Zur Flüchtlingsfrage in Deutschland und Europa
Von Axel Troost
Die politische Zuspitzung in der Bewältigung des großen Stromes an Zufluchtsuchenden wird in der bemerkenswerten Erklärung der Bundeskanzlerin Merkel deutlich: „Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ In der Tat: große Teile der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Institutionen und der Politik kämpfen darum, dem Grundrecht auf Asyl die entsprechende Geltung zu verschaffen.
Nach der Griechenlandkrise, die noch längst nicht gebannt ist, zeigen die jüngsten Ereignisse in der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegung auf der sogenannten BalkanRoute wie unzureichend die Staaten der EU auf diese Entwicklung vorbereitet waren und sind. Zwei Thesen sollten unstrittig sein:
Erstens: Die massive Ausweitung des Flüchtlingsstromes nach Europa war von vielen Experten prognostiziert worden, weil die Hilfswerke des UNHCR und der Welthungerhilfe seit langem über die Rückgänge bei der Finanzierung ihrer Aufgaben berichten. Es gibt wenig Fortschritte in der Überwindung von Kriegs- und Bürgerkriegskonstellationen und jetzt auch noch Einschränkungen bei der internationalen Flüchtlingshilfe. Die Antwort ist eine massive Ausweitung der Migration der betroffenen Zivilbevölkerungen.
Zweitens: Die Flüchtlingsfrage wird Europa „sehr, sehr viel mehr noch beschäftigen als die Frage (nach) Griechenland und die Stabilität des Euro“, stellte Bundeskanzlerin Merkel zurecht fest. Das „Asylthema könnte das große nächste europäische Projekt sein, wo wir zeigen, ob wir wirklich in der Lage sind, gemeinsam zu handeln.“
Derzeit sieht es nach einer harten Belastungsprobe für das europäische Projekt aus. Es werden zunehmend stärkere Differenzen unter den EU-Staaten sichtbar. Die Innenminister der Europäischen Mitgliedsstaaten können sich weder auf einen Verteilungsschlüssel für einen kleinen Teil der Zufluchtsuchenden verständigen noch über eine konzentrierte Hilfsaktion für die von finanzieller Austrocknung betroffenen UN-Hilfsorganisationen. Jetzt soll ein Gipfel der Regierungschefs eine Verständigung auf ein gemeinsames Flüchtlingskonzept bringen.
Die Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen sehen in der Umverteilung der Flüchtlinge keine angemessene Antwort auf die Krise. Die Regierungen dieser Länder beharren vielmehr darauf die Grenzen besser zu sichern und erst gar keine Anreize für eine Flucht nach Europa zu setzen. Eine Position, das sei nicht vergessen, die auch die Bundesregierung lange Zeit einnahm. Sie kritisierten auch die Entscheidung Deutschlands und Österreichs, das Dublin-Verfahren vorübergehend außer Kraft zu setzen und zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen.
Auch aus Kreisen der Großen Koalition, vor allem aus der CSU wird diese Kritik geäußert. „An den europäischen Außengrenzen muss europäisches Recht wieder voll hergestellt werden, etwa bei der Registrierung der Ankommenden“, erklärte der Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament und CSU-Politiker Manfred Weber. Daher unterstütze die CSU Orban bei der Sicherung der Grenze. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die scharfe Kritik des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer an ihrer Entscheidung zur Grenzöffnung für überwiegend syrische Flüchtlinge aus Ungarn zurückgewiesen. „Wir haben in der vergangenen Woche in einer Notlage eine Entscheidung getroffen. Ich bin davon überzeugt: Das war richtig.“ Deutschland werde seiner Verantwortung gerecht, wenn es um die Hilfe von Schutzbedürftigen gehe. Das ist eine wichtige Abgrenzung in Richtung jener politischen Kräfte, die in vielen europäischen Ländern versuchen, die Flüchtlingskrise zu nutzen, um die Kräfteverhältnisse in Sinne einer nationalistischen und fremdenfeindlichen politischen Agenda zu verschieben. Die Widerstände vieler europäischer Länder gegen ein einheitliches europäisches Asylverfahren und eine Verteilung der Flüchtlinge resultieren ja gerade aus der Dominanz bzw. dem Einfluss rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen.
Doch bei aller Anerkennung dieser Seite im staatlichen Handeln gibt es leider auch un- übersehbare Defizite. Neben der unzureichenden Infrastruktur und einer unzureichenden Flexibilität von Teilen der Staatsapparate gibt es Auseinandersetzungen um die Lastenverteilung. Die für Länder und Kommunen eingeplanten zusätzlichen drei Mrd. Euro reichen in keiner Weise.
Erstens plane der Bund für dieses Jahr offensichtlich keine weiteren Unterstützungszahlungen für Länder und Kommunen ein, kritisiert zu recht die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Die Milliarde, die der Bund für dieses Jahr bereitstelle, seien zugesagt worden, als man noch von deutlich weniger Flüchtlingen ausgegangen sei. Außerdem sei diese Milliarde „kein frisches Geld vom Bund“, da davon 500 Mio. Euro aus dem Fluthilfefonds kommen, in den auch die Länder eingezahlt haben. Die anderen 500 Mio. Euro sind Kredite, die auf die Landeshaushalte schlagen.
Sie gehe außerdem davon aus, dass die prognostizierte Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge für das Jahr 2015 nicht zu halten sei: „Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass es nicht bei 800.000 bleiben wird.“ Die Summen, um die es eigentlich geht, verdeutlicht der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans mit einer einfachen Rechnung: „Die Versorgung eines Flüchtlings kostet pro Jahr rund 12.500 Euro. Wenn in diesem Jahr 800.000 Menschen zu uns kommen, geht es also um zehn Milliarden Euro. Zu den drei Milliarden Euro, die der Bund jetzt für Länder und Kommunen vorsieht, besteht da offensichtlich eine große Lücke. Wenn wir jetzt Integration auf Sparflamme betreiben, dann schaffen wir uns doch die Probleme von morgen.“
Gemessen an dieser Lagebeschreibung ist das Ergebnis des kurzfristig anberaumten Treffens zwischen Bundesregierung und den MinisterpräsidentInnen unzureichend. Belastbare Ergebnisse sollen nun auf dem „Flüchtlingsgipfel“ am 24. September gefasst werden. Die angekündigte Bereitstellung von 40.000 Erstaufnahmeplätzen für Flüchtlinge durch den Bund ist zwar ein richtiger Schritt, aber die eigentlichen Herausforderungen sind damit nicht gelöst.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble reagierte zurückhaltend auf Forderungen der Länder nach höheren Finanzhilfen. Schäuble versichert erneut, dass es nicht am Geld scheitern werde. Die bisher zugesagte Summe von zusätzlichen 500 Mio. Euro für 2015 ist völlig ungenügend und soll zudem noch durch Umschichtungen im laufenden Haushalt aufgebracht werden.
Ich unterstreiche erneut, dass es auch andere Wege zur Finanzierung der Flüchtlingsbewegung gibt. Auf 16 Mrd. Euro summiert sich der Solidaritätszuschlag jährlich. In den nächsten Jahren soll er möglicherweise auslaufen. Die Abgabe könnte als „Integrations-, Flüchtlings- und Betreuungssoli“ fortgeführt werden. Ohnehin wird der Soli zum Aufbau der neuen Länder derzeit nur noch zur Hälfte genutzt. Bodo Ramelow hat gleichfalls gefordert, den Teil im Bundeshaushalts aus dem Solidaritätszuschlag zu nutzen, der bisher nicht in die Länder fließt – das wären rund 8 Mrd. Euro, Tendenz steigend.
Das DIW kommt in seiner aktuellen Studie, den sogenannten „Herbstgrundlinien“ zu dem Schluss, die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge in Deutschland wird sich auch positiv auf die Wirtschaftsleistung niederschlagen. Instituts-Präsident Marcel Fratzscher geht von einem Wachstumseffekt von etwa 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts noch im laufenden Jahr aus. Das Wirtschaftswachstum werde 2016 wohl rund einen Viertelprozentpunkt stärker ausfallen als ohne diese ZuwandererInnen. Grund sind höhere Ausgaben der öffentlichen Hand, um die Unterbringung, Schulung und Integration der Menschen zu finanzieren. Dies sorge für mehr staatlichen Konsum. Auch der private Konsum dürfte zulegen, da die Flüchtlinge einen großen Teil der Finanzhilfen für persönliche Bedürfnisse ausgeben werden.
Auch die Ratingagentur S&P unterstreicht, dass sich durch den Flüchtlingsstrom „leichte positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum ergeben können.“ Besonders dann, wenn sich im Zeithorizont die Sprachkenntnisse verbessern und „produktive und besser bezahlte Arbeitsplätze angenommen werden können.“
Die massive Bewegung der Flüchtlinge hat zwar die großen Defizite in der Infrastruktur der Kommunen und Länder aufgedeckt, ist aber auch eine Chance für die überfällige Investitionsoffensive. Es geht in diesem und nächsten Jahr um Mehrausgaben von einigen Milliarden Euro oder weniger als 1 Prozent des für 2015 erwarteten nominalen Bruttoinlandsprodukts. Dies ist faktisch ein Mini-Konjunkturprogramm und sollte auch so bewertet werden.
Die Kehrseite der durchaus flexiblen Haltung der Bundesregierung in der zugespitzten Situation der letzten Wochen sind aber die Maßnahmen, die nun Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Auftrag der Bundesregierung plant: drastische Leistungskürzungen und strengere Regeln für AsylbewerberInnen. Das geht aus dem Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums zur Neugestaltung der Flüchtlingspolitik in Deutschland hervor. Dies ist ein völlig falscher und inhumaner Weg zur Bewältigung der Probleme. „Mit dem Gesetzesvorhaben der Bundesregierung wird Abschottung, Abschreckung und Obdachlosigkeit zum Programm“, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.
Der Vorlage zufolge sollen alle Flüchtlinge keine Ansprüche auf Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes geltend machen können, die über andere EU-Staaten eingereist sind und für deren Asylverfahren daher aufgrund der Dublin-Verordnung der EU eigentlich ein anderer Mitgliedsstaat zuständig ist. Sie sollen demnach lediglich eine Reisebeihilfe in Form einer Fahrkarte und Reiseproviant erhalten. „Menschen werden entwürdigt, um sie außer Landes zu treiben.“
Alle diese Überlegungen stoßen auf unsere entschiedene Kritik. Wir warnen vor diesem Versuch verfassungswidrig die bestehenden Standards abzusenken. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Sozialleistungen dürfen nicht unter das sozio-kulturelle Existenzminimum abgesenkt werden.
Die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Eva Lohse, hat Bund und Länder aufgefordert Städte und Kommunen bei der Versorgung von Flüchtlingen stärker zu unterstützen. Lohse beklagte, dass viele Städte für die Unterbringung der Schutzsuchenden in Vorleistung treten müssten und die Kosten zu wenig erstattet würden. Zudem werde es bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise vor Ort „immer enger“. Immer mehr müsse auf Notunterkünfte und Übergangslösungen ausgewichen werden, weil Wohnung fehlten.
Die Frage, wie die Bundesrepublik den Zustrom der Flüchtlinge in den Griff kriegen kann, hat eine Debatte über die Schuldenbremse ausgelöst. So erklärte die schleswigholsteinische Finanzministerin Heinold, dass die Aufnahme von Hilfe suchenden Menschen nicht am Geld scheitere. Zur Not will sie die Schuldenbremse aufweichen. Sollten die Landes- und Bundesmittel nicht reichen, “behält sich die Landesregierung vor, das Ausführungsgesetz zur Schuldenbremse zu ändern, um die guten Steuereinnahmen nutzen zu können.“ Andere Länder stehen vor ähnlichen Entscheidungen. Viele Bundesländer haben einfach nicht die Kraft, um der Anzahl der Asylsuchenden, ihre Grundbedürfnisse, Unterkunft, ihre Integration und Schulausbildung auf Dauer finanzieren zu können. Man kann die Flüchtlingskrise auch mit bzw. trotz Schuldenbremse meistern, denn diese lässt Ausnahmen gegen die Null-Kredit-Linie in Notsituationen durchaus zu.
Im Fall einer großen Naturkatastrophe oder einer unbeherrschbaren Notsituation dürfen neue Schulden gemacht werden. Auf den Prüfstand gehört diese unsinnige Selbstbeschränkung, weil sie das politische Handeln schon in kleineren Krisensituationen behindert.
Noch wesentlich weiter geht Guido Bohsem in dem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung:
„Die Schuldenbremse ist problematisch aus zwei Gründen. Das erste Argument ist polit- ökonomisch motiviert und dient dazu, die Bevölkerung angesichts der steigenden Zahl der Asylbewerber bei Laune zu halten. Die Schuldenbremse soll den Deutschen vermitteln, dass die Zuwanderung auch ohne materiellen Verzicht zu schaffen ist. Im Klartext: Kein Schwimmbad, keine Bibliothek, keine Oper darf mit der Begründung geschlossen werden, das Geld werde für die Versorgung der Flüchtlinge gebraucht. Fremdenfeindlichkeit und Populismus sollen so in Schach gehalten werden.
Das ist ein verständlicher, womöglich sogar kluger Impuls. Wenn aber das Sparen als Möglichkeit wegfällt, die zusätzlichen Ausgaben zu finanzieren, bleiben nur noch zwei andere Wege, um den Andrang der Flüchtlinge zu finanzieren: höhere Steuern oder neue Kredite. Für CDU und CSU ist das ein Dilemma.
Die Union hat den Verzicht auf höhere Steuern und mehr Schulden zum großen Thema ihres Wahlkampfes gemacht und die Koalitionsverhandlungen in diesem Duktus geführt. Glaubt man Seehofer, wird sie sich im Zweifel für die höheren Schulden entscheiden. Kredite aufzunehmen, ist politisch einfacher. Die Steuerzahler spüren keine Belastung, und Meldungen über mehr Schulden würden wahrscheinlich hingenommen.
Steuererhöhungen hingegen nicht. Die Bild-Zeitung hat sich das Anti-Steuer-Versprechen Seehofers, Volker Kauders und Wolfgang Schäubles sogar in Stein meißeln lassen. Öffentlicher Widerstand wäre programmiert. Im Klartext wird die Politik also lieber die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse biegen oder sogar ändern, bevor man Steuern erhöht.
Es gibt gute Gründe gegen die Verfassungsregel – aber andere als angegeben.
Dabei ist Kritik an der Schuldenbremse aus einem anderen, zweiten Grund angebracht. Schon seit geraumer Zeit gibt es immer neue Versuche, die Regeln kunstfertig zu umgehen. Augenfällig ist das bei dem Projekt der großen Koalition, Infrastrukturprojekte mit privaten Mitteln zu finanzieren, obwohl die Bundesrepublik das nötige Geld derzeit zu unschlagbar günstigen Konditionen aufnehmen kann. Hier verhindert einzig und alleine die Schuldenbremse, dass die historische Gelegenheit für Investitionen ergriffen werden kann, während andere Nationen sparen müssen, um überhaupt ihre Kreditwürdigkeit wiederzuerlangen.
Mit der Schuldenbremse hat sich in der Öffentlichkeit die Meinung breitgemacht, es sei grundsätzlich besser für Staaten, sich nicht zu verschulden. Doch das ist falsch. Schulden können sinnvoll sein, wenn man das Geld so einsetzt, dass künftige Generationen auch davon profitieren können und nicht nur die Rechnung für die Zinsen zahlen müssen. Tatsächlich kann man die Flüchtlingskrise auch mit Schuldenbremse meistern. Denn diese lässt Verstöße gegen die Null-Kredit-Linie durchaus zu. Im Fall einer großen Naturkatastrophe oder einer unbeherrschbaren Notsituation dürfen neue Schulden gemacht werden. Auf den Prüfstand gehört sie trotzdem – weil sie zu falschem Handeln verleitet.“[1]
Auch in dieser Frage bringen die Hunderttausenden Hilfesuchenden Bewegung in die politische Diskussion in der Bundesrepublik und in Europa.
[1] Guido Bohsem, Schuldenbremse, Flüchtlingskrise als Sündenbock. Die Flüchtlinge bringen die Schuldenbremse ins Wackeln. Tatsächlich ist eine Überarbeitung nötig - aber aus ganz anderen Gründen. Süddeutsche Zeitung vom 16.09.2015
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