Neustart für Europa - DIE LINKE vor den Wahlen zum Europaparlament
Von Heinz Bierbaum
Trotz leichter Aufwärtstendenzen kommt die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum nicht recht voran. Für dieses und nächstes Jahr wird ein leichtes Wachstum von 1-1,5% des BIP prognostiziert. Dabei ist die Entwicklung in den einzelnen Ländern unterschiedlich. In Deutschland wird ein Wachstum von 1,2% angenommen, in den am meisten von der Krise betroffenen Ländern wird davon ausgegangen, dass nach Jahren der Rezession die Wirtschaft wieder leicht wächst.
Allerdings reicht dies bei Weitem nicht, um erlittene Einbrüche wettzumachen. So hat Griechenland in den letzten Jahren rund ein Viertel seiner wirtschaftlichen Leistung eingebüßt. Nach wie vor bestehen erhebliche strukturelle Probleme wie die Handelsungleichgewichte vor allem gegenüber Deutschland oder aber die zerrüttete produktive Basis in einigen der von der Krise besonders betroffenen Ländern.
Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich trotz leichter Wachstumstendenzen nicht verbessert. Mit einer Quote von 12,1% bzw. 20 Millionen hat die Arbeitslosigkeit im Euroraum den höchsten Stand seit Beginn der Währungsunion erreicht. Dabei sind die Verhältnisse sehr unterschiedlich. Die höchste Arbeitslosenquote weist Griechenland mit für 2014 prognostizierten 29% aus, gefolgt von Spanien mit 28%. Aber auch in Portugal ist sie mit 18% erschreckend hoch. Italien und Frankreich liegen im europäischen Durchschnitt, während Deutschland und die Beneluxländer mit Arbeitslosenquoten zwischen 5 und 7% deutlich darunter liegen. Besonders betroffen sind die nachwachsenden Generationen. So sind in Griechenland und Spanien über die Hälfte der Jugendlichen ohne Arbeit, in Portugal und Italien 38% und in Frankreich mehr als ein Viertel. Dabei muss bedacht werden, dass die offiziellen Zahlen das wahre Ausmaß nicht zeigen. So liegt der tatsächliche Umfang der Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht bei drei, sondern bei vier Millionen – ein Drittel höher.
Diese wenigen Zahlen zeigen deutlich, dass die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen, wie sie mit dem Lissabon-Vertrag oder auch mit der Europa 2020-Strategie verbunden wurden, gescheitert sind. Der Lissabon-Strategie zufolge sollte Europa zur wettbewerbsstärksten Region aufsteigen. Darauf aufbauend sollen mit der Strategie Europa 2020 nicht nur die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise bewältigt werden, sondern auch die Grundlagen für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum gelegt werden. Davon ist der Kontinent weit entfernt. So soll die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Personen in der EU bis 2020 um mindestens 20 Millionen gegenüber 2008 verringert werden. Tatsächlich ist deren Zahl seit 2008 angestiegen. Über 16% oder 80 Millionen Menschen in Europa sind von Armut bedroht.
Die wirtschaftlich schwache und negative soziale Entwicklung in Europa ist zwar in erster Linie auf die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise zurückzuführen, zeigt aber zugleich, dass die dem Vertrag von Lissabon zugrunde liegende neoliberale Wirtschaftspolitik gescheitert ist. Die auf Liberalisierung der Märkte für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit sowie auf Kostensenkung insbesondere bei den Löhnen sowie auf Preisstabilität und Haushaltskonsolidierung ausgerichtete Angebotspolitik wurde durch die Austeritätspolitik und den Fiskalpakt weiter verstärkt.[1] Dennoch ist die herrschende Politik bestrebt, diese Strategie noch zu erweitern, wie der Merkelsche Vorstoß für einen die europäischen Länder verpflichtenden Wettbewerbspakt neoliberalen Musters zeigt. Die Hoffnungen auf eine Veränderung dieser Politik durch die Wahlen in Deutschland wurden enttäuscht. Die große Koalition setzt mit Hilfe der Sozialdemokratie die Merkelsche Politik fort. Mag sich auch der Ton ändern und möglicherweise der eine oder andere wirtschaftspolitische Impuls erfolgen, so bleibt doch die Politik in der Substanz unverändert. Bereits in der Opposition hatte die SPD in Europa keinen anderen Politikansatz verfolgt.
Widerstand
Gegen die sozial verheerende und ökonomisch kontraproduktive Austeritätspolitik regt sich Widerstand. Dies gilt insbesondere für die Länder Südeuropas, wo Streiks, Demonstrationen und Proteste an der Tagesordnung sind. Getragen wird dieser Widerstand von linken Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, von denen einige – wie z.B. die spanischen Indignados – im Verlauf der Auseinandersetzungen neu entstanden sind. Es ist Aufgabe der Linken, diesen Protest in eine alternative Politik zu transformieren und dafür gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren.
Widerstand und Protest kommen allerdings nicht nur von links. Die europäische Krise und die Widersprüche europäischer Politik geben auch der Rechten Auftrieb. Besonders ausgeprägt ist dies in Frankreich, wo der Front National mit Marine Le Pen eine gesellschaftlich und kulturell hegemoniale Position innehat. Im Hinblick auf die Wahlen zum europäischen Parlament ist eine Allianz mit der niederländischen Partei der Freiheit (PVV) unter Führung von Geert Wilders angekündigt. Die Rechte formiert sich und setzt auf eine nationalistische Politik, die auch durch xenophobe bis rassistische Elemente gekennzeichnet ist. Dabei ist das Spektrum sehr breit und reicht bis hin zu offen faschistischen Parteien wie in Griechenland. In Deutschland ist die rechtskonservative AfD nicht zu unterschätzen, auch wenn sie gegenwärtig an Zuspruch eingebüßt hat und vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist.
Dennoch: Die Proteste und Streiks in den so genannten Krisenländern haben die politischen Kräfteverhältnisse verändert. In Portugal ist die Regierung stark unter Druck und vermag die Vorgaben der Troika nicht voll umzusetzen. In Spanien hat das politische Gewicht der Izquierda Unida stark zugenommen und sich eine neue Zusammenarbeit mit den großen Gewerkschaftsverbänden herausgebildet. In Griechenland ist Syriza zur stärksten Partei aufgestiegen. Natürlich ist dieser Prozess nicht frei von Widersprüchen, wie beispielsweise die internen Auseinandersetzungen des Front de Gauche in Frankreich zeigen, oder aber auch von Fehlschlägen, wie die desolate Situation der Linken in Italien beweist. Dennoch sind die Aussichten der politischen Linken im Hinblick auf die Europawahlen durchaus vielversprechend.
Europäische Linke
Dies zeigte sich auch beim Kongress der Partei der Europäischen Linken (EL), der unter dem Motto »Change Europe. For a Europe of Work« vom 13.-15. Dezember in Madrid stattfand. Die EL wurde vor knapp zehn Jahren insbesondere auf Initiative Fausto Bertinottis und Lothar Biskys gegründet. Sie stellt einen Zusammenschluss linker Parteien in Europa dar, der inzwischen auf 33 Mitgliedsorganisationen angewachsen ist. Freilich umfasst er nicht die gesamte europäische Linke. Einige Parteien haben Beobachterstatus wie z.B. die KP der Slowakei. Andere wie die KP Portugals stehen der EL ablehnend oder wie die griechische KKE gar feindlich gegenüber. Die EL wird stark bestimmt durch die südeuropäischen Länder, aber auch Vertretungen aus Skandinavien wie beispielsweise die Red Green Alliance aus Dänemark spielen eine wichtige Rolle. In Osteuropa dagegen ist die EL nur schwach vertreten.
Trotz dieser Beschränkungen spielt die EL als Plattform und Koordinationsinstanz eine wichtige Rolle – ebenso wie die Fraktion der GUE/NGL im europäischen Parlament. Die EL ist sich durchaus ihrer Grenzen bewusst, weshalb die Gründung eines »Forums europäischer Alternativen« beschlossen wurde, um über das Spektrum der EL hinausgehende linke politische und gewerkschaftliche Kräfte, soziale Bewegungen, Intellektuelle und Aktivisten zusammenzubringen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch der »Alter Summit«, der letztes Jahr zum ersten Mal in Athen stattfand und fortgeführt werden soll. Allerdings muss er breiter werden und aus seiner Selbstgenügsamkeit herauskommen.
Das politische Dokument der EL steht unter dem Titel Unite for a left Alternative in Europe. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass das einst auf Frieden und sozialen Fortschritt gerichtete europäische Projekt sich in einen Albtraum allgemeinen sozialen Rückschritts transformiert habe. Die europäische Krise wird als Resultat der weltweiten Krise des finanzkapitalistischen Systems gesehen, die durch die in Europa praktizierte neoliberale Politik ihre spezifische Prägung erhalte – mit dem Resultat einer europaweiten Rezession, der Zerstörung wirtschaftlicher Strukturen, steigender Arbeitslosigkeit und sozialen Rückschritts. Angesichts dieser Situation bedürfe es einer Neugründung Europas auf der Basis von Solidarität, sozialer Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie. Die politischen Alternativen der EL konzentrieren sich auf vier Schwerpunkte. Erstens die Schaffung von Arbeitsplätzen im Rahmen einer sozialen, ökologischen und solidarischen Entwicklung, wobei besonders die Notwendigkeit der Verteidigung und Ausweitung der öffentlichen Dienstleistungen betont wird. Zweitens die Regulierung der Finanzmärkte mit einer grundlegenden Veränderung der Geldpolitik. Diese soll nicht der Spekulation, sondern der Schaffung von Arbeitsplätzen, öffentlichen Dienstleistungen, sinnvollen Produkten und dem ökologischen Umbau dienen. Ein Austritt aus dem Euro wird als wenig hilfreich angesehen. Entscheidend sei vielmehr eine alternative Politik einschließlich der demokratischen Kontrolle des Bankensektors einschließlich der EZB. Beschlossen wurde die Durchführung einer europäischen Schuldenkonferenz mit der Stoßrichtung, dass ein Großteil der Schulden gestrichen und neue Regeln der Schuldenpolitik festgesetzt werden sollen. Drittens geht es um die Wiederherstellung von Volkssouveränität und demokratischer Entwicklung und viertens um Frieden und Zusammenarbeit unter den Völkern. Die EL versteht sich als internationalistisch, weshalb nicht nur im politischen Dokument selbst, sondern auch in den angenommenen Resolutionen die Solidarität mit den Bewegungen in Lateinamerika, Palästina und in der Westsahara eine wesentliche Rolle spielt.
Das Dokument wurde mit über 90% Zustimmung angenommen und zeigt, dass in den Grundlinien der Politik große Übereinstimmung herrscht. Freilich ist die EL auch nicht frei von Konflikten. Dies gilt z.B. für die Frauenfrage, wo es Differenzen im Hinblick auf die Arbeitsstrukturen gibt. Auch hat die Parti de Gauche wegen politischer Probleme mit der PCF im Zusammenhang mit den französischen Kommunalwahlen im März ihre Mitarbeit in der EL fürs Erste suspendiert. Pierre Laurent, der Generalsekretär der PCF, wurde erneut zum Präsidenten der EL gewählt. Politisch bedeutsam ist weiter, dass die EL sich darauf verständigt hat, einen eigenen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu benennen – nicht weil man die EU-Kommission für ein demokratisch legitimiertes Gremium hält, sondern um dem Widerstand gegen die Austeritätspolitik der Troika ein Gesicht zu geben. Die Wahl fiel mit großer Mehrheit auf Alexis Tsipras, dem Vorsitzenden von Syriza. Bemerkenswert ist weiter die enge Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, die sich in jüngster Zeit entwickelt hat. Ausdruck davon war die Rede der Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds Bernadette Ségol auf dem Kongress.
LINKE Alternative
Der Kongress hat trotz einiger Differenzen zur Konsolidierung der EL beigetragen. Die EL hat zwar nur eine begrenzte öffentliche Ausstrahlung, doch als eine Plattform der europäischen Linken kann sie einen wichtigen Beitrag zur besseren Verständigung und Zusammenarbeit leisten. Der Partei DIE LINKE fällt dabei eine Schlüsselrolle zu. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass sie neben der griechischen Syriza als Vorbild für die Formation einer pluralen Linken gilt. Zum anderen liegt dies aber auch an der Bedeutung Deutschlands für die europäische Entwicklung. Gerade weil die deutsche Regierung maßgeblich verantwortlich ist für die Politik der Troika, ist es umso wichtiger, dass es in Deutschland dazu auch eine politische Alternative gibt, die für einen radikal anderen Kurs in der Europapolitik eintritt.
Dieser Bedeutung, aus der eine große Verantwortung für die Entwicklung der europäischen Linken erwächst, scheint sich DIE LINKE jedoch nicht immer bewusst zu sein. Dies zeigt sich auch an der gegenwärtigen Auseinandersetzung zum Europawahlprogramm. Nichts gegen einen Streit in der Sache. Dazu gibt es wahrlich Punkte genug – Bewertung der Krise, Einschätzung der EU, Zukunft des Euro usw. Doch die Art und Weise, wie die Auseinandersetzung geführt wird, dient eher der innerparteilichen Profilierung als der Weiterentwicklung der europapolitischen Positionen. Ein gefundenes Fressen für die Medien, die in gewohnter Manier daraus einen Streit zwischen »Fundamentalisten« und »Reformern« machen, was die Sache nicht trifft. Bevor darauf weiter eingegangen wird, sollen die Eckpunkte des Entwurfs des Europawahlprogramms und die wesentlichen Kontroversen dargestellt werden.
Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Europäische Union die Hoffnungen der Menschen enttäuscht hat und zu einer »neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht« geworden ist, dass daher Europa »vor einem Scheideweg steht: wie wir leben wollen, wie wir soziale Gerechtigkeit erreichen, Arbeit, Demokratie und alltägliches Zusammenleben organisieren wollen.«[2] Um einen »Neustart für eine demokratische, soziale, ökologische und friedliche Europäische Union zu ermöglichen«, sei eine »Revision der Grundsatzverträge der EU« erforderlich. Drei grundlegende Ursachen für die Krise werden ausgemacht: die Deregulierung der Finanzmärkte, die Umverteilung von unten nach oben und die extremen Handelsungleichgewichte zugunsten der auf Export getrimmten deutschen Wirtschaft. In klarer Absetzung von der Privatisierungs- und Kürzungspolitik der Troika werden als wesentliche Elemente einer Anti-Krisenpolitik genannt: die Regulierung der Finanzmärkte, verbunden mit einer Reorganisation des Bankenwesens, eine gerechtere Steuerpolitik, verbunden mit der Forderung nach einer europaweiten Vermögensabgabe, und die Einrichtung eines Ausgleichs-Fonds, um damit außenwirtschaftliches Gleichgewicht in Europa zu erreichen. Gefordert wird eine Neuausrichtung der Währungsunion, nicht aber der Ausstieg aus dem Euro.
Die Antwort auf die herrschende neoliberale Politik »muss ein gemeinsamer Widerstand über Ländergrenzen hinweg sein: für eine Beschäftigungsoffensive und höhere Löhne, bessere Sozialstandards und Beschäftigtenrechte und für eine Mindestsicherung, die vor Armut schützt.« Die Forderungen im Einzelnen werden unter dem Titel »Gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit in ganz Europa« zusammengefasst. Gefordert wird weiter ein Programm zur sozialen und ökologischen Umgestaltung der Wirtschaft einschließlich einer solidarischen Regional- und Strukturpolitik. Bestandteile des sozial-ökologischen Umbaus sind eine sozial gestaltete Energiewende, eine wirksame Klimaschutzpolitik, eine andere Verkehrspolitik, eine verantwortungsvolle Land- und Forstwirtschaftspolitik sowie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.
Ein wesentliches Kapitel stellen die Forderungen für ein demokratisches Europa dar, wo es um die Verteidigung sozialer und politischer Rechte, aber auch um Kampf gegen Rassismus, Rechtspopulismus und Neofaschismus geht. Einen besonderen Stellenwert hat die Friedens- und Abrüstungspolitik. »DIE LINKE kämpft gemeinsam mit der Friedensbewegung gegen die Militarisierung der EU. Sie setzt darauf, Auslandseinsätze und Rüstungsproduktion und -exporte zu verbieten.« Bestandteil der Entmilitarisierung ist der Austritt aus der NATO – in Übereinstimmung mit der EL.
Mit dem Grundgesetz gegen die neoliberale Zurichtung der EU?
Schon früh hatte der Europapolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Diether Dehm, einen Alternativentwurf zum Leitantrag des Parteivorstandes angekündigt. Der vorgelegte Entwurf mit dem Titel »Mut für ein anderes Europa. ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹ (Grundgesetz, Artikel 1)«[3] ist wesentlich kürzer und sprachlich sicherlich plastischer. Das ist ein Vorteil, geht aber zulasten der Begründungen. Es handelt sich eher um ein Manifest als um ein Wahlprogramm. Ausgangspunkt ist eine harte Kritik des »Europas der Eliten«. »Einst versprach die EU: mehr internationale Solidarität. Herausgekommen sind: mehr faschistische Parteien, rechtspopulistische Volksverdummer und mehr Menschenjagd in und an den Grenzen der EU.« Gefordert wird eine Neugestaltung der Wirtschaft durch öffentliche Kontrolle des Kreditsektors einschließlich der EZB, Ablehnung der Troika-Politik, Schaffung einer Ausgleichsunion und eine andere Steuerpolitik, u.a. durch eine Vermögensabgabe. Klar abgelehnt wird das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU. Ebenso wie im Leitantrag des Parteivorstands haben die Forderungen nach guter Arbeit und sozialer Gerechtigkeit einen zentralen Stellenwert. Gleiches gilt für die Themenfelder Frieden und sozial-ökologischer Umbau.
In den inhaltlichen Forderungen sind die Unterschiede nicht sehr groß. Die eigentliche Differenz bezieht sich vor allem auf die Einschätzung der EU und auf das Verhältnis von EU und Nationalstaat. So charakterisiert Dehm die EU ausgehend vom Vertrag von Maastricht als ein »neoliberales, militaristisches und weithin autoritäres Regime, das nach 2008 eine der größten Krisen der letzten 100 Jahre heraufbeschwor«. Nun war es nicht die EU, die die Krise »heraufbeschwor«. Die europäischen Krise ist vielmehr die Konsequenz der tiefen weltweiten, in der spezifischen kapitalistischen Entwicklung selbst gründenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Die europäische Krise ist eine Banken- und Finanzmarktkrise, die allerdings durch die EU-Politik der Bankenrettung auf Kosten der Masse der Bevölkerung vermittels einer neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik ihre besondere Ausprägung erhält. Streitpunkt ist nicht, sich mit dieser Politik und der Entwicklung der EU kritisch auseinanderzusetzen und einen radikalen Neuansatz einzufordern. Allerdings sind die die gefundenen Formulierungen, die auch in etwas abgeschwächter Form Eingang in den vom Parteivorstand verabschiedeten Entwurf des Programms gefunden haben, übertrieben und kommen einer Dämonisierung der EU gleich.
Vollends schief wird jedoch die Argumentation, wenn der so gebrandmarkten EU das »gute Grundgesetz« entgegengesetzt wird. Dies verkennt, dass EU und Nationalstaat unterschiedliche Ebenen darstellen. Die Nationalstaaten sind historisch gewachsen und haben ihre spezifische soziale, kulturelle und politische Entwicklung, was sich denn auch in der jeweiligen Verfassung niederschlägt. Die Entwicklung der EU hat keine vergleichbare Tradition, auch wenn man versucht hat, ihr immer mehr Kompetenzen zu übertragen und ihre vertraglichen Grundlagen von Maastricht und Lissabon in den Verfassungsrang zu erheben, was ihre neoliberale Ausrichtung zementiert hätte. Dies ist – vorwiegend durch das Referendum in Frankreich – gescheitert. Auch wenn die EU-Politik einen gewissen Grad an Eigenständigkeit aufweist und Auswirkungen auf die Politik in den Ländern hat, so ist doch auch klar, dass die EU-Politik wesentlich von den jeweiligen nationalen Regierungen gemacht wird. Dabei spielt gerade die deutsche Bundesregierung eine führende Rolle. Das Grundgesetz hat Merkel und Co. noch nie daran gehindert, sowohl in Deutschland als auch in Europa eine rigorose neoliberale Politik durchzusetzen.
Ohne Zweifel sind das Verhältnis von Nationalstaat und europäischer Ebene ebenso wie eine europäische Verfassung zentrale Fragen, die der vertieften Diskussion bedürfen. Aber um einfache Gegensätze handelt es sich jedenfalls nicht. Es ist ein eher dialektisches Verhältnis, wo der Nationalstaat wesentlicher Ausgangspunkt für Politik ist, gleichzeitig aber deren Resultate auf europäischer Ebene auf eben die Politik der Nationalstaaten zurückwirken. Dies geht bis dahin, dass wie beim Fiskalpakt die Staaten sich selbst entmündigen und nicht demokratisch legitimierte Verfahren beschließen. Auch bei den sozialen Auseinandersetzungen und dem Widerstand gegen die Troika-Politik ist es so, dass sie sich zunächst auf der nationalen Ebene entwickeln und dann Bedeutung für die Entwicklung in Europa insgesamt erlangen können, was wiederum auf die nationale Politik zurückwirkt.
Sonderrolle Deutschlands
Problematisch ist keineswegs, dass es unterschiedliche Positionen im Hinblick auf die Einschätzung der EU, der europäischen Politik und der Rolle des Nationalstaats gibt. Problematisch ist vielmehr, wenn daraus ein falscher Gegensatz zwischen »Europäern« und »Nationalisten« gemacht wird. Dadurch treten die Inhalte und damit die politische Alternative selbst in den Hintergrund. Kritisch zu beurteilen ist allerdings auch eine Position, wonach die Übertragung von mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene als Ausweis von europäischer Gesinnung gilt. »Mehr Europa« ist eine trügerische Formel. Denn dabei wird verkannt, dass entscheidend ist, welche Politik gemacht wird. Unter gegenwärtigen Verhältnissen wäre eine weitere Stärkung der EU geradezu kontraproduktiv und läge allenfalls im Interesse von finanzkapitaldominierten Interessengruppen. Kritik und Zurückweisung der Austeritätspolitik und das Einfordern einer politischen Alternative liegen dagegen im Interesse der Entwicklung eines sozialen Europas und sind alles andere als europafeindlich, wie dies der LINKEN manchmal unterstellt wird.
Ein Defizit des Leitantrags als auch des Alternativentwurfs stellt die mangelhafte Anbindung an die reale wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Deutschland dar. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich die Situation in Deutschland von der Lage in den anderen Ländern, insbesondere in Südeuropa deutlich unterscheidet. Die wirtschaftliche Entwicklung ist besser, die Arbeitslosigkeit geringer und die sozialen Probleme weniger dramatisch. Die Kritik an der europäischen Politik äußert sich eher als Verunsicherung, als Sorge um die Geldwertstabilität, als Klage über die Brüsseler Bürokratie und weniger als sozialer Protest. Merkel gilt mehrheitlich als erfolgreiche Verfechterin deutscher Interessen. Es wird weniger gesehen, dass dies eben nicht die allgemein deutschen Interessen sind, sondern die der deutschen Industrie und vor allen Dingen der deutschen Großbanken und ihren reichen Anlegern. Dies hängt auch damit zusammen, dass ein Teil der Lohnabhängigen davon durchaus profitiert. Die Arbeiterklasse ist gespalten. Auf der einen Seite gibt es die relativ besser gestellten Arbeiter und Angestellten in Kernbereichen deutscher Industrie wie dem Automobilsektor, auf der anderen Seite haben wir einen immer größeren Sektor prekärer Arbeit, vorwiegend im Dienstleistungsbereich. Die Krise macht sich also durchaus auch in Deutschland bemerkbar, allerdings in doch noch eher moderater Form. Diesem Sachverhalt muss im Europawahlprogramm und vor allen Dingen in der Wahlstrategie Rechnung getragen werden.
Es ist Aufgabe der LINKEN, die vorhandenen Widersprüche aufzugreifen, deutlich zu machen, dass die unter wesentlicher Federführung der deutschen Regierung durchgedrückte Kürzungs- und Privatisierungspolitik nicht zuletzt ein schweres Hindernis für die europäische Integration ist. Sie hat nicht nur desaströse Folgen für die Wirtschaft und die sozialen Verhältnisse in Südeuropa, sondern bringt auch erhebliche Risiken für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland mit sich. So drückt der praktizierte Abbau von Arbeitnehmer- und gewerkschaftlichen Rechten in den von der Krise am meisten betroffenen Ländern – verwiesen sei nur auf die äußerst unternehmerfreundliche Arbeitsmarktreform in Spanien – eben auch auf die industriellen Beziehungen hierzulande. Die LINKE muss deutlich machen, dass die wesentlich auf Export basierende Wirtschaft kein nachhaltiges Entwicklungsmodell ist. Daher ist Umsteuern gerade auch in der Wirtschaft dringend nötig. Hier hätte man sich das Programm, soweit es bisher vorliegt, prägnanter und konkreter vorstellen können, etwa im Hinblick auf die Konzeption einer europäischen Industriepolitik. Jedenfalls ist es notwendig, dass DIE LINKE ihre inhaltlich klare Alternative für eine andere Politik in Europa herausstellt und sich nicht in Debatten verliert, die die Partei auseinanderdividieren. Die Diskussion um Anlage und Ausrichtung der europäischen Politik und damit auch über den Entwurf des Europawahlprogramms ist zweifellos notwendig. Sie sollte in der Sache geführt werden.
Heinz Bierbaum ist Mitherausgeber von Sozialismus, MdL und Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN.
[1] Siehe dazu Markus Martenbauer: Aus Fehlern kann man lernen – das vollständige Scheitern neoklassischer Wirtschaftspolitik in der EU bietet die Basis für emanzipatorische Alternativen, EU-Infobrief der Arbeiterkammer Wien, Juli 2013.
[2] Die folgenden Zitate beziehen sich auf den vom Parteivorstand im November 2013 beschlossenen Leitantrag.
[3] Die folgenden Zitate beziehen sich auf den von Diether Dehm vorgelegten Alternativentwurf.
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