"Corbynomics" statt Austeritätspolitik - Hoffnung auf einen linken Aufbruch in England
Von Axel Troost
Am 10. September[1] wird eine wichtige Weichenstellung für die englische Sozialdemokratie getroffen: Wird „New Labour“ weitergeführt oder der Kurs nach links korrigiert? Ein Kurswechsel wäre über Großbritannien hinaus ein starker Impuls für die europäische Linke und Sozialdemokratie, der die Zukunft Europas stärker prägen könnte als die Wahl Syrizas in Griechenland.
Der Abgeordnete Jeremy Corbyn gilt als linkes Urgestein der sozialdemokratischen Labour-Party, der für seine Überzeugungen bereits über 300 mal bei Abstimmungen aus der Fraktionslinie ausgeschert ist. Er steht für einen starken Sozialstaat, höhere Besteuerung von Unternehmen und Wohlhabenden, eine keynesianische Nachfragepolitik und öffentliche Investitionsoffensive.
Überraschend führt er nun in Umfragen als Anwärter[2] auf den Parteivorsitz, dessen Wahl für Anfang September angesetzt ist. Er genießt die Unterstützung von Gewerkschaften und entfacht Entsetzen in der Parteiführung aus dem „New Labour“-Flügel um den früheren Premier Tony Blair, dessen rechte Neuausrichtung auch Pate stand für Schröders Agenda 2010 in Deutschland. Verglichen mit der deutschen Parteienlandschaft wäre die radikale Kurskorrektur durch eine Nominierung Corbyns vergleichbar mit einer Nominierung von Andrea Ypsilanti durch die SPD oder von Christian Ströbele durch die grüne Basis. Entsprechend wird auch in der deutschen Presse bereits das Bild eines linken Extremisten oder Populisten gezeichnet[3] – meines Erachtens zu Unrecht, da Corbyn authentisch wie kein Zweiter seit Jahrzehnten klassische sozialdemokratische Grundsätze vertritt.
Auch bei seinem Wirtschaftsprogramm handelt es sich – aller Anfeindungen zum Trotz – um seriöse[4] und moderate[5] Vorschläge aus einer keynesianischen Wirtschaftstradition, an welche sich auch die deutsche Sozialdemokratie wieder erinnern sollte. Die im innerparteilichen Wahlkampf geäußerten wirtschaftspolitische Ideen bzw. Ankündigungen Corbyns[6] werden auf der Insel bereits als „Corbynomics“ diskutiert. Richard Murphy, ein Ökonom und Steuerexperte[7], gilt als wichtiger, wenn auch informeller ökonomischer Berater der Corbynomics. Die Ideen dazu werden jedoch schon länger von progressivlinken Einrichtungen wie dem Tax Justice Network, der Green New Deal Group[8] sowie der New Economics Foundation[9] ausgearbeitet und popularisiert.
Corbyn fordert eine große öffentliche Investitionsoffensive, die sich aus zwei Quellen speisen soll: Steuergerechtigkeit und „Grünem Quantitative Easing“.
Die Wiederherstellung von Steuergerechtigkeit[10] solle steuerrechtliche Verzerrungen zugunsten großer Unternehmen beenden und zu einer Verminderung der Ungleichheit führen. Denn die hohe Ungleichheit sei nicht nur ungerecht sondern selbst nach neuesten Berechnung des IWF und der OECD schlecht für die Wirtschaft (vermehrte Verschuldung und Spekulation statt Nachfrage und Innovationen).
Gleichzeitig käme es dadurch zu einer massiven Erhöhung der Staatseinnahmen. Durch Rücknahme von Steuererleichterungen und Subventionen für große und lobbystarke Unternehmen sollen zusätzliche jährliche Einnahmen von ca. 93 Mrd. Pfund erzielt werden. Gerechnet werden zudem mit zusätzlichen Einnahmen in Höhe von 20 Mrd. Pfund aus Steuerschulden, 20 Mrd. Pfund aus Steuervermeidung und 80 Mrd. Pfund aus Steuerflucht.
Zudem wird die Idee einer Erhöhung der öffentlichen Investitionen durch ein „Grünes Quantitative Easing (GQE) bzw. „Quantitatives Easing fürs Volk“ ins Spiel gebracht. Die Zentralbank solle – wie bereits im Zuge der Bankenrettung geschehen – mittels Quantitative Easing (QE) Geld schöpfen. Dieses Geld solle jedoch nicht wieder den Banken sondern der ganzen Bevölkerung zugutekommen, indem es in bezahlbaren Wohnraum, öffentliche Infrastruktur und Zukunftsinvestitionen fließt.
Hintergrund ist:[11] Die Bank of England lieh zwischen 2009 und 2012 an ihre Tochter „Bank of England Asset Purchase Facility Fund” Geld. Damit wurden über 376 Mrd. Pfund an Staatsschulden angekauft, um die Geschäftsbanken zu rekapitalisieren bzw. mit Liquidität zu versorgen. Als Nebeneffekt flossen auch keine Zinsen mehr an den privaten Sektor ab. Diese aufgekauften Staatschulden seien damit für den Steuerzahler kostentechnisch „neutralisiert“ worden. Auch wenn diese Staatsschulden pro Forma noch in den Büchern stünden, sei QE deshalb eine de facto Entschuldung des Staates. Zudem sei damit belegt, dass ein dreistelliger Milliardenbetrag inflationsneutral geschöpft und problemlos in der Zentralbankbilanz versenkt werden könne.
Nun ist Corbyns Vorschlag, statt den bereits den Banken zur Verfügung gestellten 6.000 Pfund je EinwohnerIn mittelfristig ca. 1.000 Pfund pro Kopf pro Jahr aufzuwenden, um öffentliche Infrastruktur und Konjunktur zu sanieren. Pro Jahr sollen ca. 50 Mrd. Pfund über eine zu gründende staatliche „Green Investment Bank“ in Umlauf gebracht werden. Diese öffentliche Bank investiert nicht selbst, sondern stellt dieses Geld den Kommunen/öffentlichen Körperschaften zur Verfügung, welche damit Sozialwohnungen, Energieeffizienz, Krankenhäuser und andere staatliche Infrastruktur finanzieren.
Dabei wird betont, dass dieses Programm nur bis zur Auslastung der Produktionsfaktoren (Vollbeschäftigung etc.) gehen darf, damit keine Inflation droht.[12] Es sei damit ein Programm, das mittelfristig so lange funktioniert bis die Infrastruktur saniert und die Wirtschaft aus der Rezession heraus ist.
Ähnliche Vorschläge hinsichtlich einer über die Zentralbank finanzierten Investitionsoffensive werden auch in Deutschland bereits von linker und gewerkschaftlicher Seite geäußert. In Europa könnte die Europäische Investitionsbank (EIB) bzw. in Deutschland die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) die Finanzierung übernehmen, sofern ihre Anleihen von der Zentralbank dauerhaft als Sicherheiten akzeptiert (oder sogar gekauft) würden. Aus diesem Grund wurde auch bereits gefordert, EFSF und den ESM mit einer Banklizenz auszustatten.[13]
Eine Wahl Corbyns würde der Linken in Europa neuen Mut verschaffen und könnte zu einem Umdenken bei manchen in der konservativ gewendeten Sozialdemokratie führen. Vor allem seine wirtschaftspolitischen Alternativvorschläge brächten neuen Schwung in die Debatte und eröffnet die Chance, mittelfristig die europäisch dominierte Austeritätspolitik zurückdrängen. Über England hinaus gilt es damit für das Lager „Links der Mitte“ Corbyn am 10. September die Daumen zu drücken.
[1] Die Schließung der Stimmabgabe ist am 10. September, die Verkündigung des Wahlergebnisses für den 12. September angesetzt. www.labour.org.uk
[2] Seine Kampagnenseite: www.jeremyforlabour.com
[3] Beispielsweise dieser unrühmliche Kommentar mit einer Gleichsetzung Corbyns zu Rechtspopulisten wie Donald Trump: www.sueddeutsche.de
[4] So äußerte sich der bekannte britische Ökonom Robert Skidelsky bereits wohlwollend:Why we should take Corbynomics seriously. www.theguardian.com
[5] Wie moderat Corbyns Vorschläge sind, zeigt nicht zuletzt auch die Kritik von „links außen“: Mitchel/Marsden (2015), Jeremy Corbyns Wirtschaftsplan zur Rettung des britischen Kapitalismus. www.wsws.org
[6] Der Grundriss seines wirtschaftspolitischen Programms: www.jeremyforlabour.com Für eine Zusammenfassung: blogs.spectator.co.uk
[7] Murphys Blog: www.taxresearch.org.uk siehe auch eine Zusammenfassung: www.theguardian.com
[9] www.neweconomics.org Siehe auch NEF (2013) Strategic quantitative easing: Stimulating investment to rebalance the economy. b.3cdn.net
[10] Versprochen werden ein Anti-Steuervermeidungs-Gesetz, die Einführung einer länderbezogenen Berichterstattung („Country-by-country reporting“), eine Reform der Besteuerung von kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie eine personelle Stärkung der Steuerbehörden.
[11] Im Wahlprogramm Corbyns finden sich nur wenige Sätze, der Hintergrund bezieht sich auf die Ausführungen bei Murphy: www.taxresearch.org.uk
[12] Vergleiche dazu auch: Troost/Hersel (2013), Was passiert, wenn die EZB Verluste macht? Die Gefahren für die SteuerzahlerInnen und Inflation sind erfreulich begrenzt! www2.alternative-wirtschaftspolitik.de
[13] Siehe Troost/Hersel (2012), Die Euro-Krise als Zäsur: Eine neue Finanz-, Geld-, und Wirtschaftspolitik in Europa. www.zeitschrift-luxemburg.de
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