Währungsunion - wie weiter?

Von Axel Troost

12.11.2015 / 12.11.2015

Keine Frage: Die Europäische Währungsunion ist in einer schlechten Verfassung. Im Süden Europas ist kein Aufschwung in Sicht, der die gravierende Arbeitslosigkeit auf ein halbwegs vertretbares Niveau drücken könnte. In acht der neunzehn Eurostaaten liegt die Wirtschaftsleistung immer noch unter Vorkrisenniveau. Selbst Leitzinsen nahe Null reichen nicht aus, um die Wirtschaft im Euroraum wieder anzuschieben. Wirtschaftlich steckt Europa nach wie vor mitten in der Krise.

Trotz bekannter Probleme (verfallende Infrastruktur, vom Reichtum abgekoppelte Teile der Gesellschaft etc.) steht Deutschland wirtschaftlich vergleichsweise gut da. Die hierzulande verbreitete Sicht: Am deutschen Wesen soll vielleicht nicht die Welt, aber doch zumindest Europa genesen. Doch mit genauerem Blick ist die deutsche Wirtschaftspolitik weder nachhaltig noch ein Vorbild für andere.

Nach Lesart der Bundesregierung liegen die Fehler in den Krisenländern und müssen auch dort beseitigt werden. Die deutschen Bundesregierungen haben die Ursache der Krise bisher vor allem in der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Krisenländer gesehen, insbesondere in zu hohen Löhnen und übertriebenen Staatsausgaben. Deren Kürzung war dann auch die Strategie der Troika. Meine Sicht ist eine ganz andere: Statt die Anpassungslast nur den Krisenländen aufzubürden, muss gerade Deutschland seine wirtschaftliche Strategie (insbesondere die unausgewogene Exportorientierung, das mangelhafte Niveau öffentlicher Investitionen und den Ausbau prekärer und schlecht bezahlter Beschäftigung) revidieren, damit die europäischen Krisenländer überhaupt eine Chance bekommen, gegen Deutschland im Wettbewerb in der Währungsunion zu bestehen. Andernfalls ist das Projekt Währungsunion dem Untergang geweiht, Visionen für eine Zukunft (oder gar „Vollendung“) erübrigen sich.

Doch wie können entsprechende institutionelle Reformen aussehen? Dazu werden nachfolgend Ansätze genannt, die an den bestehenden Strukturen ansetzen und darauf abzielen, die Währungsunion ökonomisch nachhaltig(er) zu machen.

1. Wirtschaftspolitische Steuerung

Deutschland hat durch eine repressive Sozial- und Wirtschaftspolitik (Hartz IV, Ausbau Niedriglohnsektor, befristete prekäre Beschäftigungsverhältnisse etc.) die Löhne praktisch eingefroren, während sie in den meisten anderen Ländern der Währungsunion in relativ kontinuierlicher und moderater Weise weiter stiegen – wie es in einer gesunden Ökonomie üblich ist. Dadurch gingen die Lohnstückkosten – und damit die Wettbewerbsfähigkeit – von Deutschland (und ähnlich Österreich, Holland und Finnland) und dem weitgehenden Rest Europas immer weiter auseinander. In der Folge häufte Deutschland immer höhere Exportüberschüsse an, während anderswo die industrielle Basis erodierte und die Arbeitslosigkeit stieg. Gegen diesen ruinösen Wettbewerb braucht die Währungsunion dringend einen Korrekturmechanismus.

Derzeit überwacht die EU im Rahmen der makroökonomischen Überwachung eine Reihe von volkswirtschaftlichen Kennziffern in einem sogenannten „Scoreboard“. Beim Überschreiten bestimmter Schwellenwerte wird ein Mahnverfahren eingeleitet. Für die Währungsunion, die auf wirtschaftliche Konvergenz angewiesen ist, ist so ein Verfahren grundsätzlich sehr sinnvoll. In der Praxis ist das derzeitige Verfahren jedoch völlig ungeeignet, weil wichtige Indikatoren nur einseitig ausgelegt werden. So dürfen die Lohnstückkosten gemäß Scoreboard innerhalb von drei Jahren nicht um mehr als neun Prozent steigen. Es gibt aber keine Warnschwelle, wenn sich Löhne unterproportional entwickeln – eine klare Einladung zum Lohn-Dumping. Das Scoreboard müsste also dringend angepasst werden, damit sich auch der europäische Musterknabe Deutschland endlich an die gemeinsamen europäischen Spielregeln halten muss (wohlgemerkt: selbst im Vertrag von Maastricht ist ein moderater Lohnanstieg quasi vorgesehen, denn ohne steigende Löhne ist das europäische Inflationsziel von jährlich 2 Prozent praktisch nicht zu erreichen).

Noch wichtiger als ein Normkorridor für die Lohnentwicklung ist ein Korrekturverfahren für unausgeglichene Leistungsbilanzen. Wachsende Exporte und schwache Inlandsnachfrage haben den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands inzwischen auf exorbitante 8 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung getrieben. Dies steht im Widerspruch zur Grundregel der Außenwirtschaftspolitik, wonach Leistungsbilanzen weitgehend ausgeglichen sein sollten, d.h. Ein- und Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen sich die Waage halten. Denn langanhaltende Überschüsse führen auf mittlere Sicht zur Überschuldung von Handelspartnern, was eine häufige Ursache von Finanz- und Wirtschaftskrisen ist. Das EU-Scoreboard ist auch hier wieder auf einem Auge blind: Bisher wird bei einem Leistungsbilanzdefizit von vier Prozent der Wirtschaftsleistung ein Verfahren gegen die Defizit-Länder in Gang setzt. Überschüsse werden erst bei einem Wert von sechs Prozent beanstandet, und selbst dann findet kein wirkliches Korrekturverfahren statt. Solange aber Deutschland weiter übermäßige Überschüsse produziert, müssen andere Staaten zwangsläufig mit Defiziten abschließen. Ich habe deswegen schon vor Jahren das Modell einer Ausgleichsunion vorgeschlagen, bei dem ein Sanktionsverfahren einsetzt, sobald ein Staat in seiner Leistungsbilanz bestimmte Schwellenwerte überschreitet.[1] Die Sanktionen sollten für Staaten mit Überschüssen bewusst strenger gefasst sein als für Staaten mit Defiziten. Denn Überschussländer befinden sich in einer stärkeren Position und können deswegen viel einfacher Anpassungsleistungen erbringen als Defizitstaaten.

Wenn nun Deutschland seinen Überschuss von derzeit 240 Mrd. Euro abbauen müsste, was etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) und die US-Regierung seit langem fordern, wäre die deutsche Regierung zu einer völlig anderen Wirtschaftspolitik gezwungen. Maßnahmen, die zu deutlichen Lohnsteigerungen führen und den anderen Eurostaaten Gelegenheit zum Aufschließen geben würden, wären unumgänglich. In dem scheinbar technokratischen Mechanismus verbirgt sich daher eine gewaltige politische Sprengkraft für die deutsche Wirtschaftspolitik. Für die Währungsunion birgt dieser Ausgleich aber gerade eine Kohäsionskraft – sie wäre der Leim der Währungsunion.

Eine Währungsunion braucht natürlich noch mehr als bessere wirtschaftspolitische Steuerung. Zentral sind auch Elemente einer gemeinschaftlichen Fiskalpolitik, um die Konjunktur zu stabilisieren und damit zu verstetigen.

2. Gemeinschaftliche Fiskalpolitik

In der Währungsunion steht die Europäische Zentralbank (EZB) vor dem altbekannten Problem, dass die Konjunktur in 18 verschiedenen Mitgliedsländern fast immer unterschiedlich ist. Die expansive Geldpolitik der EZB leistet einen erheblichen Beitrag, die Situation in den Krisenländern zu entschärfen, Aber die klassischen Instrumente der Geldpolitik sind längst ausgereizt. Das Hauptproblem: Auf staatlicher Seite fehlen die fiskalischen Impulse. Denn die Krisenstaaten werden zum Sparen gezwungen und Deutschland und seine Verbündeten wetteifern darum, die Schuldenbremse überzuerfüllen. Das Ergebnis ist eine Fiskalpolitik, die für die Eurozone insgesamt schädlich ist.

OECD und der IWF fordern seit längerem, dass Staaten mit größeren finanziellen Spielräumen wie Deutschland diese auch tatsächlich nutzen, um der Konjunktur im Euroraum wieder Schwung zu geben. Das ist richtig, insgesamt sollten aber allen Staaten neue Spielräume aufgetan werden.

Über zusätzliche Mittel sollte zunächst ein europäisches Investitionsprogramm in Gang gesetzt werden. Angesichts historisch niedriger Zinsen und der verfallenden Infrastruktur ist die Zeit dafür ohnehin besonders günstig. Die fiskalische Steuerung sollte dann im Folgenden weiter verstetigt werden, da sich ähnliche Probleme immer wieder stellen werden. Dies könnte zum Beispiel ein europäischer Haushalt für die Eurozone sein, der sich über die gemeinschaftliche Ausgabe von Anleihen finanziert und über dessen Ausgaben das europäische Parlament (oder die Europa-Abgeordneten der Eurozone) entscheidet. Ergänzend sollte die Europäische Zentralbank in die Lage versetzt werden, Anleihen der Eurostaaten und gemeinschaftlicher Institutionen aufkaufen zu können und somit neue Finanzierungsquellen zu erschließen.

Eine solche Fiskalunion wäre letztlich mit Finanz-, Risiko- oder Bonitätstransfers verbunden. Transfermechanismen sind aber ohnehin typisch für eine echte Währungsunion (siehe die deutsche Wiedervereinigung, auch die USA haben großvolumige Finanztransfers zwischen reichen und armen Bundesstaaten). In der Eurozone fehlen solche Elemente fast völlig (abgesehen von den vergleichsweise wenigen Fördermitteln, die für die gesamte EU zur Verfügung stehen). Die bisherige Knauserei hat die Krise bisher nur vergrößert und wird langfristig teuer werden. Es sollte endlich eingestanden werden, dass eine Währung größere und ständige Transfers benötigt.

3. Finanzunion

Die Eurozone hat inzwischen eine gemeinsame Aufsicht für grenzüberschreitende Banken (unglücklich bei der EZB angesiedelt) und einen gemeinsamen Mechanismus zur Abwicklung kriselnder Banken. Das ist ein Fortschritt gegenüber der Vor-Krisen-Zeit, aber gleichwohl nicht befriedigend.

In vielen europäischen Ländern herrschen nach wie vor Systeme weniger börsennotierten Großbanken vor. Sie sind immer noch zu groß, um schonend abgewickelt oder wirksam beaufsichtigt zu werden. Diese Banken gehen zudem allzu oft unverantwortliche Risiken ein, stellen eine unerträgliche Machtkonzentration dar und leisten wenig für die Finanzierung der Realwirtschaft. Dagegen gibt es einige unverzichtbare Kerne, etwa die gemeinwohlorientierten Sparkassen und Förderbanken oder die eng auf die Realwirtschaft fokussierten Genossenschaftsbanken. Diese Kerne sollten erhalten und ausgebaut werden, der Rest eingedampft werden. Eine zielführende europäische Finanz-union muss ein Bankensystem jenseits von Großbanken und Schattenbanken etablieren, das sich gleichermaßen ökonomisch wie demokratisch kontrollieren lässt. In dieser Finanzunion könnten viele der Risiken, die heute durch neue Mechanismen gebändigt werden sollen, gar nicht erst entstehen.

Und was nun?

Es ist unbestritten, dass die Währungsunion in der gegenwärtigen Verfassung keine Zukunft hat. Doch Reformen sind leichter gesagt als getan. Das Europäische Parlament ist unter den europäischen Institutionen am ehesten dazu legitimiert, über den Umbau der Währungsunion zu entscheiden. Doch EU und Eurozone sind Bündnisse von Nationalstaaten, die im Europäischen Rat und der Eurogruppe im gegenseitigen Einvernehmen beschließen und das Europaparlament allzu oft nur auf eine Beobachterrolle reduzieren. Das führt zu frustrierendem Kleinklein und zu dem Ergebnis, dass praktisch keine Entscheidungen zu Lasten starker Staaten getroffen werden, während schwächeren Staaten schon mal die Pistole auf die Brust gesetzt werden kann.

Kennzeichnend für diese Politik ist der Fünf-Präsidentenbericht mit dem schön klingenden Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“. Tatsächlich enthält der Bericht nur verschämte Reförmchen oder vage Vorschläge. Die Schwäche des Berichts ist die Ausrichtung auf etablierte Mechanismen und Diskurse. Wo er konkret wird, bleibt er erschreckend mutlos.

Auf der anderen Seite ist dies gerade die Stärke des Berichts: das produzierte Kleinklein hat tatsächlich Chancen umgesetzt zu werden, während jeder halbwegs ambitionierte Vorschlag durch den Europäischen Rat, das eigentliche Machtzentrum Europas, sofort auf den Friedhof der Ideen befördert würde. Entsprechend knüpft der Bericht nahtlos an dies bisherige Politik an. So soll das strikte Fiskalregime von zwischenstaatlichen Verträgen nun ins Gemeinschaftsrecht überführt werden und die EU-Staaten zu weiteren Strukturreformen ermuntert werden. Es ist klar, dass die Linke sich mit einem solchen Bericht nicht identifizieren kann.

Im Detail finden sich jedoch Passagen, die sich auch progressiv ausdeuten lassen. Dazu gehört u.a. die im Bericht geforderte Beurteilung, „ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln“ (S. 9), was eben auch als Kritik an der deutschen Lohnentwicklung interpretiert werden kann. Das gilt auch für die makroökonomische Überwachung, die zukünftig „hohe und anhaltende Überschüsse in der Leistungsbilanz“ adressieren soll (S. 10). Und auch die deutsche Haushaltspolitik wird kritisiert, indem zukünftig „nationale Haushaltssalden in der Summe einen angemessenen finanzpolitischen Kurs für das Euro-Währungsgebiet als Ganzes ergeben“ sollen „um jederzeit eine prozyklische Finanzpolitik zu vermeiden“ (S. 16). Letztlich können auch die nur vage umschriebene „Funktion zur fiskalischen Stabilisierung des Euro-Währungsgebiets“ (S. 17) oder das ebenfalls nicht näher ausgeführte „europäische Schatzamt“ (S. 20) als Vehikel für unsere ohnehin vorhandenen eigenen Vorschläge genutzt werden.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Passagen anders gemeint oder nur halbherzig gewollt sind. In der Vergangenheit sind schon viel offenere und ambitionierte Vorschläge sang und klanglos gescheitert. Doch warum will man die Deutungshoheit kampflos dem politischen Gegner überlassen? Wieso sollte man sich die Gelegenheit verkneifen, einen der Präsidenten durchdeklinieren zu lassen, was der Bericht an Anpassungsleistungen für Deutschland zu bedeuten hat? Schließlich ist der Bericht nun die Blaupause, an der sich europaweit die Regierungen, die Parlamente und die Medien zwangsläufig abarbeiten werden. Auch wenn wir uns den Bericht nicht zu eigen machen werden, für eine konstruktive proeuropäische EU-Kritik lässt er sich nutzen. Denn Sozialdemokraten oder die Regierungen von Frankreich, Spanien oder Italien müssen sich dann dafür rechtfertigen, wenn sie bestimmte Chancen für einzelne Weichenstellungen nicht sehen oder nicht nutzen wollen.

[1] Vgl. www.solidarische-moderne.de und www.axel-troost.de sowie weiterentwickelt unter www.axel-troost.de

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