Ein befreiender Streit
Die Linkspartei braucht endlich eine Grundsatzdebatte, um ihre unterschiedlichen Kulturen zusammenzuführen
Binäre Zuschreibungen erleichtern offenbar die politische Einordnung. Realos gegen Fundis in der Grünen Partei, Modernisierer versus Traditionalisten in der Schröder-SPD, radikal-liberale Steuersenker der Gelben gegen hausväterlich-konservative Haushaltssanierer der Schwarzen. Im binären Schema wird auch die Linke verortet. Ein Streit zwischen Westen und Osten wird ausgemacht, zwischen West-Sozialisation und Ost-Erfahrungen, zwischen Geschichte und Geschichten von PDS hüben und WASG drüben, von Regierungsverantwortung hier und Oppositionsrhetorik da. Und diese Konflikte, so die Kunde, sind personifiziert in den politischen Menschen Lafontaine und Bartsch.
Letzterer hat in der binären Welt des Entweder-Oder, von Loyalität und Illoyalität „die Komplexität reduziert“ und will sich von seinem Posten als Bundesgeschäftsführer zurückziehen. SPD-Fraktionschef Steinmeier bietet ihm Unterschlupf seiner Partei an. Das klingt wie ein schlechter Scherz, doch in der gegenwärtigen SPD ist dieser schon Ausdruck der Höchstform des Führungspersonals. Seit der Vereinigung der ostlinken PDS und westlinken WASG hat die daraus hervorgegangene neue Linke viel politisches Terrain besetzt, und zwar in allen vier Himmelsrichtungen, nicht nur auf der Ost-West-Achse. Die einzigartige Mischung verschiedener Erfahrungswelten und Kulturen war dabei wohl eine politische Produktivkraft: Neben jungen Radikalen aus West und Ost finden sich ältere „Ostalgiker“, neue Unternehmer und traditionelle Gewerkschafter und umgekehrt, postmoderne Beliebigkeit und marxistische Dogmatik, natürlich auch Sektierer hier und offene Geister dort.
Gemeinsame Antwort auf die "Systemfrage"
Ist dabei eine Ost-West-Divergenz bedeutsam? Vielleicht, doch nicht als Bruchlinie zwischen tektonischen Platten, an der ein politisches Erdbeben ausgelöst werden könnte. Dennoch driften die Ost- und die Westteile nicht immer in die gleiche Richtung und sind nicht mit abgestimmtem Tempo unterwegs. Im Osten herrscht die Einschätzung, sich an den Regierungsgeschäften zu beteiligen, könne die Akzeptanz der Partei in der Bevölkerung erhöhen. Es ist ein Streitpunkt, ob dies richtig ist, denn die Wahlergebnisse nach einer Regierungsbeteiligung hatten fast immer ein negatives Vorzeichen. Im Westen hingegen sehen viele Mitglieder der Linken die Partei eher als ein Vehikel, mit dem man sozial Schwache unterstützen kann, nachdem Grüne und SPD diesen Menschen Hartz IV beschert haben. Auch wird im Westen die „Systemfrage“ eher und häufiger gestellt als im Osten. Dabei ist klar, dass diese Frage, auch wenn sie von einem Teil der Partei gar nicht aufgeworfen wird, nur gemeinsam beantwortet werden kann.
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Das ist einer der Gründe, warum die Linke nach der Vereinigung der beiden Quellparteien eine Programmkommission eingesetzt hat. Die sollte den Entwurf eines Grundsatzprogramms ausarbeiten, das die Programmatischen Eckpunkte aus der Gründungsphase ersetzt. Doch ab 2008 waren Landtagswahlkämpfe zu führen, die Europawahl im Juni 2009 stand an, schließlich im September die Bundestagswahl. Für alle diese Voten mussten Wahlprogramme verabschiedet werden – mit eher pragmatischen als grundsätzlichen Forderungen.
Dadurch wurde das Bemühen um ein Grundsatzprogramm behindert, und die Vorsitzenden Lafontaine und Bisky ließen die Arbeit daran bis zum Abschluss des Wahlzyklus ruhen. Das war verständlich, aber – wie sich heute zeigt – auch fatal. Die Diskussion, die eine linke Identität befördern könnte, ist ins Stocken geraten, und die Vielfalt in der Partei könnte tatsächlich zum binären Gegensatz – noch dazu zwischen Personen – schrumpfen.
Das linke Terrain ist umkämpft
In der Linken gibt es einen Konsens, wie wichtigen Herausforderungen zu begegnen ist – dass der Krieg in Afghanistan beendet werden sollte, wie dem Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes genügt werden kann, dass Hartz IV abgeschafft werden muss, wie das „europäische Sozialmodell“ mit Leben gefüllt werden kann oder die Finanzmärkte reguliert werden müssen. Das sind Politikfelder, auf denen die Linke Konflikte und Debatte nicht scheuen muss, denn sie verfügt über Kompetenz und Erfahrung.
Doch grundsätzliche Kontroversen bleiben. Welche Alternativen gibt es zur bestehenden Eigentumsordnung, wie müssen Gleichheit und Freiheit ins Verhältnis gesetzt werden? Welches ist die Rolle öffentlicher Güter in einer demokratischen Ordnung? Wie muss die Systemfrage, die immer wieder „aufgeworfen“ wird, eigentlich formuliert werden, damit sie realpolitisch beantwortet werden kann? Pragmatische Antworten sind nur möglich, wenn im Grundsatz Übereinstimmung herrscht. Daher braucht die Partei die Debatte um ihre Grundsätze.
Das politische Terrain, das die Linke in den vergangenen Jahren erfolgreich besetzt hat, ist kein Erbhof, sondern umkämpft. In der politischen Arena zählen die guten Argumente, die beispielsweise im Programm zu finden sind, die Glaubwürdigkeit der Perspektiven, weil die Erfahrungen mit linker Politik gut sind, die Überzeugungskraft der Personen. Doch Lafontaine ist krank, Bisky pendelt zwischen Brüssel, Straßburg und Berlin, Bartsch ist zurückgetreten. Eine Zeitlang kann eine Partei mit dem personellen Vakuum leben. Aber nicht lange.
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