BREXIT und Europäische Flüchtlingskonzeption

Von Axel Troost

21.02.2016 / 21.02.2016

Der EU-Gipfel in Brüssel wurde durch die Terror-Anschläge in der Türkei politisch belastet. Das geplante Treffen der „Koalition der Willigen“ vor dem Gipfel der 28 EU-Staaten musste abgesagt werden. Dieses Treffen mit der Türkei soll bei einem Sondergipfel Anfang März nachgeholt werden. Kein Zweifel: die Bundeskanzlerin Merkel möchte noch vor den wichtigen Landtagswahlen am 13. März die mehrfach angekündigte Bewertung der bisherigen Strategie in der Flüchtlingskrise vornehmen.

Auch der zweite Tagesordnungspunkt – ein Deal mit dem britischen Premier Cameron von den Konservativen – hat sich als konfliktreiche Agenda erwiesen. Die von den Briten verlangten Sonderrechte in Sachen Sozialpolitik, Finanzmarktregulierung und institutionellen Reformen haben größeren Widerstand vor allem der mittelosteuropäischen Staaten hervorgerufen. Großbritannien hat in der EU schon immer eine Sonderstellung eingenommen; das Land gehörte nicht dem Euro-System an, hat das Schengenabkommen nicht mit getragen und erhielt bei den EU-Finanzen einen Beitragsrabatt. Die auf dem EU-Gipfel in Brüssel erzielte Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitglieder bekräftigt und stärkt diese Sonderstellung. Ich bin kein Befürworter dieser Sonderrolle, weil es die Zentrifugalkräfte des europäischen Staatenverbundes befördert.

Nach langen, zähen Verhandlungen mit weitgehendem Entgegenkommen gegenüber den britischen Forderungen werden weitere Sozialstandards eingeschränkt. Kanzlerin Merkel hält Teile der Gipfel-Vereinbarungen über Sozialleistungen für EU-Ausländer auch in anderen EU-Ländern für anwendbar. „Gerade die Frage des Sozialmissbrauchs beschäftigt uns in Deutschland auch.“ Das gelte etwa für die Regelung, das Kindergeld an die Lebenshaltungskosten in den Ländern anzupassen, in denen die Kinder tatsächlich leben. „Auch Deutschland kann davon Gebrauch machen, kann ich mir vorstellen.“

Eine grundlegende Reform oder gar Erneuerung der EU erfolgt nicht. Von den vier im beschlossenen Text behandelten Bereichen haben Einschränkungen bei Sozialleistungen an EU-Ausländer den größten Effekt. Weitere Vereinbarungen betreffen das Verhältnis von Euro- zu Nicht-Euro-Staaten. Neben allgemeinen Grundsätzen enthält die Vereinbarung unter anderem ein Verfahren, das in Gesetzgebungsverfahren im Bereich der Bankenregulierung die Interessen von Staaten schützen soll, die nicht am Euro bzw. an der Bankenunion teilnehmen. Dies war Cameron aus Rücksicht auf den Finanzplatz London wichtig.

In einem dritten Korb der Vereinbarung unter dem Titel Souveränität wird festgehalten, dass sich Großbritannien nicht zu einer weiteren politischen Integration in der EU verpflichtet. Bei der nächsten Reform der EU-Verträge soll deshalb klargemacht werden, dass Hinweise auf das Ziel einer „immer engeren Union“ für die Briten nicht gelten würden. Zudem können künftig 55% der nationalen Parlamente neue Gesetzesentwürfe der EU stoppen. In einem vierten Punkt der Vereinbarung werden unter dem Stichwort „Wettbewerbsfähigkeit der EU“ die bekannten Ziele bezüglich Binnenmarkt, Freihandelsverträgen und Bürokratieabbau unterstrichen.

Sowohl für die so genannte Schutzklausel bei zu hoher Einwanderung als auch für die Kinderzulagen müssen EU-Vorschriften geändert werden. Die nötigen Gesetzgebungsverfahren des Ministerrats und des EU-Parlaments sollen auf Vorschlag der Kommis-sion eingeleitet werden, wenn und sobald sich die Briten für den Verbleib in der EU entschieden haben. In beiden Punkten hatten sich osteuropäische EU-Mitglieder gegen zu große Zugeständnisse gesperrt. Umgekehrt hatte Cameron ursprünglich unter anderem eine längere Dauer des Schutzmechanismus für die Lohnzuschüsse verlangt. Laut Kompromiss darf London diese „Notbremse“ sieben Jahre lang nutzen.

Über das Ziel waren sich alle einig: Die Staats- oder Regierungschef der EU haben betont, dass man Großbritannien in der EU halten wolle. Aber das dürfe nicht auf Kosten einer Demontage des europäischen Projekts erfolgen. Der EU-Rats-Präsident Donald Tusk hat die Dramatik artikuliert, indem er von einem „Alles oder nichts“-Gipfel sprach.

Die Briten sollen am 23. Juni 2016 in einem Referendum über einen Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union entscheiden. Das britische Kabinett hat einem Verbleib zugestimmt. Jetzt werden also BREXIT-Befürworter und -Gegner mit einer politischen Kampagne beginnen. Auch innerhalb der konservativen Partei wie bei Labour wird dieses Referendum für Spaltungen sorgen. Nach Umfragen ist der Ausgang der Abstimmung offen. Ob die Zugeständnisse dieses EU-Gipfels also einen Deal für den Verbleib Großbritanniens in der EU darstellen, bleibt völlig offen. Die EU-Gegner in Großbritannien, allen voran Nigel Farage von der rechtspopulistischen UKIP, attackierten Cameron nach der Einigung. Die Vereinbarung sei „nicht das Papier wert, auf der sie geschrieben ist“, sagte Farage. Sollte das Referendum eine Mehrheit für den BREXIT bringen, gelten die jetzt getroffenen Vereinbarungen zwar als gegenstandslos, aber Europa hätte mit weiteren Erschütterungen zu rechnen.

Keine Frage: für die EU ist dieser Kompromiss verkraftbar. Es wird keine reine britische Entscheidung über das Referendum bleiben. Zunächst werden die starken europakritischen und rechtspopulistischen Parteien in ganz Europa den BREXIT zu ihrem Thema machen. Auch die europäische Linke wird sich zu dieser Abstimmung verhalten müssen. Ich habe mich mit anderen für eine grundlegende Erneuerung der EU eingesetzt, wissend das die politischen Kräfteverhältnisse dafür extrem schlecht sind. Eine Rückkehr zu nationalstaatlichen Lösungen im Zeitalter des Finanzmarktkapitalismus und der europäischen Flüchtlingsfrage war und ist für mich keine Option. Gerade die EU-Mitgliedsländer an der südlichen Peripherie (Griechenland, Portugal und Spanien) sind aufgrund ihrer kritischen Situation auf europäische Unterstützung angewiesen.

EU-Präsident Tusk hat mit seiner Bemerkung recht: „Sein oder Nichtsein“ – das ist jetzt bis zum Sommer die Frage für die Gemeinschaft. Ich werde mich in den nächsten Wochen verstärkt für eine kritische, solidarische Diskussion der aufgeworfenen Fragen einsetzen

Flüchtlingsfrage bis Anfang März vertagt

Der Erfolg der „Exit“-Kampagne hängt auch ab von einer Lösung oder weiteren Eskalation der Flüchtlingsfrage ab. In den Augen vieler britischer Stimmbürger wird die EU-Mitgliedschaft mit unkontrollierter Immigration gleichgesetzt. Durch die Absage des Treffens mit der Türkei ist der „Deal“ mit Großbritannien kurzfristig in den Vordergrund gerückt, aber die Dimensionen der europäischen Krise gehen weit über diesen Punkt hinaus. Zwar nimmt die Türkei in dem Gesamtkonzept – so meine Bewertung – einen wichtigen Stellenwert ein, aber die für Deutschland und Europa entscheidende Flüchtlingsfrage enthält großen Sprengstoff, der eine Vertiefung der europäischen Krise auslösen könnte. Auch hier sollte die LINKE ihre Position durch eine Intensivierung der politischen Kommunikation verdeutlich. Ich fasse hier meine Überlegungen zusammen:

1. Im Syrien-Krieg ist trotz großer diplomatischer Anstrengungen kein Ende absehbar. Der blutigste Konflikt unserer Zeit, der bisher mindestens eine Viertelmillion Menschen das Leben gekostet hat und für den größten Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich ist, wird auf absehbare Zeit weitergehen. Wir sind für einen Waffenstillstand und einen umfassenden Friedensprozess. Aber realpolitisch müssen wir davon ausgehen, dass uns die Flüchtlingsfrage noch längere Zeit beschäftigen wird.

Die Türkei gerät durch diesen Krieg über die Kurdenfrage und die komplizierte Kräftekonstellation in Syrien mehr und mehr in eine Situation als Kriegs- und Bürgerkriegspartei. Schlussfolgerung: der Flüchtlingsstrom aus Syrien, dem Irak und anderen Krisenregionen von Nahost wird anhalten. Unterstützt von den bisher schwersten Luftangriffen Russlands rückten Assadtreue Milizen immer weiter auf die Rebellenhochburg Aleppo vor und lösten damit eine neue, dramatische Flüchtlingswelle aus. Mit der Ankunft von bis zu 70.000 Menschen an ihrer Grenze rechnet die Türkei in den nächsten Tagen. Eine Verlagerung der Flüchtlingsfrage nach Griechenland wäre für mich ein politischer Super-Gau.

2. Das UN-Hilfswerk UNHCR befürwortet den europäischen Vorschlag der Türkei Flüchtlingskontingente abzunehmen, wenn es Ankara gelingt die Küste besser zu kontrollieren und das Schleusertum zu unterbinden. Es würde den Hilfsbedürftigen helfen und die Türkei mit ihren 2,5 Millionen Flüchtlingen entlasten.

Es geht dabei nicht nur um die Flüchtlingslager in der Türkei. Nur zehn Prozent der Flüchtlinge leben dort. Das eigentliche Problem sind die Menschen in den urbanen Zentren. Die Flüchtlinge zieht es in die Großstädte und sie leben in bitterer Armut. Hier wären soziale Projekte der UN-Hilfswerke enorm wichtig.

Der UN-Flüchtlingskommissar Grandi stellt fest: „Und dabei geht es nicht nur um die drei Milliarden Euro für die Türkei, sondern auch um die elf Milliarden für alle Nachbarstaaten Syriens, die in London gesammelt wurden. Es handelt sich um Stabilisierungsmittel, die verhindern sollen, dass Menschen sich auf eine gefährliche Reise aufmachen, die wiederum zu Chaos in Europa führt… Für uns als Hüter der Grundsätze des Flüchtlingsschutzes ist die deutsche Position sehr wichtig – und zwar in der ganzen Welt, die in dieser Frage nämlich immer auf Europa schaut. Deutschland ist heute der Grundpfeiler in der Verteidigung dieser bedrohten Grundsätze. Und ich wollte mich in Berlin auch für die außergewöhnliche finanzielle Hilfe für meine Organisation bedanken. Deutschland zählt heute zu den fünf größten Geldgebern des UNHCR.“ Zu den wichtigen Geldgebern gehört auch Großbritannien, das mit Deutschland die Geberkonferenz ausgerichtet hat.

3. Auf dem EU-Gipfel wurde festgestellt: Zwar habe Ankara Schritte zur Umsetzung des Ende November vereinbarten Aktionsplans mit der EU unternommen. Aber „der Zustrom von Migranten, die in Griechenland aus der Türkei ankommen, bleibt viel zu hoch. Wir müssen eine wesentliche und nachhaltige Reduzierung der Zahl illegaler Eintritte aus der Türkei in die EU sehen.“

4. Neben diesen Schritten – Stärkung der UN-Hilfsarbeit vor Ort und einer Entlastung und Verbesserung der Flüchtlingssituation in der Türkei – müssen auch nach meiner Auffassung die „unkoordinierte Maßnahmen“ entlang der Balkanroute und die Praxis des „Durchwinkens“ beendet werden. Die einseitigen Abschottungsmaßnahmen von Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich sind kein Beitrag zur Lösung.

5. Es muss zügig eine Ausweitung des Mandats des Europäischen Amtes für humanitäre Hilfe (Echo) auf EU-Mitglieder geben. Dieses ist bisher nur für Hilfe außerhalb der EU zuständig. Brüssel könnte damit mehr Spielraum bei der finanziellen Unterstützung innerhalb Europas bekommen – etwa auch für Griechenland.

6. Für die Flüchtlinge in Deutschland muss es neben einer deutlichen Verbesserung der Unterbringung um ein humanitäres Integrationskonzept gehen (Versorgung, Gesundheit, Sprache, Ausbildung, Arbeitsmarktzugang). Die befürchtet Finanzklemme durch diese Anforderungen ist im letzten Jahr – wie zu erwarten war – ausgeblieben. Alle 16 Länder zusammen erzielten ein Plus von 2,8 Mrd. Euro. Im Vergleich zu 2014 verbesserten die Länder den Haushaltsüberschuss um gut 2,1 Mrd. Euro. Ursprünglich waren sie insgesamt für 2015 von einem Defizit von knapp 6,8 Mrd. Euro ausgegangen. Dieser Überschuss kann nicht für 2016 fortgeschrieben werden, aber die Bund-Länder-Verhandlungen über die künftigen Finanzbeziehungen werden dadurch berührt – und auch die Länderforderungen nach zusätzlichen Mitteln zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Fest steht: es gibt innerhalb der Bundesrepublik regional unterschiedliche Probleme mit der Bewältigung der Flüchtlingsfrage, eine Drucksituation infolge unzureichender Finanzmittel dürfte die Ausnahme gewesen sein. Allerdings kann diese Entlastung nicht auf die Gemeinden und Kommunen übertragen werden.

Angesichts des verheerenden Terroranschlags in Ankara fordert die Türkei von ihren westlichen Verbündeten ein klares Zeichen der Bündnistreue. Dass die türkische Regierung bekommt, was sie will, ist hoffentlich unwahrscheinlich. Vielmehr riskiert sie einen Bruch in der Koalition gegen die Extremisten des Islamischen Staates (IS) und ein Scheitern der ohnehin auf wackligen Füßen stehenden Bemühungen um die Beilegung des Konflikts in Syrien.

Athen steht seit Monaten wegen der Flüchtlingsfrage unter Druck, weil über das Land hunderttausende Flüchtlinge ungehindert die Balkan-Route Richtung Norden nehmen können. Die Visegrad-Staaten sowie Österreich haben Athen deswegen angedroht, die Grenze des Nicht-EU-Landes Mazedonien zu Griechenland dicht zu machen, sollte es nicht bald Fortschritte geben.

Eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage und eine Überwindung der europäischen Krise unterstellt m.E. eine umfassende Verständigung. Werden weiterhin kurzfristig greifende nationalstaatliche Alleingänge versucht, dann sind die Folgen deutlich: Der UNHCR–Kommissar hält zurecht fest: „Unsere Auffassung war stets: Europa kann selbst mit Flüchtlingen umgehen. Jetzt haben wir Einsätze in Griechenland, aber auch – außerhalb der EU – in Mazedonien und Serbien. Unsere Botschaft an Europa lautet: Reißt euch zusammen, und kümmert euch selbst drum. Wenn unsere Hilfe aber benötigt wird, werden wir da sein. Unsere Angst ist, dass das Schließen nationaler Grenzen in Europa dazu führt, dass sich Hunderttausende Flüchtlinge in Griechenland einfinden werden. Ganz ehrlich, wenn es dazu kommen sollte, brauchten wir sehr viel Hilfe.“

Ich werde mich auch weiterhin dafür stark machen, jeder Tendenz nationalstaatlicher Überlegungen entgegenzutreten. Diese eröffnet keine friedliche Perspektive für die Zukunft.

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