Zerfällt Europa?
Von Axel Troost
Die Zahl der Schutzsuchenden in Richtung Europa ist in den letzten Wochen etwas zurückgegangen. Im November nahm die Zahl der über das Mittelmeer nach Europa kommenden Flüchtlinge um mehr als ein Drittel ab. Wie das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR bekanntgab, wagten im November etwa 140.000 Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt. Im Oktober waren es noch mehr als 220.000 Menschen. Zuletzt kamen auch deutlich weniger Asylsuchende nach Deutschland. Wie die Bundespolizei erklärte, seien rund 3.500 Menschen am Tag gezählt worden, davor waren es noch mehr als 6.000. Das UNHCR begründet diesen Rückgang mit dem Wintereinbruch und dem erhöhten Druck auf Schleuser in der Türkei. Andere Aspekte dafür liegen wohl auch an den Signalen von Grenzziehungen und verschärften Einreisekontrollen.
Von einer Tendenz zur Entspannung der Gesamtsituation kann nicht die Rede sein. Das UNHCR rechnet mit bis zu 5.000 Neuankünfte täglich, die zwischen November 2015 und Februar 2016 aus der Türkei ankommen werden und appelliert an die Geberländer knapp 90 Mio. Euro als Hilfestellung für Griechenland und die betroffenen Balkanländer bereit zu stellen. Die schwierigen Wetterbedingungen verschlimmern zusehends die Lage der tausenden Flüchtlinge und Migranten, die in Griechenland ankommen und ihren Weg über den Balkan fortsetzen.
Innerhalb Deutschlands und auch innerhalb der europäischen Gesellschaften verschärft sich mittlerweile die Auseinandersetzung um die Frage, wie der Zustrom der Flüchtlinge insgesamt gesteuert werden kann. Der Position der Abschottung an den Grenzen und der Forderung nach Obergrenzen steht die Position gegenüber, die Flüchtlingsfrage im internationalen und europäischen Zusammenhang zu klären. Kanzlerin Angela Merkel hält an ihrer Position fest, dass die Fluchtursachen bekämpft werden müssen, die Lage in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten zu verbessern ist, die Verteilung der Flüchtlinge in der EU zu regeln und die Außengrenzen besser zu sichern sind. Sie stellte klar, das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sei noch zu fast 50 Prozent unterfinanziert. Dies sei „nicht akzeptabel.“ Durch die fehlende Finanzierung „droht wieder die Flucht von sehr vielen Menschen“. Die Flüchtlingslager müssten deswegen mehr Unterstützung erhalten.
Der polnische EU-Ratspräsident hat sich in dieser Auseinandersetzung für die Abschottung entschieden: „Die Flüchtlingswelle“ solle gestoppt werden. Er rief zu einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik auf. Niemand in Europa sei bereit, „diese hohen Zahlen aufzunehmen, Deutschland eingeschlossen“, so seine These. Durch eine drastische Ausdehnung der Prüfzeit will er die Zahl der Asylsuchenden bremsen. Im Völkerrecht und auch im EU-Recht gebe es eine Regel, wonach 18 Monate für die Überprüfung gebraucht werden. Es sei „zu einfach“ für Flüchtlinge, in die EU zu gelangen. Als EU-Ratspräsident verstärkt Donald Tusk das Gewicht der abschottungswilligen Staaten und damit auch die Gefahr einer Spaltung Europas.
Nach meiner Ansicht führt die Logik der Abschottung und Obergrenzen immer stärker zu einer Betonung der politisch-ökonomischen Divergenzen. Wenn die europäische Union bei der Bewältigung der Schutzsuchenden keine gemeinsame Lösung findet, werden auch die bescheidenen Strukturen eines gemeinsamen Haushalts und der Kohäsionspolitik zerfallen. Ein Beispiel: Polens konfrontative Politik wirft schon jetzt die Frage auf, weshalb dieser Staat weiterhin 13 Mrd. Euro netto aus dem EU-Haushalt beanspruchen kann.
In Deutschland arbeiten die Rechtskonservativen in der christlichen Union im Bündnis mit der gestärkten rechtspopulistischen AfD daran, den politischen Druck für eine Abschottungspolitik zu erhöhen. Alle Zeichen stehen auf eine Weichenstellung über die Flüchtlingspolitik hinaus zu einer Abkehr von der Vision einer Europäischen Integration.
Auch innerhalb der Linkspartei sehe ich Verständigungs- und Diskussionsbedarf. Oskar Lafontaine begründet seine Forderung nach Kontingentierung der Flüchtlinge mit seiner politischen Erfahrung: „Ich fordere eine europäische Lösung, weil ich die Sorgen der Landes- und Kommunalpolitiker kenne. Anfang der neunziger Jahre hatten wir ja eine ähnliche Situation zu bewältigen, die damals in den Asylkompromiss gemündet hat. Ich habe ihn mitgetragen, weil Flüchtlingsheime brannten und mir völlig klar war, dass wir den Zustrom der Asylbewerber begrenzen müssen, damit die Stimmung nicht weiter kippt. Jetzt ist die Situation vergleichbar, allein in diesem Jahr sind eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Jeder weiß, dass das nicht jedes Jahr so weitergehen kann.“[1]
Mich überzeugt der Hinweis auf eine kippende Stimmung nicht. Wir sollten uns nicht auf eine Einschränkung des Grundrechtes auf Asyl einlassen und weiterhin für eine europäische Lösung sowie für eine umfassende Finanzierung der Re-Settlement Konzeption der UNHCR an den Rändern der Konflikt- und Kriegsgebiete eintreten.
In der Auseinandersetzung um den zukünftigen Kurs Europas werden aktuell finanzielle Maßnahmen angeschoben: Die Europäische Union hat endlich eine halbe Milliarde Euro Hilfsgelder für die Opfer in Syrien und dem Irak sowie für die Aufnahme von Flüchtlingen in den benachbarten Staaten freigegeben. Dazu werde unter anderem ein bereits im September angekündigtes Hilfspaket um 60 Mio. auf jetzt 200 Mio. Euro erhöht, sagte der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides. Aus dem schon vor einem Jahr gegründeten Treuhandfonds der EU sollen rund 350 Mio. Euro für die Flüchtlinge im Libanon, in der Türkei, in Jordanien und im Irak fließen. DIE LINKE muss sich massiv für eine Intensivierung dieser Politik einsetzen.
Mit dem Geld soll unter anderem über große Hilfsorganisationen den Menschen in Syrien und im Irak ebenso geholfen werden wie den Flüchtlingen aus diesen Ländern. Alleine 140 Mio. Euro sollen dazu dienen, dass rund 172.000 Flüchtlingskinder in diesen Ländern in Schulen gehen können.
„Innerhalb kurzer Zeit haben wir das größte einzelne Hilfspaket der EU auf den Weg gebracht“, sagte der für Nachbarschaftspolitik zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn. 130 Mio. Euro sollen dazu beitragen, dass vor allem besonders arme Flüchtlinge wieder eine Perspektive für ihr künftiges Leben bekommen, beispielsweise durch Berufsausbildung. So sollen die direkte Abhängigkeit von Hilfslieferungen verringert und Spannungen zwischen den Flüchtlingen und ihren Gastgemeinden abgebaut werden. Nach Angaben der EU benötigen rund 13,5 Millionen Menschen in Syrien Hilfe, von denen die Hälfte im eigenen Land vertrieben ist. Hinzu kommen 4,2 Millionen Flüchtlinge außerhalb der Landesgrenzen. Im Irak seien 8,6 Millionen Menschen dringend hilfsbedürftig.
Wenn die Europäer einige Milliarden Euro in die Hand nehmen, dann kann das ein weiterer Schritt zur Entspannung in der Flüchtlingskrise sein. Allerdings bleiben dann immer noch die Anforderungen im Rahmen der Syrienhilfe und des Programms der UNHCR.
Aus meiner Sicht hat die historische Bewährung Europas also drei zentrale Aspekte:
- Zunächst die Einhaltung der Finanzzusagen für die UNHCR und den Syrienfonds.
- Dann eine Lösung für die entscheidende Rolle, die der Türkei in der Flüchtlingskrise zukommt. Allerdings darf die vertiefte Zusammenarbeit mit der Türkei nicht zum politischen Ausverkauf jener demokratischen Werte und menschenrechtlichen Standards führen, die vom EU-Beitrittsland Türkei erwartet werden müssen.
- Und schließlich: eine Neubegründung der EU braucht einen deutlichen Budget-Zuwachs, eine stärkere Kontrolle und Veränderung der Politik der Europäische Zentralbank und einen europaweiten Investitionsplan. Arbeitslosigkeit ist ein Problem für Millionen Menschen in Europa. Die strukturelle Unterfinanzierung kann geändert werden.
Ich trete dafür ein, dass die politische Linke stärker als bisher in den öffentlichen Diskurs hineinträgt, dass im größeren Maßstab einzig ein einheitlicheres Europa ein Motor für Investitionen und Wachstum sein kann und zugleich für die wahre Bedeutung der europäischen Staatsbürgerschaft wirbt, die auf Chancengleichheit, Offenheit und Wohlstand basiert. Auf diese Weise können sowohl auf ökonomischer als auch auf symbolischer Ebene die vielfach vereinfachten und anachronistischen Vorschläge von Populisten und Nationalisten jeglicher Couleur in Europa gekontert werden.
Rechtspopulistische und nationalistische Bewegungen fordern ganz Europa heraus. Die einzig mögliche Antwort darauf ist eine Erneuerung Europas. Ein Europa, das stark genug ist dieser Kritik zu begegnen. Ein Europa, das weniger Distanz zu den Menschen und mehr Demokratie aufweist. Ein Europa, das in der Lage ist, die alltäglichen Probleme der Bevölkerung besser zu lösen, ist essentiell, um das Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger zu beseitigen.
[1] www.faz.net
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