs!, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2014.
[6] Frank Bsirske: Ein neuer Weg für Europa, in: In: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2014.
[7] Fünf Themen stehen im Zentrum: Erstens bessere Perspektiven für die Jugend in Europa: »Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen, statt eine ganze Generation zu verlieren«; zweitens ein Pfadwechsel in der Finanz- und Wirtschaftspolitik: »Wachstum durch Innovationen fördern, statt durch einseitiges Sparen abwürgen«; drittens ein sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft und Zähmung der Finanzspekulationen: »Nachhaltige Industrie mit realen Arbeitsplätzen aufbauen und ausbauen statt auf kurzfristige Spekulationen zu setzen«; viertens die Bekämpfung von Prekarisierung und sozialer Segmentierung als Leitlinie: »Arbeit in Europa – sicher sozial und fair – statt prekärer Beschäftigung« und fünftens eine Demokratieoffensive: »Mehr Demokratie und Mitbestimmung, statt Politik über die Köpfe der Menschen hinweg«.
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